15 | Unheimlich

Für meine Tulpen das neue Kapitel. Ich wünsche euch viel Spaß :) Liebe für alle. 

2011.

„Komm, Shorty, wir hauen ab."

Cassie schenkte John ein dankbares Lächeln. Ihr ging es bereits den gesamten Abend nicht gut und sie war nur so lang geblieben, weil es der Auftritt ihres Freundes gewesen war. Inzwischen wurden sie auch in anderen Städten gebucht und sie hatte ihn heute nach Bremen begleitet.

Als sie aus der Halle in die kühle Abendluft hinaustraten, fühlte Cassie sich etwas besser, doch es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis ihr erneut der Schweiß auf der Stirn stand.

„Du siehst echt nicht gut aus", sagte John leise, als er sie von der Seite betrachtete.

„Geht schon", log sie und schaute sich suchend nach Martens Wagen um. Er hatte zugesagt, sie zum Hotel zu fahren, während die anderen noch irgendwo feiern gingen.

„Vielleicht hast du die Mische nicht vertragen. Toni hat dir echt viel reingekippt", räumte John ein.

„Du hast mir zu viel reingekippt", erwiderte sie ernst und konzentrierte sich auf ihre Atmung, um den Würgereiz und den Schwindel zu vertreiben.

„Fahr ruhig mit den anderen mit, ich gehe sowieso nur noch schlafen", sagte sie, doch er schüttelte entschieden den Kopf und schlang seine Arme um ihren Körper. Sie schloss ihre Augen und genoss einen Moment seine Nähe. Sie atmete tief durch, als die nächste Welle der Übelkeit heranrollte und sie innerhalb weniger Sekunden fest im Griff hatte. Es gelang ihr gerade noch, sich von ihm zu lösen und ein Stück zurückzutreten.

„Hey...", hörte sie seine Stimme sagen, während seine warmen Hände nach ihren griffen. Es war das letzte, was sie realisierte, bevor sie sich geradewegs auf seine Sneakers übergab.

„Scheiße, ist mir das peinlich.", nuschelte sie einmal mehr in ihr Kissen hinein. Seine Hand strich sanft über ihren Rücken.

„Schon okay, Shorty. Sind nur Schuhe. Willst du noch einen Schluck?", fragte er leise, doch sie schüttelte nur den Kopf. Ihr war noch immer schlecht, aber es hielt sich in Grenzen. Seitdem sie im Bett lag, hatte der Schüttelfrost auch langsam nachgelassen.

„Danke", sagte sie leise und griff nach seiner Hand.

„Wofür?"

„Dass du da bist", erwiderte sie leise jammernd und zog sich die Bettdecke ins Gesicht, „Auch wenn ich mich jetzt nie wieder irgendwo sehen lassen kann."

Er zog ihr die Decke aus den Fingern.

„Wenn du dich dann besser fühlst verspreche ich dir, die Sache mit den Schuhen für mich zu behalten."

Sie seufzte theatralisch.

„Marten weiß es."

„Marten sagt niemandem etwas", versprach John.

„Zum Glück habe ich ihm nicht ins Auto gekotzt", sagte sie.

Sie schwiegen und er hielt sie einfach nur im Arm. Vielleicht war es in letzter Zeit alles etwas viel für sie; der neue Job, der Stress mit ihrer Mutter, seine ständige Abwesenheit wegen der Musik, all die Weiber, die sich ihm momentan an den Hals warfen und dann auch noch diese ominöse Sache mit der Telefonnummer, die sich bis heute nicht aufgeklärt hatte. Es hatte jedoch seitdem auch keine weiteren seltsamen Vorfälle mehr gegeben.

Johns Hand strich sanft über ihren Bauch und er lächelte, als Cassie sich ihm zudrehte und ihre Augen langsam wieder aufschlug. Sie biss sich auf die Unterlippe. John zog sie zu sich heran, doch bevor er sie küssen konnte, drehte sie beschämt ihren Kopf weg. Er wusste, dass es ihr unangenehm war, ihn zu küssen, auch, wenn sie sich inzwischen die Zähne geputzt hatte.

„Mich stört das nicht, Shorty", versicherte er ihr, dann presste er entschieden seine Lippen auf ihre. Sie ließ es geschehen, erwiderte den Kuss jedoch nicht. Also ließ er von ihr ab.

„Mach die Augen zu...", forderte er leise und schob einen Arm unter ihren Kopf, „Versuch zu schlafen."

Am nächsten Morgen wachte sie mit Johns leiser Stimme im Ohr auf. Er schien mit jemandem zu telefonieren, doch sie war noch zu müde, um die Unterhaltung zu verfolgen. Es gelang ihr gerade mal, ihm müde entgegenzublinzeln. Er schenkte ihr ein Lächeln und sie erwiderte es.

„Wir kommen gleich runter", sagte er zu seinem Gesprächspartner, bevor er das Telefonat beendete.

„Wie fühlst du dich?", fragte er.

Sie setzte sich langsam auf. Das Gefühl der Übelkeit war schlagartig wieder da.

„Beschissen", sagte sie.

Er küsste sie trotzdem.

„Ruh dich aus, ich packe alles zusammen. Danach müssen wir auschecken, okay?"

„Deine Mama hat echt einen guten Job mit dir gemacht", sagte sie leise.

Er lachte.

„Warum?"

„Weil du dich so um mich gekümmert hast letzte Nacht", sagte sie.

„Ich hab dir doch versprochen, dass ich immer auf dich aufpasse."

Auch, als sie ein paar Stunden später gefolgt von John die Treppenstufen zu ihrer Wohnung hinaufging, sah Cassie nicht besser aus. Wahrscheinlich hatte sie sich wirklich einen fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen. Doch viel schlimmer war für sie offenbar, dass sie seine Schuhe ruiniert hatte. Jedenfalls hörte sie gar nicht auf, sich dafür zu entschuldigen.

Seufzend schob sie ihren Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür und drehte ihn herum. Einen kurzen Moment hielt sie inne. Lag es an ihrer Gesundheit, dass sie plötzlich so zu frieren begann, oder war es wirklich frisch hier?

Aus dem Hausflur fiel ein wenig Licht ins Dunkel ihrer Wohnung, doch viel konnte sie nicht erkennen. Also machte sie einen weiteren Schritt in die Wohnung hinein und tastete nach dem Lichtschalter. Dann wurde es hell im Flur ihrer Wohnung und sie ließ John herein. Er schloss die Tür hinter sich, während Cassie ihre Sneakers und die Jacke auszog.

„Soll ich uns was zu Essen besorgen?", fragte er.

Sie schüttelte vorsichtig den Kopf.

„Nee, ich lege mich direkt hin", sagte sie.

Er trug die kleine Reisetasche ins Schlafzimmer und stellte sie dort ab. Sie folgte ihm und tauschte ihre Leggings und den Pullover gegen einen gemütlichen Jogginganzug.

„Sag mal, warst du hier dran?", fragte sie und deutete auf die kleine Schublade, in der sie ihre Unterwäsche und das Sexspielzeug aufbewahrte.

„Nee, was soll ich mit deinen Dessous? Die zieh ich dir sowieso aus", grinste er und ließ sich auf ihr Bett sinken.

„Ich meine es ernst."

Der seltsame Gesichtsausdruck in ihrem Gesicht beunruhigte ihn.

„Was ist los?"

„Ich hab doch extra für dich diese roten Sachen gekauft", sagte sie und begann, in ihrer Unterwäscheschublade zu wühlen. Johns Lippen verzogen sich zu einem bedächtigen Grinsen. Natürlich erinnerte er sich daran.

„Die sind echt heiß", kommentierte er.

„Sie sind aber nicht mehr da."

Er runzelte die Stirn.

„Vielleicht fliegen die irgendwo bei mir rum, oder du hast sie gewaschen", sagte er.

Sie schüttelte entschieden den Kopf.

„Das wüsste ich wohl", gab sie zurück.

Er zuckte mit den Schultern.

„Werden schon wieder auftauchen", sagte er und streckte ihre Hand nach ihrer aus.

„Es fehlt aber noch was", sagte sie.

„Was denn?"

„Mein Vibrator."

Er schüttelte den Kopf.

„Ich versteh eh nicht, wozu du den hast. So, als besorge ich es dir nicht heftig genug", sagte er.

„Okay, zumindest der ist noch da", sagte sie, bevor sie ihn John entgegenhielt.

„Leg den Scheiß weg. So lang ich hier bin, brauchst du den nicht", sagte er entschieden, zog sie endgültig auf seinen Schoß und sie ließ das Sexspielzeug wieder in die offenstehende Schublade fallen. Mit einem frechen Grinsen strich er ihre Locken nach hinten. „Meinst du, einmal geht, oder musst du dann wieder kotzen?"

Am selben Abend saß John auf Cassies kleinem Balkon und rauchte einen Joint. Sie hatte sich etwas hingelegt und er dachte darüber nach, doch noch ins Studio zu fahren und ein paar Sachen zu besprechen. Er lächelte zufrieden und warf vom Balkon einen Blick ins Schlafzimmer. Es schien ihr endlich wieder besser zu gehen, jedenfalls hatte sie sich nicht mehr übergeben und auch die Übelkeit schien verflogen.

Er zog sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Keine Anrufe. Keine Nachrichten. Eigentlich ein perfekter Tag, es dabei zu belassen, sich zu ihr ins Bett zu legen und einfach mal Zeit mit ihr zu verbringen. Ein leises Geräusch ließ ihn herumfahren. Cassie stand nur in Shirt und Shorts im Türrahmen und lächelte müde. Er erwiderte es, dann griff er nach ihrer Hand und zog sie zu sich.

„Ich hab keine Schuhe an", sagte sie leise.

„Nur kurz, bis ich aufgeraucht hab", sagte er und sie setzte sich auf seinen Schoß. Dabei schlang er einen Arm um ihren Körper.

„Kommst du eigentlich übermorgen zu Willows Geburtstag?", fragte sie.

„Weiß nicht, wir drehen das nächste Video und ich muss noch ein paar Sachen dafür besorgen. Aber eine Stunde schaffe ich bestimmt", antwortete er.

„Braucht ihr noch Hilfe?"

Er schüttelte den Kopf, fand es aber schön, dass sie fragte.

„Nein, außerdem sollst wenigstens du mit deiner kleinen Schwester Geburtstag feiern", erwiderte er.

Sie schwiegen einen Augenblick.

„Ich hab mir übrigens das Wochenende geblockt mit Berlin", sagte er und zog noch einmal an dem Joint zwischen seinen Fingern. Sie lächelte.

„Echt? Cool", sagte sie.

„Keinen Bock, dass irgendeiner von diesen Tänzer-Spastis dich wieder anbaggert, weil sie denken, wir hätten uns getrennt. Rachid zum Beispiel, dieser Spast."

Sie wusste, dass er in erster Linie mitkam, um sie beim nächsten Battle zu unterstützen. Dass er dabei auch ein Auge auf sie haben konnte, war nur ein angenehmer Nebeneffekt.

„Du weißt genau, dass ich nicht auf ihn stehe", sagte sie besänftigend.

Er runzelte die Stirn.

„Aber er auf dich; so, wie er dich immer ansieht. Wenn er dich bei der Begrüßung wieder so komisch betatscht, hacke ich ihm seine beschissenen Finger ab."

Sie schmunzelte.

„Er hat das nicht mit Absicht gemacht."

„Rede das nicht schön. Dein Arsch ist so weit unten, dass kein Mann da aus Versehen drangrabscht, wenn er dich umarmt."

Sie seufzte.

„Er hat sich direkt dafür entschuldigt", erinnerte sie ihn.

„Weil er gesehen hat, wie ich ihn beobachtet habe und wusste, dass ich ihm gleich sein Gesicht breche, wenn er nicht mit dem Scheiß aufhört", korrigierte er ihre Version der Situation.

Sie lächelte.

„Was?", knurrte er.

„Nichts. Ich finde es einfach nur schön, dass du auf mich aufpasst", erwiderte sie wahrheitsgemäß. Auch er lächelte.

„Normal passe ich auf dich auf. Du bist doch auch meins."

Sie strich mit ihren Fingern über sein Gesicht und drückte ihm einen Kuss auf.

„Dann müssen wir für dich noch ein Zimmer buchen", sagte sie.

„Nee, und du kannst deins gleich mit stornieren. Wir pennen bei Kontra. Hab ihn schon gefragt und er meinte, das wäre kein Problem", offenbarte er ihr.

Sie wollte gerade etwas erwidern, als eine Bewegung in ihrem Augenwinkel ihre Aufmerksamkeit erregte. Auf dem gegenüberliegenden Balkon erkannte sie die Silhouette ihres Nachbarn in der Dunkelheit. Auch John hatte ihn gesehen. „Hat der ein Problem?"

Doch der Mann in den Vierzigern mit den dunklen Haaren und der hageren Statur stand einfach nur so dort und beobachtete sie. Cassie erschauderte und rutschte von Johns Schoß, als er seinen Blick nicht von ihnen abwandte. „Lass uns reingehen", sagte sie und nahm seine Hand.

John reagierte jedoch nicht, sondern blieb sitzen und erwiderte den durchbohrenden Blick des Mannes. In aller Ruhe zog er ein letztes Mal an seinem Joint, ohne seinen Blick von seinem Gegenüber abzuwenden. Erst jetzt sah er, dass ihr Nachbar seinen Blick zwar in seine Richtung gewandt, jedoch Cassie fixiert hatte und ihren Körper in diesem knappen Outfit betrachtete. John stand auf, schob sich zwischen ihn und seine Freundin und nahm ihm so die Sicht auf sie.

„Was guckst du so?"

Erst, als John ihn mit eiskalt schneidender Stimme ansprach, wandte er seinen Blick von den beiden ab. John schob Cassie schützend ins Innere der Wohnung und schloss die Tür hinter sich, bevor er die Vorhänge zuzog. Erst jetzt sah er Cassies beunruhigten Blick.

„Echt unheimlich, wie der uns beobachtet hat", sagte sie nachdenklich.

„Heute haben wir ihn auf keinen Fall gestört", stellte John klar.

„Ich glaube, der mag mich einfach nicht", seufzte sie, als sie auf ihr Bett fiel.

John blieb im Türrahmen stehen, als ihm auf einmal alles klar wurde.

„Falsch. Der mag dich viel zu sehr."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top