36 | Bittersüße Küsse
Ich hab lang gehadert, ob schon heute oder lieber morgen. Aber ich will euch nicht länger warten lassen. Viel Spaß mit dem Kapitel. Lesen auf eigene Gefahr...
2017.
„Ich bin einfach so durcheinander", sagte Cassie verzweifelt und warf ihrer besten Freundin einen hilfesuchenden Blick über den Küchentisch zu. Alessa musterte sie aufmerksam und schob ihr die Tasse mit Milchkaffee zu.
„Wegen John?"
„Auch."
„Und wegen Chris?"
Cassie nickte.
„Er hat mich gestern Abend angerufen", erzählte sie und nippte an ihrem Milchkaffee.
„Er hat dich angerufen?", wiederholte Alessa wütend
„Ja, er hat mich um ein Gespräch gebeten, aber ich will ihn nicht sehen; genauso wenig wie Paola", sagte sie.
„Verständlicherweise", stimmte Alessa ihr zu.
„Ich hätte nie gedacht, dass Chris mich betrügen könnte. Ich verstehe das wirklich nicht. Was hat ihm in unserer Beziehung gefehlt und warum hat er mit mir nicht darüber gesprochen?"
„Das wirst du nur herausfinden, wenn du mit ihm redest", erwiderte Alessa.
„Ich würde ihm sowieso keine zweite Chance geben. Dafür bin ich viel zu enttäuscht und ich könnte ihm auch nicht mehr vertrauen."
Sie rührte kurz in ihrem Milchkaffee herum, dann schaute sie Alessa in die Augen.
„Und zu allem Überfluss habe ich mit John geschlafen."
Alessas Augen weiteten sich überrascht.
„Echt jetzt?"
„Es ist einfach irgendwie passiert."
„So was passiert doch nicht einfach so", kommentierte Alessa.
„Manchmal schon", seufzte sie schwer und erinnerte sich an die Nacht zurück, in der auch sie das erste Mal diese Erkenntnis gewonnen hatte.
Auch, als sie kurz nach dem Angriff auf dem Kiez Martens Wohnung betrat, realisierte sie die Geschehnisse nicht. Sie fühlte sich wie in einer Art Trancezustand. Er führte sie um die Ecke des Flurs, geradewegs ins Bad. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und fuhr mit ihren Fingern über ihr geschwollenes Gesicht. Noch immer liefen Tränen über ihre Wangen, denn es gelang ihr kaum, sich zu beruhigen. Ihre Nase hatte mittlerweile aufgehört zu bluten, doch ihr Gesicht war völlig verschmiert.
Sie seufzte schwer, wischte sich die Tränen von den Wangen und drehte den Wasserhahn auf. Marten beobachtete sie dabei, wie sie ihr Gesicht wusch, und reichte ihr ein Handtuch. Das kühle Nass tat gut auf ihrer Haut, vermischte sich mit ihren Tränen und verschaffte ihr – zumindest im ersten Augenblick – etwas Erleichterung. Ihr Blick fiel auf ihre Jacke, auf die ebenfalls etwas von ihrem Blut getropft war. Schwer seufzend öffnete sie den Reißverschluss, streifte sie über die Schultern und betrachtete die Flecken. Sie waren noch nicht eingetrocknet, also konnte sie versuchen, sie noch mit Wasser auszuwaschen.
Sie hielt den Stoff unter den fließenden Wasserhahn und rieb vorsichtig über die Blutflecke. Ihre Finger zitterten noch immer. Sie stellte sich die Frage, wie die Situation ausgegangen wäre, wäre Marten nicht aufgetaucht. Ihr Hals schnürte sich zu und sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ihr Mund wurde trocken und ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt.
„Hey..."
Martens Stimme an ihrem Ohr war leise, ließ sie jedoch trotzdem zusammenzucken. Seine Hände streiften ihre, als er ihr die Jacke vorsichtig aus den zitternden Fingern nahm und sie achtlos ins Waschbecken legte. Erst, als er seine Hände vorsichtig an ihr Gesicht legte, realisierte sie, dass sie hyperventilierte.
„Ich will nicht weinen", schluchzte sie.
Er blieb ganz ruhig.
„Doch. Lass einfach los", sagte er ruhig, ohne seine Hände von ihrem Gesicht zu lösen. Sie legte ihre Hände an seine Unterarme und tat, was er sagte. Als sie bewusst versuchte, die Kontrolle abzulegen, wurde die Angst des Erstickens jedoch so unerträglich, dass sie in seinen Armen zusammenbrach. Noch immer japste sie nach Luft. Ihr Herz hämmerte so wild in ihrer Brust, dass sie das Gefühl hatte, es würde gleich platzen. Was, wenn sie erstickte, weil sie nicht genug Luft bekam?
„Konzentrier dich auf deine Atmung", sagte er ganz entspannt, ohne seine Hände von ihren Wangen zu lösen, und schaute ihr dabei fest in die Augen. Ihre ersten Versuche scheiterten, weil sie immer wieder nach Luft rang.
„Wenn es dir hilft, mach die Augen zu."
Auch, wenn seine Stimme ganz ruhig war, gelang es ihr nicht, sich zu beruhigen. Also folgte sie seinem Rat, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, die hektische Atmung abzulegen. Als sie spürte, dass sie sich etwas entspannte, schlug sie ihre Augen wieder auf. Noch immer sah er ihr fest ins Gesicht, strich sanft mit seinen Daumen über ihre Wange und gab ihr ein seltsames Gefühl von Sicherheit. Sie fokussierte sich auf das dunkle Ozeanblau seiner Augen und versuchte, mit ihm zusammen zu atmen. Je mehr sie sich darauf einließ und in seinem tiefen Blick verlor, desto gleichmäßiger fand sie nach und nach in seinen Rhythmus. Es war verrückt, dass ausgerechnet er in diesem Moment so viel Ruhe ausstrahlte. Ihre Wangen waren mittlerweile ganz warm von seinen Berührungen, doch er löste seine Hände erst von ihrem Gesicht, als sie wieder ruhig und gleichmäßig atmete.
„Danke", flüsterte sie und wischte sich ein paar letzte Tränen von den Wangen. Er sagte nichts, schaute ihr einfach nur in die Augen. „Gar nichts los", lächelte er.
„Woher wusstest du, was zu tun ist?"
„Hab ich mal im Fernsehen gesehen", grinste er.
„Als ob!", lächelte sie.
„Echt jetzt. Ne Dokumentation über Angststörungen."
„So was guckst du?"
Sie grinste. Er wurde ernst.
„Meine Ex hatte Angststörungen. Hab mir das wegen ihr reingezogen, damit ich ihr helfen kann, wenn sie wieder mal durchdreht."
Sie musterte ihn überrascht. Sie wusste, dass er auch eine andere Seite hatte, doch diese zeigte er tatsächlich nur sehr selten. Meist versteckte er sich hinter dieser coolen, unnahbaren Fassade, die ihn für viele Mädchen erst interessant machte.
„Wow."
„Wow, dass ich so was weiß oder wow, dass ich ne richtige Freundin hatte?", wollte er wissen.
„Beides, irgendwie", gab sie zu.
Er zuckte mit den Schultern.
„Es gibt Vieles, das du nicht von mir weißt."
Erst jetzt, als sich die Aufregung legte, bemerkte sie die Verletzungen an seinen Händen. Sie griff behutsam nach seiner Hand.
„Sieht übel aus", sagte sie und inspizierte die tiefen Schürfwunden.
„Geht schon", versicherte er, doch sie drehte den Wasserhahn auf und hielt seine Hände vorsichtig darunter.
„Du musst das auswaschen, sonst entzündet sich das vielleicht", sagte sie, während das lauwarme Wasser über seine Hände lief.
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ich bin okay, Cas. Wirklich", beteuerte er.
„Eigentlich solltest du das auch desinfizieren", sagte sie, als sie das Wasser abstellte. Er schaute eindringlich auf sie herab.
„Meine Hände werden mir nicht abfallen, wenn ich das nicht mache."
„Sie werden dir aber auch nicht abfallen, wenn du auf mich hörst", erwiderte sie hartnäckig.
Er seufzte theatralisch, als er erkannte, dass er keine Chance hatte, und verschwand für einen Augenblick. Dann kehrte er mit einer Flasche Vodka in der Hand zurück und hielt sie ihr vor die Nase. „Zufrieden?"
Sie runzelte die Stirn.
„Dein Ernst?"
Er schraubte die Flasche auf, doch bevor er die Wunde mit der durchsichtigen Flüssigkeit benetzen konnte, hielt sie ihn davon ab.
„Das ist nicht gut für die Wundheilung und erweitert die Gefäße", sagte sie.
„Ich habe nichts anderes", gab er zurück, nahm ihr die Flasche wieder aus der Hand und kippte sich etwas über die Wunde. Dann stellte er die Flasche zur Seite und hielt seine Hände in die Luft. „Hier. Sauber. Amputation abgewendet. Okay?"
Sie griff erneut nach seiner Hand.
„Das tut mir echt leid", sagte sie.
„Wieso? Arschlöcher wie die haben das nicht anders verdient", stellte er klar.
Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Ich hätte mich einfach nicht allein draußen rumtreiben dürfen. John hat das auch immer gesagt."
Als sie an ihn dachte, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Mit ihm an ihrer Seite war ihm nie etwas passiert. Er hatte immer auf sie aufgepasst. Erneut traten Tränen in ihre Augen. Sie senkte schnell ihren Blick und wandte sich von Marten ab, damit er sie nicht sah. Als sie das Badezimmer verlassen wollte, umfasste er ihr Handgelenk und zog sie zu sich zurück. Erst jetzt bemerkte sie, dass sein Blick nachdenklich geworden war. Ein unglücklicher Schleier lag über seinen Augen und seine Hände hatten zu zittern begonnen.
„Das nächste Mal rufst du mich an. Ich will, dass du besser auf dich aufpasst. Okay?"
Sie legte den Kopf schief und sah in sein trauriges Gesicht.
„Was ist mit dir?", wollte sie wissen.
Er schluckte, schüttelte dann leicht den Kopf.
„Kopffick wegen meiner Ex. Lass nicht darüber reden."
„Okay, entschuldige. Es geht mich auch eigentlich überhaupt nichts an", sagte sie leise.
Als er unerwartet seine Finger an ihr Kinn legte, biss sie sich auf die Zunge. Sie versank im unergründlichen Blau seiner Augen. Sie hatten etwas von John. Die Erinnerung daran, wie sie sich in seinen Augen verloren und wiedergefunden hatte, ließ sie wohlig erschaudern. Sie wusste, dass die Ereignisse dieser Nacht sie schwächten, doch gerade deshalb sehnte sie sich nach Halt und Geborgenheit. Die unendliche Sehnsucht, die sie tief in sich spürte und die eigentlich John galt, vermischte sich mit ihrer Verzweiflung und der Fassungslosigkeit. Der Schmerz, der sich in ihr ausbreitete, war so riesig, dass sie mit einem Mal gar nichts mehr spüren wollte. Sie wollte nur noch vergessen. Diese Typen, John und den Schmerz in ihr.
Also ließ sie es zu, dass sie sich im tiefen Blau verlor. Er erwiderte ihren tiefen Blick, bewegte sich jedoch nicht, doch er wehrte sich auch nicht, als sie ihre Hände in seinen Nacken legte und sie dort verschränkte. Stattdessen legte er seine Hände an ihre Taille, zog sie zu sich heran und hielt seinen Blick dabei auf sie gerichtet. Kurz war es, als hörte die verstörende Welt um sie herum auf zu existieren. Erst jetzt realisierte sie die Hitze, die sich von seinem Körper auf ihren übertrug. Ihr Mund öffnete sich einen Spalt breit, doch es gelang ihr nicht, etwas zu sagen. Als er sich jetzt zu ihr herunterbeugte und ihre Lippen mit einem festen Kuss verschloss, begannen ihre Lippen augenblicklich zu brennen, doch sie ließ es einfach geschehen.
Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt, als er seine rauen Lippen fordernd auf ihre presste, doch sie wich nicht zurück. Sie wollte nicht fliehen, denn dafür fühlte sich dieser Kuss viel zu gut an. Er schmeckte nach Gras und Minze und entfachte ein Feuer in ihr, das sie lang nicht mehr gespürt hatte. Er gab ihr Halt und Sicherheit und ließ sie all ihre Sorgen vergessen. Als seine Zunge fordernd gegen ihre Lippen stieß, ließ sie ihn gewähren und schlang ihre Arme um seinen Hals, bevor sie in einem stürmisch-mechanischen Kuss versanken.
„Ich habe ihn einfach gebraucht, um abzuschalten und loszulassen, so wie Marten damals", sagte Cassie gedankenverloren. Alessa starrte sie entsetzt an.
„Wann hattest du bitte was mit Marten?"
Cassie seufzte. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal ihrer besten Freundin, denn obwohl sie eigentlich nichts Verbotenes oder Verwerfliches getan hatte, hatte sie sich schlecht deswegen gefühlt.
„Nach John. Vor Chris", gestand sie und senkte reumütig ihren Blick.
„Wieso zur Hölle hattest du was mit ihm? Und warum weiß ich davon nichts?"
„Weil es niemand weiß. Er hat es auch keinem erzählt. Es war auch nicht wirklich erwähnenswert."
„Bevor wir jetzt das Drama rund um John analysieren, will ich erst mal die Geschichte mit Marten aufrollen", sagte Alessa entschieden.
„Da gibt es nicht viel aufzurollen. Es ist in der einen Nacht passiert, du weißt schon...", versuchte Cassie, Alessa abzuwimmeln, doch die musterte sie lediglich auffordernd.
„Als wir feiern waren?", hakte Alessa nach. Natürlich wussten ihre Freundinnen von ihrem Überfall auf dem Kiez, doch Cassie hatte ihnen die wahre Identität ihres Helfers bisher verschwiegen und behauptet, der Fremde habe sie unversehrt nach Hause gebracht.
„Ja, genau. Als diese Typen mich angegriffen haben, war er plötzlich da", nickte sie.
„Er war dein ominöser Retter", schlussfolgerte Alessa überrascht.
„Ja."
„Oh man. Ich will alles wissen", forderte Alessa neugierig.
„Da gibt es nicht viel zu wissen. Ich war einfach völlig fertig. Durch den Übergriff ist einfach alles wieder hochgekommen. John hat immer auf mich aufgepasst, damit mir nichts passiert; wir waren immer füreinander da und haben uns für den anderen stark gemacht. Das hat unsere Beziehung ausgemacht. In der Nacht ist mir das erste Mal richtig bewusst geworden, dass ich das, was wir hatten, für immer verloren habe. Ich bin ich einfach zusammengebrochen; so sehr, dass ich eine Panikattacke bekommen habe. Und auch aus Martens Vergangenheit hat das etwas hochgeholt. Wir haben das in dem Moment beide gebraucht. Wir waren einfach füreinander da, auch, wenn es komisch klingt."
„Und John weiß das nicht?"
„Nein. Und das sollte auch so bleiben."
Ich weiß. Die eine oder andere ist jetzt geschockt. Einen Gruß an meine liebe Leserin, die es schon im Barcelona-Kapitel bei der Pool-Szene gecheckt hat. Ich weiß nicht; seid ihr jetzt mehr enttäuscht von mir oder von Cassie? Oder könnt ihr sie sogar verstehen? Ich meine, die Situation war jetzt ja auch schon extrem und manchmal spielen die Emotionen dann verrückt. Und was glaubt ihr? Sollte John davon erfahren? Oder besser nicht?
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