Kapitel 3

Cvetelina

Ich ging mit schnellen Schritten die breite, marmorverzierte Treppe hinab und wäre in der Hektik beinahe über meine eigenen Füße gestolpert. Ich war spät dran und wenn meine Eltern eins nicht leiden konnten, dann Unpünktlichkeit. Und bei ihrer Tochter mochten sie das erst recht nicht. Unten in der Veranda angekommen, nahm ich die erste Tür rechts und gelangte in den großen Speisesaal, in dem meine Eltern bereits ungeduldig an der langen Holztafel saßen und auf ihr Frühstück warteten. Mum verschränkte demonstrativ ihre Arme vor der Brust, als sie mich im Türrahmen bemerkte. Ihre roten Lippen waren so stark zusammengekniffen, dass sich kleine hauchdünne Fältchen um sie herum bildeten, wie Risse auf einem alten Meisterwerk. Ihr Haselnussfarbees Haar war kunstvoll in einer Hochsteckfrisur gebändigt. Lediglich zwei schmale Strähnen umrahmten wie zufällig ihr, nun sehr genervt aussehendes, Gesicht. >>Cvetelina White, es ist bereits Zehn nach Acht! Du weißt, Pünktlichkeit ist ..<< >>Eine Tugend - ich weiß<<, unterbrach ich meine Mutter, die noch einen empörten Laut von sich gab, daraufhin aber nichts mehr erwiderte, außer einen zornigen Blick. Ich hatte diesen Satz bestimmt schon hundert Mal gehört. Und mal ehrlich, als ob sie immer auf die Minute pünktlich waren. Manchmal kamen sie sogar mit Absicht zu spät, nur um sich besser inszenieren zu können, aber das war natürlich etwas vollkommen anderes. Ich versuchte meine Gesichtsmuskeln zu entspannen und eine möglichst unschuldige Miene aufzusetzen, denn mir war klar, dieses Thema war noch nicht erledigt. Meine Mum beachtete mich jedoch nicht mehr, stattdessen wendete sie sich wieder meinem Vater zu, der betont still neben ihr saß und demonstrativ einen Blick auf seine Uhr warf. Kurz darauf öffnete sich die Schwingtür zur Küche und zehn Bedienstete, die mit jeder Hand ein, bis zum Rand gefülltes, Tablett balancierten, traten ein, um die dezent dekorierte Tafel mit allerlei Köstlichkeiten zu bestücken. Ich entdeckte verschiedene Obstsalate, die unterschiedlichsten Müslikompositionen und viele andere leckere Sachen, deren süßlicher Duft mir langsam in die Nase stieg und meine Laune sofort ein Stück anhob. Nachdem alles serviert war, stellten sie sich alle in einer Reihe auf und warteten auf die Erlaubnis sich entfernen zu dürfen. Dabei achteten sie stets darauf demütig auf den Boden zu schauen und ihre Arme hinter dem Rücken zu verschränken. Mein Vater brachte, wie immer, kein Wort des Dankes oder der Wertschätzung über die Lippen, sondern entließ sie mit einer schroffen Handbewegung. Kurz darauf waren alle wie kleine graue Pinguine durch die Schwingtür verschwunden und wir waren wieder allein. >>Cvetelina so geht das nicht.<< Mein Vater wandte sich mir zu und eine Stimme hatte nun einen strengen Ton angenommen. >>Das ist schon das zweite Mal diesen Monat, dass du dich nicht an Verabredungen hältst<< >>Vater, ich hab einfach etwas zu lange geduscht. Ich hab die Zeit vergessen. Es tut mir leid.<< Ich warf ihm einen beschwörenden Blick zu, der ihn aber komplett kalt ließ. Eigentlich hätte ich es schon vorher wissen können, aber einen Versuch war es schließlich wert. >>Du kannst dich nicht immer herausreden mein Fräulein!<< Mit jedem Wort nahm seine Stimme an Lautstärke zu, bis er schließlich schrie. >>Ich werde Mr. Long Bescheid geben, dass du heute eine Stunde länger seinen Unterricht besuchen wirst - und zwar in 'Benimmregeln und Etikette'!<< Er schlug mit der flachen Hand auf das dunkle Holz des Tisches, sodass die Gläser und Teller auf ihm gefährlich zu klirren anfingen. Ich sagte nichts mehr, sondern nickte nur ergeben. Jedes weitere Wort wäre zwecklos gewesen und so schwieg ich auch dann noch als meine Eltern, nun wieder völlig ruhig, über das neue Geschäft mit Mr. George redeten.

Nachdem ich vom Frühstück entlassen wurde, eilte ich so schnell ich konnte durch die Flure zurück in mein Zimmer. Ich wollte noch etwas entspannen bevor Mr. Long eintraf und mich mit seinen unnützen Weisheiten zutexten würde. Und so stellte ich mich an die großen Fenster und blickte auf die Stadt hinab. Um uns herum standen viele Hochhäuser, unseres war allerdings das größte, weshalb ich einen guten Ausblick hatte. Ich konnte von hier über die gesamte Stadt bis zum Anfang der Slums in den Außenbezirken schauen, denn unser Haus war nicht nur das höchste, sondern auch das, welches genau im Mittelpunkt der Stadt lag. Je nach Lage und Größe eines Hauses, denn die nahm zum Stadtrand hin immer weiter ab, konnte man die soziale Stellung und den Reichtum der Bewohner erkennen. Ich war noch nie weiter weg als bis zur dritten Zone. Alles andere wäre viel zu gefährlich, denn die Kriminalitätsrate in den äußeren Bezirken war berüchtigt.
Ich warf einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr. 9:23. In ein paar Minuten würden die, nach außen hin verspiegelten, Rollos herunterfahren, die die Bewohner des Hauses vor der Hitze des Tages schützen sollten. Nur einen Wimpernschlag später fing es auch schon leise an zu summen und die Rollos glitten sanft von außen über die Scheiben. Sie tauchten das Zimmer für einige Sekunden in Dunkelheit, bis der integrierte Bildschirm des Fensters wieder das Bild zeigte, was ich eben zuvor noch gesehen hatte. Das war möglich, da sich an der Fassade um jedes Fenster mehrere Kameras befanden, die das aufgenommene Bild so zusammenrechneten, dass man den Eindruck eines realen Ausblicks hatte. Auf diese Weise konnte ich immer sehen was draußen geschah, auch wenn die Rollos heruntergefahren waren. Es sei denn ich wollte lieber einen x-beliebigen anderen Ausblick haben. Das ging natürlich auch. Über andere Städte, Ozeane und Wälder von früher, war einfach alles möglich und konnte einen binnen Sekunden in eine komplett andere Welt versetzen. In eine Welt voller Farben, nicht so trist wie unsere. Am meisten mochte ich den Wald. Dieses satte Grün und das leise Rauschen, das wohl entsteht, wenn Wind durch die vielen Blätter wehte, ist so beruhigend, wie nichts anderes, was ich mir vorstellen könnte.

Ein paar Stunden später saß ich neben Alex und lauschte Mr. Longs Vortrag über die politischen Strukturen der Welt vor der Klimakatastrophe. Am besten sollten wir alles wissen: Welche Länder es gab, wer sie wann regierte und welche die jeweils größte oppositionelle Gruppe war. Alles natürlich samt ihrer Ziele und Forderungen. Dieses Thema war mindestens genauso trocken, wie der Boden draußen. Und der war staubtrocken. Ich versuchte vergeblich ein Gähnen zu unterdrücken, bemühte mich aber es wenigstens geschickt hinter meinem Arm zu verbergen. Anscheinend ziemlich erfolglos, denn gleich daraufhin erntete ich einen vorwurfsvollen Blick von Mr. Long. >>Ms. White sie wissen, dass sie in ihrer Stellung dazu verpflichtet sind, sich bestens in unserer Historie auszukennen?<< Er erwartete keine Antwort darauf, sondern schob seine dunkle Brille zurecht, um mit seinem Unterricht fortzufahren. Ich schaute rüber zu Alex. Seine Gesichtszüge waren angespannt und seine sonst sanft geschwungenen Lippen vor Konzentration ganz schmal. Er war das komplette Gegenteil von mir. Er war zielstrebig, ehrgeizig und bereit sich vollkommen für seine Ziele zu opfern. Ich hingegen hatte keinen großen Ziele, die ich erreichen wollte. Ich bemühte mich die Erwartungen an mich zu erfüllen so gut ich konnte, aber aus schlichter Vermeidungstaktik, nicht aus Ehrgeiz. Ich mochte einfach keinen Streit - und erst recht nicht mit meinen Eltern, weil ich wusste, ich würde immer den Kürzeren ziehen.
In der halbstündigen Pause saßen wir beide auf einer Bank in der Parketage. Ich schloss die Augen und genoss den Duft, der sich unaufhörlich den Weg in meine Nase bahnte. >>Cveti?<< Ein Räuspern >>Ähm.. ich wollte dir schon seit ein paar Tagen was sagen.<< Ich ahnte schon, dass es nichts Gutes war, denn er war den ganzen Tag schon so ungewöhnlich still gewesen. So kannte ich ihn eigentlich gar nicht. >>Mein Vater meinte letztens zu mir, dass er jetzt findet, dass ich reif genug bin. Also ich meine, meine Leistungen im Unterricht sind so gut wie noch nie und ich hab meinem Vater ja schon ab und zu mal helfen dürfen..<<, stammelte er und fuhr sich nervös mit der Hand durch sein dunkelblondes Haar. >>Komm auf den Punkt>> ,lachte ich und stieß ihn freundschaftlich mit der Schulter an. >>Also was ich sagen wollte.. er machte eine kurze Pause und atmete tief ein, so als würden ihm die nächsten Worte nur sehr schwer über die Lippen kommen, >>Ich werde ab nächste Woche keinen Unterricht bei Mr. Long mehr bekommen, sondern bei meinem Vater in die Lehre gehen.<< Sofort war meine gute Laune wie weggeblasen. >>Das heißt ich soll ab Montag alleine im Unterricht sitzen? Dann werden wir uns ja kaum noch sehen.. und überhaupt! Mit wem soll ich denn reden wenn du nicht mehr da bist?<< Ein Gefühl der absoluten Einsamkeit überrollte mich und spülte auch das letzte bisschen Selbstbeherrschung davon. Ich konnte nichts dagegen tun und die Tränen sammelten sich langsam in meinen Augen. Verstohlen drehte ich mich weg, um sie heimlich wegzublinzeln, bevor er sie sah. Alex würde mich alleine lassen - ganz alleine. Ich konnte es nicht fassen. Ich musste mich verhört haben, diese Worte konnten einfach nicht die Wahrheit sein. Das ging einfach nicht! >>Komm, ich bin doch nicht aus der Welt<<, versuchte er mich zu beruhigen, aber davon bekam ich genauso viel mit, wie von Mr. Longs Unterricht - nämlich gar nichts.

Ich wollte allein sein, einfach niemanden sehen, ging isofort nach Unterrichtsschluss zielstrebig auf mein Zimmer und knallte die Tür mit voller Wucht hinter mir zu.
Die Strafstunde war schrecklich langweilig gewesen und ich hatte jede Minute gezählt, bis sie endlich vorbei gewesen war. Nun saß ich hier auf meinem Bett mit nur einem Gedanken: Es würde nichts mehr so sein, wie es war. Alex war immer meine Insel gewesen. Bei ihm fühlte ich mich Zuhause. Und nun würde ich ihn wohl kaum noch zu Gesicht bekommen. Wieder brodelte in mir das Gefühl der Wut und absoluten Einsamkeit auf. Wie konnte er mir das antun? Wie konnte er mich so verraten? Ich musste hier raus! Und so schnappte ich mir meinen dünnen, schwarzen Hoodie, und warf ihn mir über. Mittlerweile war die Sonne untergegangen und die Temperaturen, nach einem kurzen Blick auf die Anzeige im Fenster, bis jetzt schon auf 17 Grad gefallen.
Ich lief so unauffällig wie möglich zum Fahrstuhl und fuhr ohne gesehen zu werden bis ins Erdgeschoss hinab, vorbei an den Pflanzenlaboren und Zuchtanlagen der unteren Geschosse, in denen unsere Nahrungsmittel größtenteils produziert wurden . Ich wollte wirklich niemanden erklären, was ich hier tat - denn das was ich tat, war ziemlich verboten. Ich brauchte frische Luft und vor allem, Ruhe. Ich wollte einfach mal auf andere Gedanken kommen und etwas spazieren gehen. Die Vorschriften, die mich in diesem Haus einsperren sollten, sah ich sowieso eher als Richtlinie, als wirkliche Regel an. Mein Vater sagte mir zwar immer es sei zu gefährlich sich als Tochter des Präsidenten allein draußen herumzutreiben, aber was wusste er schon? Ich war schließlich alt genug, um selbst auf mich aufzupassen.

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