33 | Alte Gefühle
Pünktlich zur Haftentlassung ein neues Kapitel, leider heute ohne Marten. Dafür dann beim nächsten, mehr verrate ich nicht 😄😄😄
2017.
Cassie strich sich eine Locke aus ihrer Stirn und band ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Sie ließen sich heute irgendwie nicht wirklich bändigen. Ein paar ihrer Schüler musterten sie erwartungsvoll. Sie gab heute einen Workshop zu einem Beyonce-Song und fand endlich wieder die Ablenkung, die sie seit Wochen suchte.
Seit ihrer Trennung von Chris hatte sie ihn nur noch gesehen, um über die Auflösung des gemeinsamen Haushalts und die Auszahlung der übrig gebliebenen Gelder für die Hochzeit zu sprechen. Natürlich litt sie sehr unter dem Ende der Beziehung, vor allem, weil sein Seitensprung so unerwartet gewesen war, doch so nach und nach gelang es ihr, allmählich damit abzuschließen.
Diese Trennung war für sie einfach anders als die von John; er hatte sie damals nicht so verraten, sondern sie hatten sich einfach auseinandergelebt und auch sie hatte inzwischen gelernt, dass Gefühle sich nicht beeinflussen ließen.
Obwohl John sich so um sie bemüht und ihr die Augen über Chris geöffnet hatte, hielt sie zu ihm seit der ersten Nacht nach der geplatzten Hochzeit vor ein paar Wochen einen nötigen Sicherheitsabstand. Es war ihr unangenehmer als ihm, dass sie sich völlig betrunken an ihn herangeschmissen hatte, und nach wie vor verstand sie nicht, weshalb Willow ihr diese Idee nicht ausgeredet hatte.
Inzwischen hatte sie ihre gemeinsame Wohnung mit Chris aufgegeben und war wieder zu ihrer Mutter zurückgezogen, auch, wenn es seltsam war, in ihrem alten Kinderzimmer zu wohnen. Mit Paula hatte sie seit dem Tag ihrer Hochzeit nicht mehr gesprochen. Sie wollte sie nach wie vor nicht sehen. Sie war tief verletzt und verstand nicht, wie die eigene Freundin ihr so etwas antun konnte.
Nach dem Workshop packte Cassie ihre Sachen zusammen, verabschiedete sich von den Jugendlichen und machte sich auf den Weg nach Hause. Ihre Mutter hatte Essen gekocht und auch Willow und Milo eingeladen. Ihre Schwester war jetzt schon zwei Jahre mit dem niedlichen Schwarzen zusammen und Cassie gönnte es ihr von Herzen.
Das Abendessen verlief entspannt. Sie sprachen viel über die Wohnung, in die Willow demnächst mit Milo ziehen würde. Cassie hatte anfangs gedacht, dass sie die Erkenntnis belasten könnte, dass Willow mit ihrem Freund zusammenzog und jetzt das erlebte, was bei ihr gerade erst zerbrochen war, doch sie liebte ihre Schwester über alles und konnte ihre eigenen Gefühle deshalb gut zurückstellen.
Sie fand es süß zu sehen, wie die beiden darüber diskutierten, in welchen Farben sie die Wände streichen und welche Couch sie für das Wohnzimmer kaufen würden. Sie hatte solche Diskussionen noch nie geführt, denn außer mit Chris, der erst im Nachhinein bei ihr eingezogen war, hatte sie sonst nur mit John zusammengewohnt und der hatte sich nicht für Details interessiert.
Nach dem Abendessen half sie ihrer Mutter dabei, die Küche aufzuräumen, während Willow und Milo vor Cassies Laptop hingen und auf irgendwelchen Webseiten nach Möbeln für die Wohnung schauten.
„Dein Handy...", sagte Willow plötzlich.
Erst jetzt hörte auch Cassie das Vibrationsgeräusch. Ihr Smartphone lag mitten auf dem Küchentisch und ihre kleine Schwester schmunzelte frech, da sie offensichtlich schon gesehen hatte, wer sie anrief.
„Grins nicht so blöd", kommentierte Cassie.
„Läuft zwischen euch wieder was?", fragte Willow neugierig.
Sie antwortete nicht, sondern verdrehte die Augen, nahm ihr Handy und verschwand in ihrem Zimmer. Dann nahm sie den Anruf entgegen.
„Ja?"
„Hey... Was machst du?", begrüßte er sie.
Sie lächelte.
„Ich bin zuhause. Und du?"
„Ich bin im Studio. Hast du Bock, was zu machen?"
„An was hast du gedacht?", fragte sie.
„Weiß nicht. Chillen bei mir?"
Cassie biss sich auf die Unterlippe. Seit sie sich das letzte Mal – auch, wenn nur unter Alkoholeinfluss – zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war sie ihm ungern so schutzlos ausgeliefert.
„Sollen wir vielleicht irgendwo spazieren gehen?"
„Wenn dir das lieber ist", lenkte er ein.
„Sag mir einfach, wo ich hinkommen soll."
Nur eine Stunde später parkte Cassie ihren Wagen an der Straße vor einem kleinen Park. Hier waren sie schon früher immer spazieren gegangen. Sie erinnerte sich mit einem Lächeln auf den Lippen daran zurück, wie er ihr damals vorgetäuscht hatte, nicht zu ihrem Geburtstag zu kommen und sie anschließend nach Amsterdam entführt hatte. Ein paar hundert Meter den Gehweg entlang hatten sie sich gestritten und sie war daraufhin enttäuscht nach Hause gegangen.
Sie schob die Gedanken bei Seite und warf einen Blick auf den dunklen Mercedes, der auf der anderen Straßenseite geparkt hatte. In der Dunkelheit konnte sie Joes Silhouette erkennen, doch als John jetzt ausstieg, gab er Gas und der Wagen brauste durch die Dunkelheit davon. Auch sie verließ ihren Wagen und warf die Fahrertür hinter sich zu.
Draußen war es noch immer kühl, wenn die Sonne untergegangen war, also hatte sie einen beigefarbenen Wollmantel über ihren Strickpullover und ihre schwarze Jeans gezogen. Unmittelbar trat sie mit ihren Timberland-Boots in eine kleine Pfütze am Straßenrand.
„Wird Zeit, dass du offiziell einen Führerschein machst", grinste sie, als er die Straße überquerte.
Er trug eine dunkle Jacke und eine Jogginghose, dazu schwarze Sneakers. Sie biss sich auf die Zunge und verbot sich, ihn in irgendeiner Art anziehend zu finden, als er sie kurz in seine Arme schloss und sie seinen vertrauten Duft einsog.
„Wozu? Ich komm super ohne aus und notfalls fahr ich halt mit dem Bus", sagte er, als sie sich von ihm löste.
Sie setzten sich nur langsam in Bewegung.
„Wie war dein Tag?", fragte er und musterte sie neugierig.
„Ganz gut. Die Workshops sind gut gelaufen und ich habe mich endlich mit meinen Sponsoren auf die Summe geeinigt, die ich gern haben möchte", erzählte sie.
„Also haben sie angebissen?", hakte er nach.
„Fürs Erste ja. Ich habe auch schon eine Location gefunden. Die Räumlichkeiten wären ein Traum, aber ich muss jetzt alle Finanzen klären. Sieht aber gut aus, sie wollen investieren und klären intern noch einmal, wie viel Budget sie mir maximal zur Verfügung stellen können", antwortete sie.
„Klingt gut", sagte er.
„Und bei dir?"
John seufzte.
„Viel zu tun. Wir planen gerade die komplette Festival-Saison. Es ist der Wahnsinn, wie viele Veranstalter uns buchen wollen dieses Jahr. Außerdem will ich endlich an meinem Album arbeiten", antwortete er.
„Ist doch cool", sagte sie.
„Wir verhandeln gerade die Gagen", grinste er.
Sie liefen eine Weile nebeneinander her und schwiegen, doch es fühlte sich nicht unangenehm an.
„Willow zieht jetzt mit ihrem Freund zusammen", sagte sie irgendwann nachdenklich.
„Sie wird eben auch erwachsen. Was ist das für einer? Ich hab ihn ja nur kurz gesehen."
Cassie war ihm dankbar dafür, dass er den Zusatz „bei deiner Hochzeit" dezent unter den Tisch fallen ließ.
„Arbeitet in einem Handwerksbetrieb, Elektriker. Ein vernünftiger und bodenständiger Kerl."
John grinste.
„Kann man immer brauchen. Vor allem, wenn du deinen eigenen Laden aufmachst und alle Anschlüsse gelegt werden müssen", sagte er neunmalklug.
Als es zu nieseln begann, setzte sie die Kapuze ihres Mantels auf. Er schmunzelte.
„Was?", fragte sie.
„Sieht süß aus", erwiderte er.
„Was gibt es sonst so Neues?", wechselte sie das Thema, ohne auf sein Kompliment einzugehen.
„Meinem Dad geht's gesundheitlich nicht so gut momentan", sagte er.
Sie musterte ihn kurz. Sie wusste, dass er nicht darüber reden würde, deshalb fragte sie nicht weiter nach.
„Tut mir leid", erwiderte sie leise.
„Hmm", machte er nachdenklich.
„Und deiner Mum?"
„Ihr geht's gut, den Umständen entsprechend halt."
Der Regen wurde stärker. Sie schaute sich suchend nach einem Unterschlupf um. In ein paar hundert Metern Entfernung befand sich eine überdachte Grillstelle neben einem künstlich angelegten Teich. Sie warf prüfend einen Blick auf den Weg, den sie gekommen waren, und versuchte abzuschätzen, welche Variante günstiger war.
„Komm", sagte John, so, als könne er ihre Gedanken lesen, und sie folgte ihm schnellen Schrittes in Richtung Teich. Als sie den kleinen Holzverschlag erreichten, schlug sie die Kapuze nach hinten und ließ sich auf die in die Jahre gekommene Holzbank ohne Lehne fallen, die eigentlich aus einem geschliffenen Baumstamm bestand.
„Seit wir hier mal zusammen waren, komme ich manchmal her, wenn ich allein sein will, um nachzudenken", erzählte er, als er sich neben sie sinken ließ. Der Regen kam mittlerweile sintflutartig vom Himmel. Sie versuchte die Erinnerungen an den warmen Sommertag zu vertreiben, die sich in ihren Kopf schlich. Das Grillen war aufgrund der Hitzeentwicklung streng untersagt gewesen, doch die Jungs hatten sich einfach darüber hinweggesetzt. Erst, als die Polizei angerückt war, hatten sie fluchtartig das Weite gesucht.
„Damals war das Wetter allerdings deutlich besser", sagte sie schmunzelnd und strich durch ihre feuchten Locken. Die Kapuze hatte offenbar nicht den gesamten Regen abgehalten.
„Du hast dir so in die Hose geschissen, als die Bullen angerückt sind", grinste er frech.
„Warum wohl?", fragte sie ironisch.
Er lachte wissend.
„Ich hab dir schon oft Kopfschmerzen bereitet", stellte er fest.
„Das kannst du laut sagen", bestätigte sie.
„Aber ist immer alles gut gegangen; genau, wie ich es gesagt hab", sagte er großspurig.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
„Was?", wollte er wissen.
„Dass du dich ernsthaft immer noch darauf feierst, wie oft du einfach nur Glück gehabt hast."
Er wollte gerade etwas sagen, als das Handy in ihrer Tasche klingelte. Sie zog es heraus und warf einen Blick auf das Display. Dann seufzte sie schwer. Sie hatte wirklich keine Lust, ausgerechnet jetzt mit ihm zu sprechen. „Dein Ex?"
John musterte sie aufmerksam. Sein Blick hatte sich verdunkelt. Es war offensichtlich, dass er bereits aufs Display geschielt hatte. Es machte also keinen Sinn, es zu leugnen.
„Eigentlich habe ich ihn blockiert, aber es gibt noch offene Ausstände für die Location und die Miete, schließlich bin ich von heute auf morgen einfach so weg", erklärte sie, während ihr Handy weiter vor sich hin klingelte.
„Geh doch ran", forderte er.
Allein die Vorstellung, jetzt mit Chris über weiteres Geld zu diskutieren, zog sie runter. Also schüttelte sie den Kopf. „Keinen Bock jetzt auf den Film."
Das Handy verstummte. Sie atmete lautlos erleichtert auf und schob es in ihre Tasche zurück. Ihr Herz wurde schwer. Noch immer war die maßlose Enttäuschung über seinen Verrat präsent. Sie verstand nach wie vor nicht, weshalb er ihr so etwas antat. Sie hatte ihn wirklich geliebt, doch er hatte diese Gefühle mit Füßen getreten. Er verdiente nicht eine der Tränen, die sie ihm in den ersten Tagen voller Verzweiflung und Unverständnis nachgeweint hatte. Aber die Erkenntnis, dass die Person, der sie ihr Herz geschenkt hatte, sie so hintergangen hatte, lastete schwer auf ihrer Seele. Auch John hatte sie damals schwer enttäuscht, doch so etwas hatte er ihr nie angetan. Hätte John es ihr nicht gesagt, sie hätte es vielleicht niemals erfahren und ihr gesamtes Leben mit einem Mann verbracht, der sie und ihre Gefühle nicht zu würdigen wusste.
„Hey..."
Johns Stimme war sanft. Erst jetzt merkte sie, dass er ein Stück an sie herangerückt war und sie eindringlich anschaute. Während sie ihm ihren Kopf zudrehte, spürte sie, dass ihre Augen sich mit Tränen der Wut gefüllt hatten. Sie biss sich wütend auf die Zunge und blinzelte sie weg. Es war absurd, dass er ausgerechnet jetzt mit ihr hier saß, als sie sich so hilflos fühlte. Sie versuchte zu lächeln und senkte ihren Blick auf seine nassen Klamotten, um ihm nicht länger in die unergründlichen Augen schauen zu müssen.
„Scheiße", grinste sie.
„Egal. Trocknet wieder", erwiderte er, dann nahm er plötzlich ihre Hand; so unerwartet, dass sie im ersten Moment erstarrte. Ihre Finger kribbelten und sie traute sich nicht, ihn anzuschauen. Er war ihr so nah, dass sie seine Körperwärme spüren konnte, dabei wollte sie ihn doch auf Distanz halten. Das Kribbeln erfasste auch ihr Gesicht, als er seine Finger an ihr Kinn legte, ihren Kopf zu sich drehte und sie zwang, ihn anzusehen. Ein mysteriöses Funkeln lag in seinen Augen. Der tiefe Blick, den er ihr schenkte, ließ die schlechten Gedanken rund um Chris verblassen. Sie traute sich nicht, den unsichtbaren Bann zwischen ihnen zu brechen, als er seinen Kopf langsam zu ihr herüber beugte und ihre Nasenspitze mit seiner streifte. Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt.
Sie wusste nicht, ob es richtig war, sich auf einen weiteren Kuss mit John einzulassen. Am Abend nach ihrer geplatzten Hochzeit hatte sie sich nach ihm gesehnt, doch sie war betrunken gewesen. Aber auch jetzt fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Das Kribbeln hatte sich mittlerweile in ihrem gesamten Körper ausgebreitet und ihr Atem ging so flach, dass sie ihn kaum mehr spürte. Vielleicht konnte er ihr helfen, die Enttäuschung und den Schmerz zu vergessen. Doch war das fair?
Sein Blick fiel auf ihre leicht geöffneten Lippen. Sie wusste, dass er sie jetzt küssen würde, und ihr Herz schlug ihr augenblicklich bis zum Hals.
„John..."
Ich weiss. Mieses Ende. Verzeiht mir bitte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top