12 | Jahrestag

Ich weiß nicht, ob das nächste Kapitel etwas Licht ins Dunkel bringt, aber es ist immerhin wieder ziemlich lang geworden. Danke an all meine Sternchen-Verteiler. Liebe euch.

2010.

„Hör endlich auf, vor mir wegzulaufen", forderte John energisch, doch Cassie lief weiter die kaum befahrene Straße entlang, ohne ihn anzusehen. Es war bereits spät am Abend, die Sonne war längst untergegangen und es hatte sich abgekühlt. Doch immerhin war der Schnee endlich gewichen, auch, wenn der leichte Nieselregen es nicht besser machte.

„Du hast mir versprochen, dass du mit der Scheiße aufhörst", erinnerte sie ihn enttäuscht an seine eigenen Worte, ohne ihn anzuschauen.

John seufzte schwer.

„Ich habe dir gar nichts versprochen."

Cassie stieß einen verächtlichen Laut aus.

„Du bist einfach unglaublich. Als hätte ich nicht gerade genug Scheiße im Kopf wegen meinem Vater", erwiderte sie.

John wurde weich. Er wusste, wie sehr sie darunter litt, dass ihr Vater sie mittlerweile wieder fallengelassen hatte.

„Ich hab das alles im Griff. Vertrau mir", versicherte er ihr.

„Das haben schon so viele gesagt und sind dann aufgeflogen", hielt sie dagegen.

„Ich weiß genau, was ich da tue, okay?"

„Klar. Hast ja schließlich schon jahrelange Erfahrung mit der Tickerei", gab sie trocken zurück.

„Schrei das doch noch lauter über die Straße", zischte er aufgebracht.

„Verstehst du nicht, dass ich mir einfach nur Gedanken mache?", fragte sie enttäuscht.

„Genau deshalb wollte ich nicht, dass du davon erfährst", seufzte er.

Sie musterte ihn enttäuscht. Vermutlich würde sie es noch immer nicht wissen, wenn sie nicht vor ein paar Monaten an Weihnachten zufällig das Zeug in seinem Rucksack gefunden hätte.

„Genauso wenig wie von diesem Mädchen, nehme ich an", gab sie verletzt zurück.

„Jetzt geht das schon wieder los. Du musst mir ja nicht glauben, Digga", erwiderte er genervt.

„Tu ich auch nicht", erwiderte sie trotzig, bevor sie ihren Weg fortsetzte.

„Man, Shorty, jetzt hör auf damit", sagte er, dann folgte er ihr.

„Nenn mich nicht so!"

„Komm schon, Cas. Das steht dir nicht", sagte er.

Cassie schaute ihn nicht an.

„Verdammt, bleib stehen!", forderte er energisch, umfasste ihren Oberarm und wirbelte sie zu sich herum. Sie musterte ihn angriffslustig.

„Ach, du hast deine Eifersucht nicht im Griff, aber mir steht das nicht?", fragte sie und machte sich los.

John baute sich vor ihr auf und schaute auf sie herab. Doch auch, wenn er so viel größer war als sie, konnte er sie nicht einschüchtern.

„Ich hab echt nichts mit diesem Mädchen", versicherte er ihr.

Cassie schaute zur Seite; nicht, weil sie seinem Blick nicht standhalten konnte, sondern, weil sie keine Lust hatte, ihn anzusehen.

„Ich hab es dir vor Monaten schon gesagt: wenn das nicht aufhört, fange ich auch an, mit Typen abzuhängen", sagte sie provokant.

„Überleg dir gut, was du machst, Shorty."

Cassie lachte verächtlich.

„Sonst was? Rufst du mich wieder zwei Wochen nicht an und triffst dich mit irgendwelchen Schlampen auf dem Kiez?"

„Wenn du weiter so nervst, mach ich das vielleicht echt", gab er beleidigt zurück.

„Fick dich, John."

Mit den Worten ließ sie ihn stehen. Das zweite Mal an diesem Abend, mit genau denselben Worten.

„Hör endlich auf, fick dich zu mir zu sagen!", schrie er ihr wütend hinterher. Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und streckte ihm den Mittelfinger entgegen. „Fick dich zweimal, John!"

„Fick du dich!", hallte seine Stimme durch die Nacht, doch ein zweites Mal folgte er ihr nicht. Sie wusste das. Sie kannte ihn schließlich. Manchmal hasste sie ihn für seine Sturheit, aber heute war es ihr tatsächlich egal.

Sie war enttäuscht und verletzt, auch, wenn sie ihm vielleicht gerade Unrecht tat. Vielleicht hatte er wirklich nichts gemacht, doch es hatte Cassie gestört, wie dieses Mädchen ihn angeschaut hatte, als sie ihnen vorhin zufällig über den Weg gelaufen war. Er hatte sie kennengelernt, als er sich nach einem Streit mit Cassie zusammen mit den Jungs auf dem Kiez herumgetrieben hatte.

Je erfolgreicher er mit seiner Musik wurde, desto mehr Mädchen schauten ihn auf genau diese Art und Weise an und auch, wenn sie ihm seine Eifersucht in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen hatte, konnte sie sich selbst davon nicht freimachen. Das einzig Positive war vielleicht, dass John noch viel eifersüchtiger war als sie selbst.

Sie zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu und zog sich das Halstuch tief ins Gesicht. Sie hoffte, dass sie nicht lang auf den Bus warten musste, denn sie fühlte sich allein nicht wohl. Sie war direkt noch wütender auf ihn, schließlich wusste er, dass sie Angst davor hatte, spät abends oder nachts allein nach Hause zu laufen. Deshalb brachte er sie meistens bis zur Tür; entweder mit irgendeinem Freund oder allein. Doch dass er sie heute im Stich ließ, hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Immerhin hatte sie den Streit mit ihm vom Zaun gebrochen, nachdem sie diesem Mädchen begegnet waren.

Cassie war froh, dass an der nur schwach beleuchteten Haltestelle ein paar Jugendliche standen. Auch, wenn sie sie nicht kannte, fühlte sie sich direkt etwas sicherer. Sie warf einen Blick auf den Fahrplan. Nur noch eine Viertelstunde.

„Steig ein."

Cassies Blick fiel auf den dunklen Wagen, der gerade am Straßenrand gehalten hatte. Marten saß darin und musterte sie auffordernd. Sie runzelte die Stirn und schaute sich suchend nach John um, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken.

„Schickt er dich?", fragte sie.

„Ja. Ich soll dich nach Hause fahren. Komm jetzt."

Wie konnte John nur manchmal süß und ein Arschloch zugleich sein?

Die nächsten drei Tage hörte sie trotzdem nichts von ihm. Doch auch sie war zu stur, sich nach ihrem Streit wieder bei ihm zu melden. Am vierten Tag machte sie die Funkstille zwischen ihnen besonders traurig. Heute war ihr erster Jahrestag, doch statt ihn gemeinsam zu verbringen, redeten sie nicht miteinander.

Immer wieder erwischte Cassie sich dabei, wie sie auf ihr Handy schaute, doch John war stur genug, nicht den ersten Schritt zu machen. Vielleicht hatte er ihren Jahrestag aber auch einfach nur vergessen.

Zum Glück würde sie das heutige Battle von ihren Gedanken rund um John ablenken, auch, wenn sie enttäuscht darüber war, dass John sie tatsächlich hängenließ, statt sie zu begleiten. Dabei wusste er genau, wie wichtig das Battle heute für sie war. Es ging um die Qualifikation für die Teilnahme beim Finale des Battles in Frankreich.

In unterschiedlichen Städten Deutschlands hatten sich wie in den anderen teilnehmenden Ländern auch in den vergangenen Monaten verschiedene Crews in den vier Kategorien „Hiphop", „House", „Locking" und „Breaking" für das Deutschland-Finale qualifiziert. Der Gewinner der jeweiligen Kategorie des heutigen Battles würde Deutschland bei der Weltmeisterschaft gegen die internationalen Crews vertreten. In der Qualifikationsrunde hatte sich Cassie gemeinsam mit Malia als Duo für das heutige nationale Finale qualifiziert und würde gemeinsam mit ihr um die Teilnahme in Frankreich kämpfen. Esra und Paola begleiteten sie, um sie mental zu unterstützen.

Als sie die Location erreichten, war die Halle noch leer. Lediglich die anderen Tänzer, die sich in den anderen Städten qualifiziert hatten, waren bereits dort und trainierten noch hinter verschlossenen Türen für die Battles. Insgesamt traten nur vier Gewinner-Crews der jeweiligen Kategorien gegeneinander an.

Hinter den Kulissen war die Stimmung angespannt; alle Crews wollten das Battle heute für sich entscheiden. Auch Malia und Cassie nutzen die verbleibende Zeit, sich noch einmal auf das Finale vorzubereiten. Sie gingen in einem separaten Raum ihre Routines noch einmal durch, die sie während des Battles mit den Freestyles vermischen durften.

Erst mit Beginn des Einlasses der Zuschauer wurde Cassie zunehmend nervös. Glücklicherweise waren Esra und Paola dabei, um sie und Malia auf dem Boden zu halten. Es war eins dieser Battles, vor denen sie sich ganz allein in eine Ecke zurückzog, um sich zu konzentrieren und sich vorzubereiten, bevor sie sich schließlich zu Veranstaltungsbeginn in die Halle begab.

Dort legte der DJ bereits Musik auf und um die runde Battle-Area herum saßen längst Zuschauer, die gespannt auf den Beginn des Battles warteten, während die Jurymitglieder Twigz, Aqua und Diablo am Rand saßen und darauf warteten, dass Memo, der Host des heutigen Abends und selbst Hiphop-Tänzer, das Battle offiziell eröffnete.

Da die Hiphop-Kategorie die beliebteste war, fanden die Battles ganz am Ende statt. Also setzten die Mädchen sich erst einmal an die Tanzfläche, um sich die Battles der anderen Kategorien anzuschauen. Erst am Abend, als die anderen Battles bereits entschieden und die Finalisten bereits gefunden waren, wurden nach einer kurzen Pause die Hiphop-Battles angekündigt.

Wie jedes Mal hatte Cassie das Gefühl, dass inzwischen noch mehr Zuschauer dazugekommen waren. Doch sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das bevorstehende Battle gegen Enisa und Jayjay aus Berlin, die sich bereits auf der gegenüberliegenden Seite aufgestellt hatten.

Der DJ wechselte den Song. Sofort war Cassie klar, dass sie beginnen würde, also warf sie Malia einen eindeutigen Blick zu, bevor sie sich von der Musik einhüllen ließ und sich zu bewegen begann. Sie glühte förmlich vor Ausstrahlung und Energie, während sie sich zum Beat bewegte und mit der Musik eins wurde. Viel zu schnell begann Memo, die letzten Sekunden der Minute herunterzuzählen, bevor ihre Runde vorbei war. Sie tanzte rückwärts zu Malia zurück, bevor Jayjay ihre Runde konterte.

Sie war wirklich gut, patzte jedoch ab und zu und Cassie hatte Hoffnung, dass sie diese Runde für sich entscheiden würde. Anschließend wechselte der DJ den Beat und Malia legte gegen Enisa vor. Sie brachte eine starke Runde, doch Enisa zeigte, welches Feuer in ihr steckte. Nach insgesamt drei Runden konnten Cassie und Malia das Battle jedoch für sich entscheiden.

Gespannt standen sie am Rand der Tanzfläche und beobachteten die anderen beiden Hiphop-Crews im anschließenden Battle, um herauszufinden, ob sie gegen die Düsseldorfer oder die Frankfurter im Finale stehen würden.

Kurz vor dem Finale gegen die Frankfurter zogen sich die Mädchen noch einmal zurück, um sich zu sammeln und über die Stärken und Schwächen von Kaya und Alex zu sprechen. Als sie für das Finale zurückkehrten, wussten sie, dass sie nichts mehr aufhalten würde.

Als die ersten Töne des Beats einsetzten, legten die Jungs sofort mit einer zum Beat passenden Routine los, bevor Alex den ersten Solo-Part des Battles übernahm. Cassie und Malia konterten aggressiv und energievoll, zeigten, dass sie den Jungs nichts schenken würden und kämpften Runde für Runde.

Als das Finalbattle endete, fielen sie sich schwer atmend in die Arme. Die Minuten, in denen die Jury sich für das letzte Urteil des Abends beriet, fühlten sich für Malia und Cassie wie Stunden an.

Als die Jury schließlich Memo ihre Entscheidung mitteilte, hielt Cassie den Atem an und beobachtete seinen Blick aufmerksam. Verrieten seine Augen vielleicht schon die Entscheidung?

Doch Memo gelang es, sein Pokerface aufrecht zu erhalten, bis er schließlich gemeinsam mit dem Publikum von drei herunterzählte. Cassies Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie gebannt in seine Richtung starrte. Als er schließlich tatsächlich in ihre Richtung deutete, atmete sie erleichtert aus und strahlte über das ganze Gesicht, bevor sie Malia erleichtert in die Arme fiel.

Sie hatten es tatsächlich geschafft. Sie fuhren nach Frankreich zur Weltmeisterschaft, um Deutschland dort vor Ohr zu präsentieren. Bis jetzt war das der größte Erfolg in Cassies Tänzerkarriere.

Völlig überwältigt fiel sie auch Esra und Paola in die Arme und drückte sie fest an sich. Als sie sich von ihnen löste, fiel ihr Blick plötzlich in seine blauen Augen; John.

Er stand ein paar Meter von ihr entfernt an der Tanzfläche und musterte sie durchdringend. Cassie schluckte. Er überbrückte die letzte zwischen ihnen liegende Distanz, dann blieb er vor ihr stehen. Ihre Freundinnen beobachteten die Szene neugierig.

„Herzlichen Glückwunsch", sagte er unbeholfen.

„Danke", erwiderte sie.

„Und alles Gute zum Jahrestag", fügte er hinzu.

Sie schluckte. Als Tränen der Erleichterung in ihre Augen traten, blinzelte sie sie weg und biss sich auf die Zunge. Als sie ihren Blick senkte, nahm er ihre Hand und zog sie zu sich, schaute auf sie herab und strich ihre wilden Locken nach hinten. Ihre Finger kribbelten, doch sie zog ihre Hand nicht weg. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, dass er hier war. Ohne weitere Zeit verstreichen zu lassen, beugte er sich zu ihr herunter und verschloss ihre Lippen mit einem Kuss.

„Du warst echt gut", sagte John später, als sie nach der Aftershow-Party Cassies Wohnung betraten.

Cassie streifte erschöpft ihre Sneakers von den Füßen und ließ ihre Tasche fallen. Dann fuhr sie zu John herum.

„Danke, dass du da warst", sagte sie lächelnd.

„Meinst du, wenn meine Freundin um die Teilnahme an der Weltmeisterschaft kämpft, lasse ich mir das entgehen?"

Sie wurde ernst.

„Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, nachdem-"

„Ich wollte nicht, dass das so eskaliert an dem Abend", versicherte er ihr.

„Ich auch nicht", sagte sie.

„Ich weiß, dass du dir nur Sorgen machst. Ich will das aber nicht", erwiderte er.

„Dann mach das nicht", gab sie leise zurück.

„Nur solange, bis wir richtig mit der Musik verdienen. Versprochen."

Cassie seufzte schwer.

„Ich wünschte irgendwie auch, ich würde es nicht wissen."

„Wir reden nicht mehr darüber, okay? Und so, wie es momentan aussieht, muss ich den Scheiß auch gar nicht mehr lang machen", sagte John zuversichtlich.

„Und diese Weiber triffst du auch nicht mehr", stellte sie klar.

„Du machst mir keine Ansagen", knurrte er bedrohlich.

Als sie zurückweichen wollte, hielt er sie jedoch fest.

„Ich treffe sie trotzdem nicht mehr, auch, wenn ich wirklich nichts mit der einen hatte", sagte er schließlich kleinlaut.

„Mir egal. Du willst schließlich auch nicht, dass ich mit anderen Männern rumhänge."

„Okay", räumte John ein, „Und jetzt komm her, Shorty."

Doch bevor er sie küssen konnte, wich sie zurück.

„Ich stinke bestimmt. Ich muss erst mal duschen", erklärte sie.

John grinste frech.

„Nichts lieber als das."

Ja, kaum zu glauben, aber ein ganzes Jahr haben die beiden schon miteinander ausgehalten, doch die Frage nach dem letzten Kapitel ist doch eigentlich: hält die Beziehung noch lange? Was glaubt ihr? Findet ihr es gut, dass John überhaupt noch bei dem Battle aufgetaucht ist, oder seid ihr der Meinung, er hätte vorher einlenken  und sich bei ihr melden müssen? Oder seid ihr der Meinung, dass Cassie restlos übertreibt und ihm grundlos die Hölle heißgemacht hat? 

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