2 | 02 | Shawn

Ich wünsche euch viel Spaß beim 2. Kapitel

„Cassie? Wie schön, dass ich dich endlich gefunden habe!"

Sie atmete tief durch und setzte ein freundliches Lächeln auf, als sie zu der schrillen Stimme hinter sich herumfuhr. Sie hatte die große Frau mit schokoladig-goldenem Teint und den blondierten Haaren bereits auf dem Standesamt bemerkt, doch bis jetzt war es ihr ganz gut gelungen, ihr auszuweichen.

Schon auf dem Junggesellinnenabschied vor einer Woche war ihr die junge Frau mit ihrem affektierten Getue auf die Nerven gegangen, doch Junelle war Alessas Schwägerin, also wollte Cassie nicht unfreundlich zu ihr sein.

Mittlerweile hatten sie die Eventlocation erreicht, in der die Hochzeitsfeier von Alessa und Jalil stattfand. Über die offenstehende, etwa drei Meter breite Terrassentür war sie auf eine wunderschön dekorierte, mit Bankirai-Holz ausgelegte Terrasse gelangt. Hier luden moderne, weiße Lounge-Möbel zum Verweilen ein. Doch auch der angrenzende Innenraum war wunderschön hergerichtet. Riesige, bodentiefe Fenster ließen viel Tageslicht hinein und gaben den Blick auf einen begrünten Hof frei. Die Deko-Wände waren schlicht in Weiß gehalten, der Boden perlmuttfarben lackiert. Ein optischer Blickfang waren die orange Polsterwand, der variabel verschiebbare Tresen und die großformatigen, zylindrischen Lampen. Der gesamte Raum war mit indirektem LED-Licht ausgestattet. Auf beiden Seiten des Raumes befanden sich jeweils ein großer Screen, auf dem im Laufe des Abends vermutlich Visuals aller Art abgespielt wurden.

„Hey", lächelte Cassie, als Junelle sie erreichte, und strich über ihr türkisfarbenes, knielanges Kleid, das sie mit mörderischen Stilettos kombiniert hatte.

„Du siehst echt unglaublich aus", strahlte Junelle, doch es wirkte unehrlich. Mittlerweile lernte Cassie durch ihre verschiedenen Jobs unglaublich viele Menschen kennen und durchschaute ein Fake-Lächeln inzwischen sofort.

„Danke, du auch", gab sie trotzdem zurück und deutete auf Junelles fliederfarbenes Chiffonkleid.

„Hast du unseren Tisch schon gefunden?", fragte sie und musterte Cassie aufmerksam.

Sie wusste nicht, wie sie den Abend überstehen sollte, doch als Trauzeugin saß sie unmittelbar am Tisch des Brautpaares; ebenso wie Junelle inklusive ihres gesamten Anhangs.

„Ja. Aber ich muss mich jetzt kurz um den Sektempfang kümmern", sagte sie und schenkte ihrem Gegenüber ein entschuldigendes Lächeln, bevor sie sich abwandte und im Hochzeitssaal verschwand.

Als sie jedoch während des Abendessens mit der Familie des Brautpaars am Tisch saß, konnte sie der Unterhaltung mit Jalils Familie nicht mehr entgehen. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass John sie ausgerechnet heute tatsächlich hängenließ. Schämte er sich gar nicht?

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, was du genau beruflich machst", stellte Junelle neugierig fest, so, als wäre es eine wichtige Information, die ihr bis dahin vorenthalten worden war.

„Geht dich nichts an", wollte Cassie antworten, riss sich jedoch Alessa zuliebe zusammen. Schließlich sollte sie sich nicht für ihre Freundin schämen müssen. Aber sie hatte Junelle einfach durchschaut und wusste, dass sie sich an diesem Wissen ergötzte und es später an ihre Freundinnen am Nebentisch weitertratschen würde, sobald sie die Gelegenheit dazu bekam. Sie hatte Alessas Schwägerin bereits während des Junggesellinnenabschieds nur mit den nötigsten Informationen gefüttert; gerade ausreichend, um sie bei Laune zu halten und um für Alessa den Schein zu wahren.

„Ich bin selbstständig", antwortete sie deshalb so vage wie möglich.

„Wow, mit was?", fragte die Fake-Blondine mit dem ovalen Gesicht und den braunen Knopfaugen.

„Ich bin Tänzerin."

Junelles Blick glitt kurz zu Cassies üppiger Brust, bevor sie Cassie mit einem gekünstelten Lächeln auf den Lippen und einem abfälligen Funkeln in den Augen anschaute. Es war offensichtlich, dass sie davon nicht viel hielt. Sie hatte sie gerade endgültig in die Schublade „billiges Flittchen" gesteckt. Cassie seufzte lautlos. Wie konnte ein so netter, lockerer Typ wie Jalil nur eine so ätzende Schwester haben?

„Achso", sagte Junelle knapp, bevor sie an ihrem Weinglas nippte.

Sie unterdrückte ein Augenrollen. Cassie sah sich währenddessen nach einem angenehmeren Gesprächspartner um.

„Cassie hat eine eigene Tanzschule", mischte sich jetzt Alessa von der gegenüberliegenden Seite des Tisches ein. „Hier in Hamburg?", fragte Jalils Mutter, doch Cassie war sich sicher, dass dieses Interesse eher geheuchelt war. Im Gegensatz zu Jalils Vater war sie weiß und schien – im Gegensatz zu dem etwas flippigen Nigerianer – eine gewisse Steifheit in die Familie zu bringen. Jalils Vater musste sich in den vergangenen Jahrzehnten seiner Frau angepasst haben, denn er schien sein Naturell in ihrer Anwesenheit regelmäßig zu zügeln. Anders konnte Cassie es sich nicht erklären, dass Jalil und sein Vater sehr lockere Typen waren, seine Mutter und seine Schwester jedoch eher konservativ schienen. Ihr waren die missbilligenden Blicke jedenfalls nicht entgangen.

„Ja, sehr zentral gelegen", erwiderte sie dennoch höflich und lächelte einmal mehr ihr Unwohlsein weg.

„Ich will meine Kids auch bald in einer Tanzschule anmelden, aber ich wollte noch warten, bis sie aus dem Kindergarten raus sind", offenbarte Junelle überflüssigerweise und deutete auf die beiden kleinen Mädchen, die gerade dabei waren, mit ihren Fingern im Essen herumzumatschen. Cassie hatte nichts gegen Kinder, aber diese beiden waren einfach schlecht erzogen. Sie waren vorlaut, quatschen dazwischen, wenn sie nicht gefragt waren und fielen ständig durch ihr lautes Gekreische auf. Doch Junelle sah offenbar keine Notwenigkeit, ihre zwei Biester zu sanktionieren. Ihr Spießertum schien sich also lediglich auf die außer-familiäre Umwelt zu beschränken.

Cassie nickte desinteressiert, schaute sich ein weiteres Mal nach einer potenziellen Rettung um.

„Habt ihr auch einen Kinderkurs in der Tanzschule?"

„Ja, ab drei Jahren. Aber der ist leider schon sehr überlaufen", sagte Cassie mit einem freundlichen Lächeln.

„Wie niedlich", sagte Junelle verzückt, „Sobald die beiden in die Schule gehen, will ich auf jeden Fall wieder arbeiten. Ich kann das echt nicht mehr, die ganze Zeit nur zuhause mit den beiden. Also meine ganzen Mutti-Freundinnen sagen alle, dass ich sie nicht mehr alle habe und können mich gar nicht verstehen, aber ich will auf jeden Fall wieder arbeiten gehen. Alessa wird bestimmt genauso", sagte Junelle jetzt und fuhr sich mit ihren Fingern durch ihre steinharten Haarspray-Locken, bevor sie affektiert auflachte.

Wen auch immer ihre langweilige Hausfrauen-Geschichte interessieren sollte – Cassie langweilte sie. Außerdem war sie genervt davon, dass sie sich das Recht herausnahm, darüber zu urteilen, wie Alessa sich um ihr ungeborenes Kind kümmern würde. Cassie verkniff sich ihrer Freundin zuliebe wieder einmal einen entsprechenden Kommentar, auch, wenn Alessa selbst bereits einen skeptischen Blick über den Tisch warf.

„Ich hoffe ja ehrlich gesagt, dass das mit den Kindern noch etwas dauert", lächelte Alessa tapfer.

Jalil, der neben ihr saß, legte sanft seine Hand auf ihre und schenkte ihr ein mildes Lächeln. Der große Dunkelhaarige mit den dunklen Augen, dem gepflegten Dreitagebart und dem muskulösen Körper passte optisch wirklich perfekt zu ihr; und auch sonst schien er sie in den letzten drei Jahren sehr glücklich zu machen. Cassie freute sich sehr für ihre Freundin, dass sie tatsächlich ihre große Liebe gefunden hatte; so, wie sie selbst John. Seit sie vor etwas mehr als zwei Jahren wieder zusammengefunden hatten, genoss sie jede Sekunde mit ihm. Er gab ihr ein gutes Gefühl, war immer für sie da und unterstützte sie nach wie vor darin, ihre Ziele zu erreichen; meistens jedenfalls. Heute machte es den Anschein, als ob er sie hängen ließ.

Wo steckte er denn so lange?!

Sie zog ungeduldig ihr Handy aus der Clutch und warf einen Blick auf das gerissene Display. Genau genommen war es das von John, denn ihr eigenes war ihr schon vor Wochen kaputt gegangen. Es war durch Johns teils exzessiven Gebrauch stark abgenutzt, doch für sie reichte es aus.

„Bin gleich da, Löckchen."

Sie strich ihre dunklen Haare nach hinten. Gleich. Dabei hatte er bereits vor über zwei Stunden hier sein wollen. Er hatte einfach keine Lust auf diese Feier und sie wusste das. Andersrum hätte sie sich nie so aus der Affäre gezogen, um ihn nicht vor anderen in eine unangenehme Situation zu bringen.

„Hat er sich mittlerweile gemeldet?"

Alessas Stimme ließ sie aufschauen.

„Ja. Er ist gleich da", antwortete sie und steckte das Handy in ihre Clutch zurück, ohne auf Johns Nachricht antworten.

„Cassie, kannst du mal kurz kommen?"

Yvette, eine von Alessas Cousinen, war an den Tisch herangetreten. Sie hatte genau wie Cassie wilde Locken und trug ein lilafarbenes Kleid, das ihre weibliche Figur gekonnt in Szene setzte. Auch, wenn Cassie sich nur oberflächlich gut mit ihr verstand, schenkte sie ihr ein erleichtertes Lächeln und nutzte die Gelegenheit zur nicht allzu offensichtlichen Flucht.

„Was ist los?", fragte sie Yvette, während sie ihr an den Tischen und am Buffet vorbei in Richtung Terrasse folgte.

„Mit dem Fotoapparat stimmt was nicht", sagte sie und lotste Cassie zu der Fotoecke, in der die Hochzeitsgäste per Selbstauslöser witzige Erinnerungsfotos für das Brautpaar schießen konnten.

„Ich bin jetzt auch kein Profi", erwiderte Cassie, als sie die Fotoecke erreichten. Immerhin war das Willows Kamera und sie hatte sie lediglich ausgeliehen, jedoch nicht viel Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Ein großer Dunkelhaariger mit dunkelbraunen Augen und Dreitagebart in blauer Anzughose und weißem Hemd hantierte bereits nervös an der Kamera auf dem Stativ herum. Er wirkte dabei ziemlich unbeholfen.

„Hast du's hinbekommen?", fragte Yvette, doch der Dunkelhaarige schüttelte frustriert den Kopf.

„Nee, irgendwie funktioniert der Selbstauslöser nicht mehr."

„Soll ich mal gucken?"

Er warf Cassie einen dankbaren Blick zu, bevor er ihr die kleine Fernbedienung in die Hand drückte. Sie montierte die Kamera ab und ließ sich auf einen der Lounge-Sessel fallen. Der Dunkelhaarige beobachtete sie, während sie versuchte, die Fernbedienung wieder mit der Kamera zu koppeln. Sie biss genervt die Zähne zusammen. John wusste ganz sicher, wie das ging. Aufmerksam kniete der Namenlose sich neben sie und schaute fasziniert auf Cassies perfekte Fingernägel, die über die Kameraeinstellungen tickerten und ab und zu auf den Knopf der Fernbedienung drückten.

„Ich glaub, jetzt geht's", sagte sie, als sie das kleine, zugehörige Symbol im Display der Kamera aufleuchten sah.

„Sollen wir es mal ausprobieren?", fragte er und nahm ihr die Kamera wieder aus der Hand, um sie auf dem Stativ zu montieren. „Klar", sagte sie, ging vor der Kamera in Position und warf ihm einen Blick zu.

„Kann ich?"

Er nickte und vergrub eine Hand in der Tasche seiner blauen Anzughose, während er seinen Blick starr auf das Kameradisplay richtete. Cassie machte irgendeine bescheuerte Pose und betätigte den Auslöser der Fernbedienung. „Und?"

Der Dunkelhaarige lächelte amüsiert angesichts ihrer Pose.

„Klappt tatsächlich", bestätigte er.

Sie grinste, dann gab sie ihm die Fernbedienung zurück.

„Dann kannst du ja jetzt allein weitermachen."

„Danke", sagte er und schenkte ihr ein weiteres Lächeln. Er war wirklich sympathisch.

„Kein Problem."

„Ich bin übrigens Shawn", sagte er, als sie sich gerade von ihm abwenden wollte, und hielt ihr seine Hand hin.

„Cassie", sagte sie und schüttelte kurz eine Hand.

„Du gehörst zu Alessa, oder?", hakte er nach.

Sie nickte.

„Und du?"

„Ich bin Jalils Cousin", offenbarte er ihr, „Ich hab dich schon den ganzen Tag beobachtet. Du bist allein hier, oder?"

Er hatte sie beobachtet? Sie wusste nicht, ob sie das süß oder unheimlich finden sollte.

„Um ehrlich zu sein, habe ich einen Freund", erwiderte sie trotzdem.

„Autsch", lachte er. Selbst jetzt, als sie ihm einen offensichtlichen Korb gab, verlor er sein Lächeln nicht. Das machte ihn sympathisch.

„Wo steckt er denn den ganzen Tag?"

„Er hat noch ein paar Termine", antwortete sie knapp.

„An einem Samstag?"

„Business-Termine."

Sie fuhr überrascht herum, als sie Johns Stimme hörte. Er stand hinter ihr, in einem eleganten, schwarzen Anzug, weißem Hemd und dunkler Krawatte, und schaute aus seinen blauen, leicht geröteten Augen auf sie herab. Selbst für Cassie als seine langjährige Freundin ein ungewohnter Anblick. Seinen Bart hatte er frisch gestutzt. Er sah so unglaublich anders aus, dass sie kurzzeitig vergaß, wie wütend sie eigentlich auf ihn war. Dabei sollte sie ihn dafür schlagen, dass er sie so lang hatte warten lassen, doch jetzt war sie einfach nur dankbar, dass er sie aus dieser unangenehmen Situation befreite. Als sein Blick auf Shawn fiel, verdunkelte er sich bedrohlich. 

Und, wie hat euch das zweite Kapitel gefallen? Schreibt es gern in die Kommentare ❤

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