Kapitel 15

Cvetelina

Ich durchschritt den Raum und kniete mich neben die Matratze auf den kargen Betonboden. Das Mädchen, was mir letztens noch voller Tatendrang geholfen hatte, war heute gar nicht mehr wiederzuerkennen. Der Kiefer war geschwollen und hatte eine lila - grüne Farbe angenommen, die Haut an Stirn und Kinn war aufgeplatzt, die rechte Seite völlig verdreckt und stank scheußlich. Ich musste mir alle Mühe geben eine Würgereflex zu unterdrücken. Vorsichtig legte ich meine Hand auf ihre, mit Schweißperlen besetzte, Stirn und sah mich in meiner ersten Vermutung bestätigt. Sie war bewusstlos und hatte Fieber. >>Oh mein Gott, was ist denn mit ihr passiert?<<, fragte ich ihren kleinen Bruder tonlos, der noch immer unschlüssig im Türrahmen stand. >>Ärger auf der Arbeit<<, gab er nur mit einem traurigen Blick zurück. Währenddessen durchforstete ich mein Gehirn nach allem möglichen medizinischen Wissen, was ich besaß. Eins war mir schnell klar - viel war es nicht. Vielleicht hatte sie innere Verletzungen, oder eine ihrer Wunden hatte sich entzündet? Das würde zumindest das Fieber erklären. Ich bemühte mich möglichst nicht verrückt zu werden. Ich hatte schließlich a) keine Ahnung, ob meine Vermutung überhaupt richtig war und b) kein 'Healance' dabei. Das heilte Wunden nämlich im Nu und befand sich zu Hauf in unserem Apothekerschrank Zuhause. >>Okay, ich glaub das Beste ist erst mal, dass wir sie ein bisschen runterkühlen und die Wunden reinigen.<< Mit einem Blick auf ihr Gesicht fügte ich etwas leiser hinzu, >>Ihrem Gesicht würde es allerdings auch nicht schaden.<< Wie zur Salzsäule erstarrt, blieb der Junge stehen und heftete seinen Blick starr auf den Boden. >>Worauf wartest du denn? Bring mir mal bitte etwas Wasser!<<, gab ich ihm etwas zu schroff zu verstehen, während ich mich noch einmal zu ihm umdrehte. Als ich seine leise Stimme vernahm, hielt ich inne und versuchte das eben Gehörte zu verdauen. >>Aber wir haben doch seit Tagen kaum Wasser. Du hast doch alles kaputt gemacht!<<, den letzten Teil hatte er geschrien und war weinend aus dem Zimmer geflüchtet.
Immer noch auf dem kalten Steinfußboden kniend, blickte ich ihm hinterher. Die anfangs flüsternde Stimme der Erkenntnis fing nun an so laut in meinem Kopf zu brüllen, dass ich versuchte meine Ohren davor zu verschließen. Aber es ging nicht. Es stimmte, ich hatte ihren Wasservorrat zerstört, aber ich hätte nie gedacht, dass es solche Folgen haben würde. Natürlich wusste ich theoretisch, wie lebensnotwendig Wasser war, aber ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass jemand in unserer Stadt verdursten könnte. Vieles lief bei uns nicht optimal, aber es gab doch schließlich die Zuteilungen. Die müssten doch für eine Notversorgung sorgen, oder etwa nicht? Oder eins der Krankenhäuser...
Ein Stöhnen drang aus dem Mund des Mädchens, als sie sich, gefangen in ihrem Fiebertraum, von rechts nach links drehte. Das holte mich zurück in die Realität und ließ die Stimmen in meinem Kopf kurzzeitig verstummen. Ich musste mich jetzt auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Für alles andere hatte ich später noch genug Zeit. Sofort lief ich zu meinem Rucksack mit den mitgebrachten Sachen, holte eine Flasche heraus und öffnete sie noch auf dem Weg zurück zur Matratze. Ich kniete mich wieder neben sie und schob ihr die freie Hand unter den Oberkörper. Ich versuchte das Mädchen langsam aufzurichten, aber das war gar nicht so einfach, wie es in manchen Filmen aussah. So würde ich es auf jeden Fall nicht schaffen. Ich stellte die Flasche wieder beiseite und griff mit beiden Händen nach ihren Armen, um zuerst ihren Oberkörper nach oben und anschließend mit aller Kraft an die Wand zu ziehen, damit sie nicht gleich wieder umfiel. Nach drei Versuchen sie so zu platzieren, dass sie nicht wieder zur Seite rutschte schaffte ich es endlich. Wenn das nicht der pure Ernst wäre, hätte man sich über meine Bemühungen bestimmt köstlich amüsieren können.
Stöhnend saß sie nun an die Wand gelehnt da. Ihre Lider flatterten, während sie ihren Kopf aufgeregt von rechts nach links warf und schmerzverzerrt ihren Oberkörper nach vorne neigte. >>Mum, Tony nein!<<, schrie sie. Sofort nahm ich mir die Flasche. Ich konnte nicht noch mehr Zeit vertrödeln, ich musste endlich etwas tun! >>Okay, gaanz ruuuhig.<< Vorsichtig legte ich meinen linken Arm um ihren Nacken und die Hand an die Stirn, damit ich ihren Kopf gleichzeitig ruhig halten und etwas nach hinten kippen konnte. Mit der Rechten setzte ich nun behutsam die Flasche an die aufgeplatzten Lippen, über die keine zwei Sekunden später das erste Wasser rann. Ein Husten durchschüttelte den schlaffen Körper und vor Schreck setzte ich die Flasche wieder ab. Aber gleich darauf wurde sie wieder von zwei noch geschwächten Händen gepackt und Melli fing gierig an zu trinken. Ich half ihr trotzdem weiterhin, da sie einfach noch zu schwach war und ihr die Flasche sonst wahrscheinlich einfach aus der Hand geglitten wäre. Als sie alles ausgetrunken hatte, ließ sie sich zurück auf die Matratze sinken und war, nachdem sie mir noch einmal tief in die Augen geschaut hatte, wieder eingeschlafen. Ich blieb noch eine Weile neben ihr sitzen, um ihre Stirn etwas zu kühlen und das Gesicht ein bisschen zu reinigen. Eine Stunde später, sah sie wieder etwas menschlich aus. Ihre Haut hatte zwar an einigen Stellen immer noch diese ungesunde lila Farbe, und es würde wohl auch ein paar Wochen dauern, bis sie wieder weg ging, aber immerhin hatte sie nicht mehr diese ekelhaft stinkende Kruste im Gesicht. Ich wollte gar nicht wissen, was das alles war, sonst würde ich mich noch mehr ekeln. Es hatte sich so schon ein flaues Gefühl in meiner Magengegend ausgebreitet, dass musste ich nicht noch verstärken.
Ich stand auf und entleerte meine Tasche. Die sechs Wasserflaschen stellte ich auf den wackeligen Tisch und das Obst drapierte ich hübsch daneben. Unschlüssig stand ich nun mit der leeren Tasche in der Hand in der Mitte des kleinen Raumes und überlegte, ob ich nicht lieber noch einmal nach dem kleinen Jungen sehen sollte. Er sah schließlich vorhin auch nicht gut aus. Kurz entschlossen sprang ich über meinen Schatten, griff nach einer der Flaschen und trat in den Flur. Eine Tür stand offen und ich erkannte den hellbraunen Schopf, den ich erspähte, sofort wieder. Leise trat ich in das Zimmer und setzte mich neben den Kleinen auf das schmale Bett. Es ächzte bei der Bewegung und steinharte Federn bohrten sich in meinen Allerwertesten. >>Es geht ihr schon etwas besser<<, sprach ich leise und reichte ihm das Wasser. >>Hier trink das. Der Rest steht in der Küche.<< Ich hoffte zumindest, dass das die Küche war. Sofort hörte er auf an seinen Nägeln zu knabbern und stürzte das kühle Nass hinunter. Als er fertig war, fuhr er sich mit dem nackten Unterarm über den Mund, um die Flüssigkeit aus seinem Gesicht zu wischen. >>Tut mir Leid.<<, flüstere er niedergeschlagen in meine Richtung. >>Das muss es nicht<<, erwiderte ich sofort, >>du hattest ja Recht.<< >>Danke, dass du Melli geholfen hast.<< Dankbar blickten mich die großen Kinderaugen an und ich strich ihm über sein weiches Haar. >>Das war selbstverständlich. Für sowas musst du dich nicht bedanken. Ich werde gleich los machen, aber ich verspreche dir, dass ich morgen wiederkomme.<< Ich stand auf und ging zur Zimmertür, wo ich noch einmal stehen blieb. >>Schau zwischendurch immer mal nach ihr und kühle ihr die Stirn damit das Fieber schneller runtergeht. Und wenn sie Durst hat, lass sie ruhig trinken.<< Damit wandte ich mich ab und ging.

Draußen empfing mich eine kalte Brise. Natürlich war es noch kälter geworden als vorhin. Ich verschränkte die Arme während des Laufens vor der Brust, um wenigstens etwas Wärme bei mir zu behalten. Schließlich hatte ich wieder mal nur eine dünne Strickjacke an. Bibbernd ging ich den sandigen, vom Vollmond beleuchteten Weg entlang, bis ich auf die Kreuzung traf, an der ich vorhin überlegt hatte, wo es lang ging. Ab hier war die Straße wieder fest und es gab alle zehn Meter eine helle Laterne, die alles in sanftes Licht tauchte und mir den Weg zeigte. Ich lauschte dem Wind, der durch die Lücken zwischen den Häusern hindurch pfiff. Wäre ich heute nicht gekommen, wäre Melli morgen wahrscheinlich schon tot gewesen. Ich wäre verantwortlich für den Tod eines Menschen gewesen! Und wahrscheinlich auch für den Tod ihres kleinen Bruders, denn alleine wäre er bestimmt nicht klar gekommen. Ich war eine potentielle Mörderin! Wie konnte ich nur so ignorant sein? Ich hatte damals versprochen, ich würde das Wasser so schnell wie möglich ersetzen und was war? Ich hatte mir tagelang Zeit gelassen! Das war einfach unverantwortlich. Wie sollte ich jemals regieren, wenn ich so ignorant und verantwortungslos war? Tausende Schicksale würden in meiner Hand liegen.
Aber vor allem: wie konnte es sein, dass Menschen vor den Augen anderer einfach am lebendigen Leib verdursteten? Vielleicht war das ja ein - wie sagt man so schön? - bedauerlicher Einzelfall?
Aber eins stand fest: Ich würde der Sache auf jeden Fall gehörig auf den Grund gehen!


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top