21 | Lost & Found

Ich weiß. Herzen wurden gebrochen. Vielleicht freut ihr euch ja trotzdem über das neue Kapitel. 

2016.

„Ist das sein Ernst?"

Cassie kämpfte sich, ihr Handy am Ohr und ihren Handgepäck-Koffer hinter sich herziehend, durch die vielen Menschen in der Abflughalle des Wiener Flughafens und versuchte, sich zur Sicherheitskontrolle durchzuschlängeln. Immer wieder musste sie dabei Familien mit Kindern oder langsam schlendernde Pärchen überholen, die offensichtlich etwas mehr Zeit hatten als sie selbst.

„Ich sage dir, ich habe in den letzten Jahren echt viel erlebt, aber so hat noch keiner versucht, mich zu verarschen. Die können mir nicht erzählen, dass sie sich zwar eine riesige Villa und teure Luxuskarren leisten können, aber für die Tänzerinnen ist kein Geld mehr da", sagte Cassie und wich einer Mutter aus, die gemächlich einen Kinderwagen vor sich herschob.

„Glaube ich auch nicht, aber immerhin haben sie Unterbringung und Verpflegung bezahlt", erwiderte ihre Gesprächspartnerin.

„Unter anderen Umständen wäre ich gar nicht erst mitgeflogen", antwortete sie und strich sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.

„Also brauche ich dich wohl momentan gar nicht erst fragen, ob du Bock auf einen Videodreh hast, oder?"

Cassie seufzte schwer.

„Sonst jederzeit gerne, Malia, aber für heute bin ich echt kuriert. Vielleicht reden wir einfach noch mal, wenn ich mich wieder abreagiert habe", schlug sie vor, statt direkt abzulehnen. Nur, weil sie gerade erst schlechte Erfahrungen gemacht hatte, bedeutete das schließlich nicht, dass es immer so laufen würde. Sie hatte in den vergangenen vier Jahren schließlich ebenso viele negative wie positive Erfahrungen gemacht.

„Okay, meld dich einfach, wenn du wieder zurück bist", gab ihre Freundin zurück.

„Mache ich, ich muss jetzt eh auflegen", sagte sie, bevor sie das Gespräch beendete. Sie erreichte die Sicherheitskontrolle, zog ihren Boarding Pass auf dem Smartphone über den kleinen Scanner und passierte, als sich die Türen öffneten. Die Schlange an der Sicherheitskontrolle war ziemlich lang. Sie hoffte, dass sie nicht auch noch ihren Flug verpassen würde; das hatte ihr gerade noch gefehlt. Dabei hatte sie im Hotel vor dem Abflug absichtlich auf Make-Up verzichtet, um Zeit zu sparen.

Während sie wartete, zog sie ihren beigefarbenen Mantel aus, den sie über ihrem schwarzen Hoodie und der schwarzen Leggings trug. An ihrem Handgelenk trug sie ihre goldene Uhr mit großem Ziffernblatt, dazu einen passenden Ring am Mittelfinger. Sie seufzte wehmütig, als ihr Blick auf ihre einst weißen, halbhohen Nike Air Force 1 fiel, die jedoch beim Videodreh viel hatten einstecken müssen.

Nach der Sicherheitskontrolle machte Cassie sich auf den Weg zu ihrem Gate. Sie war so spät dran, dass ihr nicht einmal mehr Zeit für eine Tasse Kaffee blieb. Als sie das Gate erreichte, hatte das Bodenpersonal bereits mit dem Boarding begonnen. Sie griff nach ihrem Smartphone, um den Boarding Pass bereitzuhalten. Als sie ins Leere griff, warf sie irritiert einen Blick auf die Bauchtasche ihres Hoodies und durchsuchte hektisch ihre Manteltaschen. Sie konnte es nicht finden. Das konnte doch nicht wahr sein, immerhin hatte sie vor ein paar Minuten noch mit Malia telefoniert und bei der Sicherheitskontrolle hatte sie es wieder eingesteckt.

Cassie stellte ihren Koffer ab, dann begann sie, in ihrer Handtasche danach zu kramen. Sie hätte sich den verfluchten Boarding Pass einfach ausdrucken sollen; doch auch dann wäre ihr Handy jetzt vielleicht weg. Ob sie beklaut worden war?

Hektisch strich sie sich die nervige Locke wieder nach hinten und schaut erneut in allen Manteltaschen nach, doch ihr Smartphone war und blieb verschwunden.

„Suchst du das hier?"

Cassie fuhr überrascht zu dem Besitzer der angenehm-dunklen Stimme herum, der gerade aus warmen, dunkelbraunen Augen auf sie herabschaute. Sie erkannte ihn sofort, war jedoch zu perplex, um etwas zu sagen. Er war einfach live noch viel hübscher als auf irgendwelchen Instagram-Fotos. Er trug einen schwarzen Jogginganzug und eine dunkle Snapback, hielt in seiner rechten Hand eine dunkelbraune Louis Vuitton-Tasche und in der linken ihr Smartphone. Cassie schenkte ihm ein erkenntliches Lächeln.

„Ja, danke", sagte sie erleichtert. Er reichte ihr das Smartphone.

„Es ist dir da vorne aus der Tasche gefallen", sagte ihr hübscher Gegenüber und deutete auf ein Bistro im Duty-Free-Bereich, während sie das Handy frustriert inspizierte. Das Display war gebrochen, dabei hatte sie es gerade vor ein paar Wochen erst geschenkt bekommen.

„Ich wäre echt verloren gewesen", lächelte sie.

„Ich weiß, wie scheiße es ist, wenn man sein Handy verliert", offenbarte er ihr.

Ob er mit ihr nach Hamburg fliegen würde? Sie hoffte es für einen Augenblick, auch, wenn sie das nicht sollte; wegen ihm.

„Wenn du deinen Flug nicht verpassen willst, solltest du dich jetzt beeilen."

Erst jetzt fiel ihr Blick auf die zwei Damen des Bodenpersonals, die sie ungeduldig musterten. Die anderen Passagiere schienen bereits an Bord gegangen zu sein. Sie schenkte ihm ein letztes Lächeln, auch, wenn es dann wohl bei dieser kurzen Begegnung bleiben würde.

„Also dann", lächelte sie hilflos, „Danke nochmal."

Er erwiderte ihr Lächeln. Verdammt, er hatte wirklich ein umwerfendes Lächeln.

„Guten Flug", grinste er.

„Dir auch", sagte sie, bevor sie sich endgültig abwandte und als letzte Passagierin durch die Boarding-Schleuse schlüpfte.

Der Flug nach Hamburg verlief ohne Turbulenzen, trotzdem war Cassie froh, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Noch immer flog sie nicht besonders gern, obwohl Kurzstrecken- noch immer besser klappten als Langstreckenflüge.

Als sie am Nachmittag aus dem Taxi stieg, atmete sie zufrieden durch. Sie ließ ihren Blick durch die ruhige Seitenstraße schweifen, in der sie wohnte. Am Bordstein standen die Autos dicht an dicht, hier einen Parkplatz zu finden war Luxus. Zum Glück hatte sie einen Stellplatz im Innenhof.

Ihre kleine Zweizimmerwohnung lag im zweiten Stock eines rosafarbenen Altbaus und hatte zwei lichtdurchflutete Zimmer und einen Balkon. Verschiedene Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants waren fußläufig ebenso schnell erreichbar wie die nächste Bus- oder Bahnhaltestelle.

Erst, als Cassie erschöpft den kleinen Flur ihrer Wohnung betrat, spürte sie die Erschöpfung der vergangenen Tage. Sie legte ihren Schlüssel auf der kleinen Kommode neben der Tür ab, streifte ihre Sneakers von den Füßen und hängte ihren Mantel an die Garderobe.

Links vom Flur gingen das kleine Bad, die Küche und das Wohnzimmer mit Zugang zum Balkon ab. Rechts lag das Schlafzimmer. Ihr erster Weg führte sie ins Bad, wo sie ihre Schmutzwäsche in die Maschine steckte. Anschließend räumte sie den restlichen Koffer aus und schaute im Kühlschrank der kleinen, modernen Einbauküche nach etwas zu Essen.

Erst, als sie es sich am Abend auf ihrer Couch gemütlich gemacht hatte, fühlte sie, wie ihre schlechte Laune aufgrund der vergangenen Tage von ihr abfiel und sie sich langsam entspannte. Als sie das Gefühl hatte, komplett runtergekommen zu sein, schnappte sie sich ihr lädiertes Smartphone und rief wie versprochen Malia zurück.

„Bist du gut wieder gelandet?", begrüßte ihre Freundin sie.

„Ja, tut mir leid, dass ich vorhin so genervt war", erwiderte sie.

„Wozu sind Freunde sonst da?", lachte Malia, „Außerdem verstehe ich dich doch. Deshalb war ich auch so vorsichtig, als ich dich nach einem neuen Job gefragt habe."

„Was ist das denn für ein Job? Du hast irgendwas von Videodreh gesagt", hakte sie neugierig nach.

„Eigentlich haben sie Bella und mich für den Job angefragt, aber sie musste absagen, weil sich das mit einem anderen Job überschnitten hat, für den sie bereits einen Vertrag unterschrieben hat. Es geht um einen Videodreh in Barcelona", erklärte Malia.

Cassie strich sich ihre offenen Locken nach hinten, während ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen. Um die Jahreszeit konnte es nicht schaden, aus Deutschland rauszukommen.

„Mit dir nach Barcelona zu fliegen, klingt schon mal nicht schlecht. Wann soll denn das Video gedreht werden?", wollte sie wissen.

„Schon Anfang nächster Woche."

„Das ist echt super knapp, aber wenn die Bezahlung stimmt, kann ich in der Academy bestimmt eine Vertretung organisieren", räumte sie ein.

„Die Bezahlung ist ziemlich gut. Es gibt allerdings einen winzig kleinen Haken bei der Sache."

Sie runzelte misstrauisch die Stirn.

„Nämlich?"

„Die Künstler, mit denen wir drehen."

Cassie seufzte, denn sie verstand auch ohne, dass Malia ins Detail ging.

„John?"

„Ich weiß, dass das für dich ein Ausschlusskriterium sein könnte. Aber für die Kohle und die Referenz wollte ich dich wenigstens vorher fragen, bevor ich Enisa anrufe", antwortete Malia.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist", warf sie skeptisch ein.

„Aber gerade jetzt kannst du das Geld gut gebrauchen", erwiderte Malia.

„Stimmt, doch wenn ich mich da halbnackt präsentiere und meinen Arsch in die Kamera halte, geht mir vielleicht an anderer Stelle Geld verloren", sagte sie.

„Du musst dich da nicht ausziehen. Es geht nur ums Tanzen. Der Song geht so in Richtung Afro-Trap und Dancehall", versicherte Malia ihr.

Plötzlich kam es Cassie wie ein Zeichen vor, dass sie heute ausgerechnet seinem Freund am Flughafen begegnet war.

„Okay, kann ich eine Nacht darüber schlafen? Ich würde dir direkt morgen früh Bescheid sagen."

Nachdem sie aufgelegt hatte, fiel es ihr schwer, ihre Gedanken zu ordnen.

John.

Seit ihrer Trennung hatte sie ihn nicht mehr gesehen; jedenfalls nicht mehr absichtlich. Dass er sie nicht mehr geliebt hatte, hatte ihr das Herz gebrochen, denn ihre Liebe war nicht einfach so verschwunden; im Gegenteil. Sie hatte ihn noch genauso sehr geliebt wie am ersten Tag. Ihr hatte es den Boden unter den Füßen weggerissen, ihn gehen zu lassen, und sie hatte über ein Jahr gebraucht, um sich davon zu erholen.

Doch diese Erfahrung mit ihm hatte sie so sehr geprägt, dass sie seitdem nie wieder einen Menschen so nah an sich heran und so tief in ihr Herz gelassen hatte. Sie wollte sich nie wieder so schlecht fühlen. Aber das war jetzt ziemlich genau vier Jahre her. Inzwischen lösten die Gedanken an John nichts Schlechtes mehr aus. Sie hatte die Trennung für sich verarbeitet und mit ihm abgeschlossen; ihm zu begegnen, sollte für sie kein Problem mehr darstellen. Vielleicht war es nur fair, dass, nachdem sie ihn immer in seiner Musik unterstützt hatte, sie am Ende doch noch irgendetwas für sich mitnehmen konnte; und wenn es nur ein Musikvideo war, das sie als weitere Referenz nutzen konnte.

Inzwischen musste sie nicht mehr nebenbei in einer Tanzschule arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Durch ihre vielen Erfolge waren irgendwann Sponsoren auf sie aufmerksam geworden und hatten damit begonnen, die für Veranstaltungen mit Klamotten auszustatten. Über Sponsoren war sie schließlich an größere Werbedeals gekommen und verdiente mittlerweile genug Geld mit ihren Kursen und den Jobs für unterschiedliche Auftraggeber, dass sie davon leben konnte. Momentan spielte sie mit dem Gedanken, ihre Energie in etwas Eigenes zu stecken, musste jedoch noch genau kalkulieren, wie viel Geld sie das kosten würde und wie sie das realisieren konnte.

Nach einer gefühlt endlosen Suche hatte sie endlich Räumlichkeiten gefunden, die sie sich mit Unterstützung ihres Sponsors leisten konnte. Das helle Tanzstudio lag in der Altstadt, mitten im Zentrum, war also gut an öffentliche Verkehrsmittel angebunden und damit gut erreichbar. Außerdem gab es Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten direkt um die Ecke. Die insgesamt vier teils großen Räume boten viele Möglichkeiten und sie gestaltete sie bereits in ihrem Kopf, auch, wenn sie bisher keine feste Zusage hatte.

Neben der Planung eines eigenen Studios unterstützte sie zurzeit ein kleines Team bei der Organisation von einem Dance-Battle in Hamburg, das in ein paar Monaten stattfinden würde. Sie hatten es noch nicht bekanntgegeben, doch sie würde mit zwei anderen Tänzern in der Jury sitzen. Genau wie Johns Leben hatte sich das von Cassie in den vergangenen Jahren ziemlich schnell weiterentwickelt.

Trotzdem wusste sie nicht, ob sie wirklich bereit dazu war, mit John auf einer professionell-beruflichen Ebene zusammenzuarbeiten. Vielleicht würde das auch Probleme geben.

Das Klingeln an ihrer Wohnungstür riss sie aus ihren Gedanken. Sie legte ihr Smartphone zur Seite, stand auf und lief in den Flur. Dort griff sie nach dem Hörer der Gegensprechanlage.

Wie hat euch das erste Kapitel nach dem Zeitsprung gefallen? Ich bin gespannt :D

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