05 | Cassie from the block

Ich wünsche euch ganz viel Spaß mit dem neuen Kapitel. Ihr habt die Einführungsphase ohne John überstanden. Es geht jetzt also los. Vorhang auf.

2009.

Cassie stieg aus dem Bus und schaute sich in der Gegend um, in der sie sich mit John verabredet hatte. Seit ihrem zufälligen Aufeinandertreffen in Berlin hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie hatten Handynummern ausgetauscht, doch er hatte sich ernsthaft nicht bei ihr gemeldet. Sie konnte nicht glauben, dass er sich dieser nervigen Mädchentaktik bediente und sie auch noch darauf angesprungen war. Schließlich hatte sie nach einer Woche den ersten Schritt gemacht und ihn angerufen.

Cassie war nicht das Mädchen für den ersten Schritt – meistens merkte sie nicht einmal, wenn sie jemand so toll fand, dass es über ein rein freundschaftliches Interesse hinausging. Sie hatte einfach noch nicht so viele Erfahrungen im Dating-Dschungel gesammelt und nie gelernt, Signale zu erkennen. Ihre Freundinnen zogen sie natürlich immer damit auf, anstatt ihr einfach zu sagen, wenn ein Typ auf sie stand. Doch sie schützte sich so davor, verletzt zu werden. Schließlich waren viele Männer einfach nur egoistische Schweine.

Cassie hatte das Gefühl, dass die Zeit seit ihrer letzten Begegnung geradezu verflogen war, dabei hatten sich Sekunden wie Jahre angefühlt, während sie vergeblich auf seinen Anruf gewartet hatte.

Es war seltsam, wieder in ihrem alten Viertel zu sein. Als sie von Berlin nach Hamburg gezogen waren, hatten sie zunächst ein paar Straßen von hier gelebt, bis sie schließlich in einen anderen Stadtteil gezogen waren. Viel hatte sich hier nicht verändert.

Erinnerungen von damals schlichen sich in Cassies Kopf, als wäre sie nie weggewesen. Damals hatten sie und ihre Freundinnen sich in dem kleinen Park hier herumgetrieben, an dem sie gerade vorbeiging. Sie lief ein paar Meter die Straße entlang, dann bog sie rechts ab in eine kleine, mit hohen Bäumen gesäumte Grünanlage. Hier hatte sie früher mit ihren Freunden auf den Bänken gesessen oder Basketball gespielt.

Während sie durch den Wohnblock lief, schaute sie an den Fassaden der Häuser hinauf. Hier und dort entdeckte sie ein paar Menschen auf ihren Balkonen. Eine Frau nahm gerade ihre Wäsche von der Wäscheleine. Auf einem anderen Balkon lehnte ein Mann in Unterhemd mit seinen Armen auf dem Balkongeländer und rauchte eine Zigarette. Eine Etage darunter spielten zwei alte südländische Männer Karten. Große Sattelitenschüsseln pflasterten die Häuserfassade. Der Duft von Essen stieg Cassie in die Nase. In unmittelbarer Nähe lachten Kinder.

Sie erreichte den kleinen Spielplatz, auf dem sie mit John verabredet war. Andere fanden den Ort für eine erste Verabredung vielleicht seltsam, doch für sie war er perfekt. Da das Wetter gut war und die Sonne schien, hatte John vorgeschlagen, einfach spazieren zu gehen. Cassie fand das im Gegensatz zu Malia viel besser als einen Kinobesuch, denn sie wollte sich schließlich mit ihm unterhalten und ihn besser kennenlernen.

Auf dem Kinderspielplatz liefen ein paar Mädchen und Jungen durcheinander, turnten auf dem Klettergerüst herum oder schaukelten. Cassie setzte sich auf die abgelegene Bank am Rand und schaute drei Mädchen beim Rutschen zu.

Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche und sah auf das Display. Sie war zu früh, er also noch nicht zu spät. Als sie das Handy zurückschob, blieb ihr Blick an ein paar kleinen Schnitzereien in der Holzbank kleben. Sie lächelte, denn diese Schnitzerei hatte sie damals mit ihren Freundinnen gemacht. Sie waren gerade einmal elf Jahre alt gewesen, hatten aber trotzdem nur Blödsinn im Kopf gehabt. Heute hatte sie mit den meisten Mädchen von damals nichts mehr zu tun.

Gedankenverloren strich sie über die kleinen Einkerbungen, zog ihre Beine an ihren Körper und genoss das Gefühl der warmen Frühlingssonne auf ihrer Haut. Die Kinder spielten friedlich miteinander und entlockten ihr ein Lächeln.

„Hey Shorty."

Cassie fuhr überrascht zu John herum. Er stand vor ihr, trug einen dunklen Hoodie unter einer Camouflage-Jacke und eine dunkle Hose und schaute amüsiert auf sie herab. Sie hatte ihn bisher nicht bemerkt. Hatte er sie gerade Shorty genannt?

„Nenn mich nicht so", forderte sie und stand auf.

Sein amüsiertes Grinsen wurde nur noch etwas breiter, denn auch jetzt war er noch einen Kopf größer als sie.

„Du bist halt ein laufender Meter. Shorty passt wie die Faust aufs Auge", erwiderte er frech, dann zog er Cassie in eine kurze Umarmung.

„Kein Grund, gemein zu werden", sagte sie beleidigt und machte sich von ihm los. Er lachte. Sie hasste ihn!

„Also, Bigfoot, was machen wir?"

Er schmunzelte, als sie gegen die Sonne blinzelte und ihre Augen schließlich mit einer Hand abschirmte.

„Lass ein paar Meter gehen", schlug er vor, dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem frechen Grinsen. „Ich geh auch langsam, damit du mit deinen Stummelbeinen mithalten kannst."

Sie verpasste ihm ohne zu zögern einen Boxer gegen den Oberarm. Er lachte.

„Au!"

„Gott hat die Kleinen erschaffen, damit die großen Affen auf sie runtergaffen", sagte sie ernst, dann setzte sie sich in Bewegung. Er folgte ihr schmunzelnd.

„Packst du jetzt deine schlechtesten Punchlines aus?"

Sie schenkte ihm einen bedeutungsschwangeren Blick.

„Pass besser auf, ich laufe mich gerade erst warm."

„Pass du besser auf. Ich mach das Ganze schon länger als du", warnte er sie.

Einen kurzen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie hatte tausende Fragen an ihn, doch sie wusste nicht, welche sie zuerst stellen sollte. Sie wollte so viel wie möglich über ihn erfahren. Doch er kam ihr zuvor.

„Erzähl mir mal was von dir."

„Was willst du denn wissen?"

„Alles. Ich weiß halt gar nichts über dich, außer, dass du Cassie heißt, dich abends auf irgendwelchen Jams herumtreibst und eine krasse Tänzerin bist", erwiderte er.

Sie lächelte verlegen.

„Danke."

„Hast du schon immer in Hamburg gelebt?", fragte er, um ihr den Einstieg zu erleichtern.

„Nein, ich habe früher in Berlin gewohnt. Als irgendwann kurz vor der Trennung meiner Eltern sind wir nach Hamburg gezogen", erzählte sie.

„Wie alt warst du da?", wollte er wissen.

„Noch nicht so alt. Ich bin in Hamburg eingeschult worden", sagte sie.

„Und jetzt wohnst du allein mit deiner Mum?", hakte John nach.

„Und meiner kleinen Schwester", antwortete sie.

„Und dein Dad?"

Cassie zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Hat ne neue Familie und kümmert sich seitdem nicht mehr um uns", antwortete sie.

„Mies", sagte er.

„Ich hab mich daran gewöhnt, dass er nichts mehr mit uns zu tun haben will", erwiderte sie.

„Trotzdem nicht cool, seine eigene Tochter im Stich zu lassen", kommentierte er.

„Und du? Hast du schon immer in Hamburg gewohnt?", fragte sie.

„Als ich zwei war, sind meine Eltern mal ne Zeit lang nach Frankreich ausgewandert, aber dann sind wir irgendwann nach Süddeutschland. Da war ich dann auf ein paar Sportinternaten, aber irgendwann bin ich dann wieder nach Hamburg."

„Warum?", wollte sie wissen.

„Weil das hier meine Heimat ist. Ich fand Süddeutschland immer scheiße. Ich wollte immer hierher zurück", antwortete er.

„Und was kam dann?"

Er seufzte.

„Viel Scheiße erstmal. Trennung von meiner Ex, Probleme mit dem Amt, Stress mit den Bullen", erwiderte er.

„Hast du oft Stress mit den Bullen?", wollte sie wissen.

Sie hatte das Gefühl, dass John die Frage unangenehm war, doch er wich ihrem Blick nicht aus.

„Ach was, nee...", erwiderte er.

„Und wann hast du angefangen zu rappen?", wechselte sie also das Thema, statt weiter nachzubohren. Sie akzeptierte, dass es Dinge gab, über die er mit ihr noch nicht sprach. Er lächelte.

„Vor drei Jahren oder so. Sprühen war irgendwie nichts für mich, also hab ich dann damit angefangen. Als Berlin so krass abgerissen hat, wollte ich denen zeigen, dass Hamburg auch rasiert", antwortete er. Sie schmunzelte.

„Also war das so ein Ego-Ding für dich", stellt sie amüsiert fest.

„Ach was, nee, ich feier Bushido. Jeder soll sein Ding machen. Ich finde einfach nur, dass Eimsbusch Hamburg zu wenig repräsentiert hat und deshalb machen wir das jetzt. Unser erster eigener Sampler kommt in ein paar Monaten."

Sie lächelte.

„Cool. Hör ich mir bestimmt mal an", versicherte sie ihm.

„Ich weiß nicht, ich glaube, das ist nicht so ganz deine Musik", grinste er.

„Wieso meinst du nicht?"

„Es ist schon sehr asozial."

Cassie lächelte.

„Du meinst, asozialer als euer Auftritt auf der Jam?"

John nickte.

„Der Sampler wird alles in den Schatten stellen", versicherte er ihr mit einem stolzen Grinsen auf den Lippen.

„Das würde ich dann gern selbst beurteilen", erwiderte sie frech.

Er musterte sie ernst.

„Stellst du das etwa in Frage?"

„Natürlich nicht!", sagte sie schnell. Er lächelte.

„Wenn du Bock hast, zeig ich dir mal ein paar Sachen. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt."

„Gerne."

„Du hörst doch bestimmt normalerweise gar nicht so asoziale Musik", fuhr er fort und musterte sie neugierig.

„Ich höre viel RnB und Dancehall", erwiderte sie.

Er grinste.

„Was?", fragte sie.

„Also stehst du auf versaute Musik", stellte er amüsiert fest.

Sie lachte auf.

„Ich mag einfach diesen Dancehall-Vibe", sagte sie.

„Und ich mag es, mir vorzustellen, wie du darauf tanzt", gab er trocken zurück.

Sie schaute überrascht in sein Gesicht.

„Was?"

„Was?", wiederholte er gespielt ahnungslos und grinste frech.

Sie grinste ebenfalls. Seine Art gefiel ihr irgendwie.

„Wenn du willst, können wir mal zusammen zu einer Dancehall-Party gehen", schlug sie vor.

„Bist du da öfter?", hakte er nach.

„Ich bin da immer", antwortete sie.

„Besser nicht", sagte er.

„Wieso nicht?", fragte sie und legte neugierig den Kopf schief. Er lächelte. Es wirkte fast etwas verlegen.

„Das endet nie gut – für alle Beteiligten."

Obwohl er noch immer lächelte, klang seine Antwort ernst.

„Auch, wenn ich dabei bin?", hakte sie nach.

„Gerade, wenn du dabei bist. Deshalb sollten wir da nicht zusammen hingehen."

Erteilte er ihr gerade ernsthaft eine Abfuhr? Cassie musterte ihn argwöhnisch. Auch John schien dieser Blick nicht zu entgehen.

„Versteh mich nicht falsch, Shorty. Aber ich will mich nicht in deiner Gegenwart danebenbenehmen."

Und, wie hat euch das erste richtige Treffen der beiden gefallen? Glaubt ihr, sie sollte mit ihm feiern gehen oder endet das tatsächlich nicht gut und sie sollten sich lieber wo anders wiedersehen? Habt ihr sonst noch irgendwelche Anmerkungen oder Kritik?

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