03 | Showtime
Vielleicht wird es etwas chaotisch heute. Lasst mir gern eure Meinung da, ob ich das Kapitel überladen habe.
2009.
Cassie war erleichtert, als sie nach über drei Stunden die Autobahnausfahrt nahmen. Sie hatten endlich ihr Ziel erreicht. Berlin. Während Malia den Wagen durch die weitläufigen Straßen lenkte, kehrten Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen in Cassies Gedächtnis zurück.
Als kleines Mädchen war sie in Berlin aufgewachsen, bevor ihre Eltern der Stadt den Rücken gekehrt hatten, um sich ein neues Leben in Hamburg aufzubauen. Doch die Beziehung zwischen dem Zeitsoldaten und der Altenpflegerin war gescheitert. Ihre Mutter hatte zwar etwas später einen neuen Partner kennengelernt, doch auch diese Beziehung hatte nicht dauerhaft gehalten. Also waren sie inzwischen wieder allein. Obwohl sie ein gutes Verhältnis zu ihrem Stiefvater aufgebaut hatte, hatte er sich nach der Trennung von ihr distanziert. Heute war Cassie darüber hinweg, doch damals hatte sie seine Zurückweisung sehr mitgenommen.
Als die Reisegruppe das kleine Hostel erreichte, stellte Malia den grünen Opel Corsa auf dem Parkplatz ab. Cassie stieg gemeinsam mit ihren Freundinnen vorfreudig aus dem Auto. In den nächsten Tagen würden sie viele bekannte Gesichter aus den unterschiedlichsten Städten hier in Berlin wiedertreffen und sie fand das sehr schön. Es fühlte sich immer irgendwie an, als würde sie einen Teil ihrer Familie sehen.
Doch zunächst bezogen Malia, Paola, Esra und Cassie ihr Vierer-Zimmer, das sie sich teilten, um Geld zu sparen. Es war nicht besonders groß und spärlich eingerichtet, doch sie waren schließlich auch nicht für einen Luxusurlaub hergekommen. Zum Übernachten und Duschen war es vollkommen ausreichend.
Später trafen sie sich im Foyer des Hostels mit ein paar Jungs, die sie schon länger kannten. Sie waren ebenfalls für das Battle hergekommen und eigentlich auch so etwas wie Konkurrenten, aber abseits des Wettkampfs verstanden sie sich blendend.
Vor allem Rachid hatte es Cassie angetan. Der hübsche Marokkaner war Anfang zwanzig, einen Kopf größer als sie, hatte dunkle Haare und schöne braune Augen. Auch, wenn zwischen ihnen nie etwas gelaufen war, flirtete er immer wieder mit ihr. Rachid war gemeinsam mit seinen Freunden Nick, Asim und Franky hergekommen. Nick war groß, blond und hatte blaue Augen. Er hätte ebenso gut aus einer Boyband entsprungen sein können. Asim war kleiner, hatte dunkle Haare und eine kräftige Statur. Franky hatte wie Cassie einen cappuccinofarbenen Teint, wilde Afro-Curls und große, dunkle Augen und sie glaubte, dass er ein Auge auf Esra geworfen hatte.
Sie gingen zusammen etwas essen und verbrachten den Abend miteinander, zogen gemeinsam durch die Straßen und tauschten sich untereinander über die neusten Entwicklungen aus. Sie waren schließlich nicht nur für das Battle hergekommen, sondern auch, um in Kontakt zu bleiben und den Zusammenhalt der Szene zu stärken. Es fühlte sich an wie eine große Familie.
Als sie am nächsten Morgen den Parkplatz der Location erreichten, war dieser noch relativ leer, da die Anmeldung der Tänzer vor der eigentlichen Veranstaltung stattfand. Doch das würde sich kurz vor dem Einlass ändern. Bereits im vergangenen Jahr war der Andrang riesig gewesen.
Die meisten Battles liefen nach einem bestimmten Muster ab. In einer Preselection wurden bereits vorab die besten Tänzer oder Crews ermittelt, die dort in Battles gegeneinander antraten. Die daraus hervorgehenden Sieger bestritten im Anschluss das Finale, das jedoch – so wie heute – auch an einem anderen Tag stattfinden konnte.
Dabei hatte jeder Tänzer im Achtelfinale einen meinst einminütigen Durchgang, im Halbfinale und Finale waren es meistens zwei Durchgänge. Wer beginnen musste, wurde per Losverfahren entschieden. Im Anschluss tanzten die Gegner abwechselnd ihre Sets. Dabei beurteilte die Jury, die ebenfalls aus erfahrenen Tänzern bestand, das tänzerische Niveau, die Musikalität, den Ausdruck, und in Gruppen zusätzlich Synchronität, Bilder oder Linien.
Für das heutige Battle hatte es bereits vor ein paar Monaten eine Qualifikations-Veranstaltung gegeben, bei der sich die 16 besten Crews qualifiziert hatten. Also startete die Veranstaltung heute mit dem Achtelfinale.
Zuerst deponierten sie ihre Taschen im Backstage-Bereich, bevor sie sich ein Bild von der kleinen Halle machten. In der Mitte des Raums befand sich die runde Bühne, vor der die drei Judges Flaze, Turbo und Nelson auf einem Podest saßen. Hinter ihnen befand sich das DJ-Pult, auf dem gleich einer der DJs für die passende Musik sorgen würde. Um die Bühne herum befanden sich Rundtribünen, auf denen in einer Stunde die Zuschauer sitzen würden.
Je näher der offizielle Beginn rückte, desto unruhiger wurde Cassie. Jedes Battle war für sie immer wieder eine neue Herausforderung, an ihre Grenzen zu gehen.
„Ich habe keine Lust mehr zu warten", platzte es aus Malia heraus, als sie wieder in den Backstage-Bereich zurückkehrten. Malia war ein schlankes Mädchen mit schönen Brüsten und langen Beinen. Cassie beneidete Malia um ihre Körpergröße. Heute versteckte Malia ihre Reize allerdings unter einer lässigen Jogginghose. Sie hatte immer Hunger und wollte sich beweisen, dass sie sich wieder gesteigert hatte und über sich hinausgewachsen war. Sie strich ihre dunklen Haare nach hinten und schaute sich um.
„Da sind die Jungs!", sagte sie, dann deutete sie auf Asim. Cassie folgte ihrem Blick. Sie wusste, dass Malia auf ihn stand und konnte gerade auch sehen, weshalb. Er trug einen lässigen, dunklen Jogginganzug und machte sich mit ein paar coolen Moves warm. Dabei sah er kein bisschen angestrengt aus, sondern wirkte sexy und selbstbewusst. Ehe Cassie sich versah, hatte Malia sich auch schon auf den Weg zu ihrem Traummann gemacht.
Cassie strich über den Stoff ihrer dunklen Leggings, zu der sie ein ärmelloses Longshirt angezogen hatte, das ihren Po verdeckte. Dazu trug sie knallig-grüne High-Top-Sneakers und eine grüne Jacke. Ihre Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie verschwand ein letztes Mal in einem er kleinen Garderobenräume, um ihr Make-Up aufzubessern. Anschließend kehrte sie zufrieden zu den anderen zurück.
Allmählich trafen die anderen Crews ein und die Freundinnen begrüßten sie. Im Achtelfinale würden Cassie und ihre Freundinnen auf eine befreundete Crew aus Berlin treffen, die ebenfalls aus vier Mädchen bestand; Mary, Shanty, Emine und Enisa.
Mit jedem Besucher, der nach und nach die Halle füllte, stieg auch Cassies Anspannung. Sie konnte es kaum erwarten, ins erste Battle zu gehen.
Als der Host Jay, ein hübscher Schwarzer mit wildem Afro und großen, braunen Augen, das Publikum begrüßte, kehrten sie zur Tanzfläche zurück. Da sie erst das dritte Battle des Achtelfinales bestritten, konnten die Mädchen sich die anderen Crews anschauen. Sie waren wirklich gut und auch Cassie fiel es schwer, eine Entscheidung darüber zu treffen, welche Crew der jeweiligen Battle-Runde besser gewesen war.
Ihr Herz schlug Cassie bis zum Hals, als schließlich ihre Crew aufgerufen wurde, um ihr Battle zu bestreiten. Die vier Berlinerinnen hatten sich bereits auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne positioniert. Jay drehte eine Flasche auf dem Boden um zu entscheiden, welche Crew beginnen würde. Als die Flasche zum Stillstand kam, zeigte sie auf die Seite, auf der die Berliner Mädchen standen. Der Beat setzte ein. Cassie schloss kurz ihre Augen und ließ sich von der Musik einhüllen. Sie blendete die lauten Pfiffe des Publikums und die gespannten Blicke aus, warf stattdessen ihrer Crew einen prüfenden Blick zu, um abzustimmen, welche von ihnen die erste Runde auf diesen Oldschool-New York-Beat kontern würde. Die Entscheidung fiel auf sie selbst. Im Verlauf gelang es den Hamburgerinnen, durch das tänzerische Niveau und ihre Musikalität das erste Battle für sich zu entscheiden.
Im Anschluss überzeugten sie die Jury noch zwei Mal und zogen schließlich mit drei anderen Crews, darunter auch Rachid und seine Jungs, ins Halbfinale ein. Im vergangenen Jahr hatten sie den dritten Platz belegt und sich zum Ziel gesetzt, heute als Sieger von der Bühne zu gehen. Die Mädchen hatten im vergangenen Jahr so hart dafür gearbeitet und Hunger auf den Erfolg.
Im Halbfinale gegen Rachid, Asim, Nick und Franky zu tanzen, reizte Cassie. Sie wollte unbedingt gegen Rachid tanzen, denn er war in ihren Augen der Beste der Crew. Sie sah ihm gern beim Tanzen zu, denn er inspirierte und motivierte sie selbst dazu, auch über ihre Grenzen hinaus zu gehen. Als der DJ Busta Rhymes „Put your hands where my eyes could see" auflegte, wusste Cassie, dass sie es sein würde, die Rachids Runde kontern würde. Rachids Augen blitzten gefährlich auf, bevor er anfing, sich zum Beat zu bewegen. Cassie prägte sich jeden einzelnen seiner Moves ein, während Rachid sie immer wieder herausforderte, bis seine Runde endete und sie an der Reihe war.
Cassie ließ sich einfach von der Musik treiben, sie durch ihren Körper strömen und verband schnelle und langsame Elemente mit Slides und Power Moves. Dabei ließ sie Rachid keine Sekunde aus den Augen und fixierte ihn mit ihrem Blick, bis Jay ihre Runde herunterzählte.
„Ich weiß nicht, ob ich gegen die Franzosen im Finale stehen will", sagte Malia, „Die sind so unfassbar krass, dagegen kacken wir definitiv ab."
„Ich weiß. Diablo ist einfach so gut. Ich hasse ihn", kommentierte Cassie.
Alle lachten, weil sie wussten, dass Cassie das nicht ernst meinte, sondern nur aus ihrer Verzweiflung heraus sagte.
„Es kommt alles so, wie das Schicksal es will", sagte Esra bedeutungsschwanger. Cassie verdrehte die Augen. „Du wieder mit deiner Kismet-Scheiße, Abla!" Esra schubste sie ernst. „Red nicht so. Du solltest das Schicksal nicht verärgern."
Cassie wollte gerade etwas sagen, als die Judges zur Entscheidungsverkündung zusammenkamen. Sie war so angespannt, dass sie Malias Hand nahm. Ihr Herz schlug ihr augenblicklich bis zum Hals, als sie realisierte, dass sie entweder den Finaleinzug verpassen würde oder gegen Diablos Crew tanzen musste. Um sich zu beruhigen, ließ sie ihren Blick zu Rachid schweifen. Der schenkte ihr ein Lächeln.
Sie erwiderte es, dann glitt ihr Blick an ihm vorbei, geradewegs in diese einnehmenden blauen Augen. Sie erstarrte. War er das wirklich?
Im ersten Moment war sie sich nicht sicher, denn heute trug er keine Snapback, sondern zeigte seinen kurzrasierten Kopf. Deshalb wirkte er auf den ersten Blick fremd, doch als er leicht den Kopf schieflegte und sie mit den Augen fixierte, war sie sich ganz sicher.
Seit diesem einen Abend auf der Jam hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Jetzt stand er gerade mal ein paar Meter von ihr entfernt, hatte seine Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben und hielt seinen Blick auf sie gerichtet. Was machte er hier in Berlin?
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch als Jay zu sprechen begann, schenkte sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit. Malia drückte Cassies Hand so fest zusammen, dass sie glaubte, sie würde zerbrechen, als Jay endlich die zweite Finalcrew verkündete.
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, auch, wenn ihr noch einmal auf John verzichten musstet. Vielleicht ändert sich das ja schon bald.
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