02 | Seine Augen

Ich hab es euch ja versprochen, und das halte  ich auch. An der Stelle danke an youarealwaysonmymind - du bekommst heute echt viele Widmungen, merke ich gerade :) Ich hoffe natürlich, dass euch das Kapitel gefällt. 

2009.

„Du verstehst das einfach nicht, Mum! Das ist echt wichtig!"

„Und deine Englischklausur, Cassie? Ist die nicht wichtig?", konterte ihre Mutter provokativ.

„Doch, schon, aber-", setzte sie an, doch sie wurde direkt wieder unterbrochen.

„Dann verstehe ich nicht, wieso wir überhaupt darüber diskutieren."

„Ich auch nicht. Du weißt schließlich, dass ich sowieso fahre. Oder glaubst du, wir haben uns umsonst den Arsch aufgerissen, um es so weit zu schaffen? Außerdem kann ich die Mädels nicht einfach so im Stich lassen. Die verlassen sich auf mich!", stellte Cassie klar.

Ihre Mutter seufzte schwer. Ihre blauen Augen funkelten wütend, doch ihr rundliches Gesicht entspannte sich etwas. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte in der Küche, deren Wände in Akzenten ebenso bordeauxrot gestrichen waren wie die Farbe der lackierten Küchenschränke.

„Und wenn du die Klausur wieder so schlecht schreibst wie die Letzte?"

„Wenn es mit dem Lernen wirklich knapp wird, dann schreibe ich sie einfach nicht mit", gab sie entschieden zurück.

„Das ist ja eine tolle Lösung", platzte es aus Willow heraus. Cassies kleine Schwester saß am Küchentisch am Fenster, hatte vor sich ein Schulheft, ein Buch und ein Federmäppchen ausgebreitet und versuchte unentwegt, beim Lösen ihrer Hausaufgabe möglichst angestrengt auszusehen. Doch jetzt schaute sie durch die Gläser ihrer Brille zu ihrer Schwester herüber. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren vier Jahre jünger als Cassie und außer dem cappuccinofarbenen Teint und dem wilden Lockenkopf hatten sie nicht wirklich viele Gemeinsamkeiten. Im Gegensatz zu Cassie war sie sehr strebsam in der Schule und traf sich nur selten mit Freundinnen, sondern verbrachte ihre Freizeit lieber zuhause und las Bücher.

Cassie hingegen bemühte sich, ihr Fachabitur zu machen, aber ihre Noten bewegten sich immer im unteren Bereich. Das lag aber nicht daran, dass sie zu dumm für ein Abitur war; sie lernte einfach nur nicht hart genug dafür. Sie wusste, dass sie, wenn sie all die Energie, die sie ins Tanzen steckte, in ihre Schule investieren würde, einen super Abschluss schaffen konnte. Sie musste es nur wollen, doch momentan wollte sie einfach nur tanzen. Natürlich liebte Cassie ihre Schwester trotz der Unterschiede, aber manchmal nervte sie einfach – so, wie das eben unter Geschwistern war.

„Halt du dich da raus, Streber Girl", gab sie beißend zurück und warf Willow einen vernichtenden Blick zu, bevor sie wieder ihre Mutter anschaute. Willow verdrehte währenddessen die Augen und schnitt eine Grimasse in Cassies Richtung. „Guck mal, Mum, ich kann die Klausur einfach nachschreiben, wenn die Zeit nicht mehr reicht. Aber dieses Battle, das kann ich nicht einfach so nachholen. Außerdem ist das nicht einfach irgendein Battle, sondern sozusagen die Deutsche Meisterschaft. Wir haben wirklich hart trainiert und die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir es dieses Mal ins Finale schaffen."

Genau genommen hatte Cassie in den vergangenen Tagen nichts anderes getan, als sich gemeinsam mit ihren Freundinnen auf dieses Battle vorzubereiten. Die letzten Wochen hatten sie ganz schön fertig gemacht; viele Klausuren, häufig Training, wenig Schlaf und irgendwann schließlich diese hartnäckige Erkältung. Doch jetzt war sie wieder fit und davon überzeugt, dass sie es schaffen würden.

Sie waren wirklich gut vorbereitet; sowohl für die Solo-Parts als auch die Routines. Trotzdem würde sie sich heute wieder mit Esra im Jugendzentrum treffen, um die Schritte noch einmal durchzugehen. Cassie tanzte schon, seit sie denken konnte. Bereits mit acht Jahren hatte sie ihre Faszination fürs Tanzen entdeckt, auch, wenn ihre Mutter sie nie wirklich gefördert oder motiviert hatte. Aber für Cassie war Tanzen ein Weg, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und ihre Seele zu heilen, immer, wenn sie sich schlecht fühlte. Sie hatte es nie professionell gelernt, sondern auf der Straße; da, wo Hiphop herkam. Alles, was sie konnte, hatte sie sich im Laufe der Jahre selbst beigebracht oder von Freunden gelernt.

Im Laufe der Zeit hatte Cassie ein paar Mädchen kennengelernt, die genauso fühlten wie sie selbst. Sie verband die Liebe fürs Tanzen so eng miteinander, dass inzwischen tiefe Freundschaften entstanden waren. Sie tanzten als Crew oder allein und hatten in den vergangenen Jahren schon ein paar Battles in den Kategorien Hiphop und MixedStyle gewonnen, in dem sie Popping-, Locking-, Dancehall-, oder Contemporary-Elemente einfließen ließen. Morgen Mittag würde sie sich wieder mit den anderen Mädchen zum Training treffen. Dann wollte sie ihnen die Sicherheit geben, sie sie brauchten, um das Battle zu gewinnen.

„Du machst ja doch, was du willst", seufzte ihre Mutter schwer.

„Mach dir keine Sorgen. Ich kriege das alles hin", versicherte sie ihr, bevor sie ihr einen Kuss auf die Wange drückte und sich aus der Küche stahl. Im Flur schnappte sie sich ihre Jacke und rauschte zur Tür hinaus. Kaum hatte sie die Bushaltestelle erreicht, überkam sie allerdings bereits das schlechte Gewissen.

Sie wusste, dass ihre Mutter sich lediglich Sorgen um ihre Zukunft machte. Sie selbst hatte es nie einfach im Leben gehabt und versuchte derzeit, sich und die beiden Töchter irgendwie mit ihrem Job als Altenpflegerin über Wasser zu halten. Ihr Vater, ein Zeitsoldat der US-Army, hatte sie verlassen, als sie in der Grundschule gewesen war. Sie hatte all ihre Erinnerungen an ihn verdrängt, denn er kümmerte sich seitdem weder um sie, noch um Willow. Sie hatte ihn inzwischen als jämmerliches Arschloch abgestempelt, von dem sie außer einem Cappuccino-Teint nichts geerbt hatte.

Als sie wenig später den teils verspiegelten Tanzraum im Jugendzentrum betrat, schob sie all ihre schlechten Gedanken bei Seite. Noch war sie allein. Sie blieb vor einem der großen Spiegel stehen und schaute sich selbst ins Gesicht. Sie sah in zwei große, türkisfarbene Augen, die von einem dichten Wimpernkranz umrandet wurden. Sie strich über ihre Wangen und richtete ihren Zopf, aus dem sich ein paar dunkle Locken gelöst hatten. Ihre gute Figur versteckte sie wie so häufig unter einer weiten Jogginghose und einer Kapuzenjacke. Sie war keines dieser schlanken Mädchen, die im Sommer übrig gebliebene Stofffetzen als zu kurz geratene Röcke trugen. Sie hatte breitere Hüften und einen runderen Po als viele Frauen und fühlte sich manchmal wie eine schlechte Kopie der jungen J.Lo, allerdings wirklich in ihren ganz jungen, nicht operierten Jahren. Sie hatte sich in der Vergangenheit oft mit Malia nur deshalb gestritten, weil ihre Freundin ihr vorgeworfen hatte, sich trotz ihrer türkisfarbenen Augen, ihren vollen Lippen und ihren braunen Curls über ihren Po zu beschweren, den Cassie gern unter langen Oberteilen oder Jacken versteckte.

Sie atmete tief durch, packte ihre Jacke zur Seite und schnappte sich den alten CD-Player. Dort legte sie die CD ein und drückte die Play-Taste. Sie schloss die Augen und versuchte, die Routine noch mal vor ihrem geistigen Auge abzurufen. Dabei ratterte der Player leise vor sich hin. Die Anlage des Jugendzentrums hatte vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben, deshalb mussten sie sich bis zur Reparatur mit einem alten Player aushelfen.

Als die ersten Töne des Instrumentals ertönten, spulte sie die Schritte vor ihrem geistigen Auge ab. Natürlich würden sie während des Battles nicht denselben Song bekommen, doch die bpm-Zahl würde identisch sein. Sie mochte die komplizierten, schnellen Schrittkombinationen, die sich ihre Freundinnen zusammen ausgedacht hatten. Sie zeigten ihr Körpergefühl, ihre Musikalität und ihre Leidenschaft für Tanz.

Sie ließ die Musik durch ihren Körper strömen und bewegte sich, ohne darüber nachzudenken, zum Beat. Im Spiegel sah sie ihr eigenes Spiegelbild, das sich mit präzisen Bewegungen dem Fluss der Musik anpasste. Sie schaltete Ihren Kopf einfach ab und ließ sich von der Musik führen. Sie wiederholte die Abfolge der Schritte immer wieder, bis sie ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren. Sie verlor sich so sehr darin, die Routine zu perfektionieren, dass sie den Streit mit ihrer Mutter vergaß.

Als sie am Abend das Jugendzentrum gemeinsam mit Esra verließ, hatte die Luft sich noch einmal deutlich abgekühlt, also zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke nach oben und lief mit ihrer Freundin los in Richtung Haltestelle.

Nur wenig später betrat sie den Flur der kleinen Dachgeschosswohnung, zog die Jacke aus und hing sie an die kleine Garderobe des in Mint-Tönen gestrichenen Flurs. Durch ein Fenster war er tagsüber lichtdurchflutet. Unmittelbar rechts von ihr befand sich das Badezimmer mit Dusche und Badewanne. Hinter dem Bad befanden sich die Küche und das Wohnzimmer mit Balkon. Sie hatten es in erdigen Tönen gestrichen und mit Familienfotos dekoriert. Links vom Eingang befand sich Cassies kleines Zimmer, dass sich über zwei Etagen erstreckte. Das war jedoch nicht ganz so dekadent, wie es im ersten Augenblick klang. Im unteren Teil des Zimmers fanden lediglich ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch Platz. Den Schreibtisch hatte Cassie allerdings aus Platzgründen schon unter die kleine Treppe gestellt, die nach oben in ihren Schlafbereich führte. Der war jedoch gerade mal so groß, dass sie ein Bett hatte hereinstellen können. Hinter Cassies Zimmer befanden sich das Zimmer von Willow und das Schlafzimmer ihrer Mutter.

Cassie horchte in die Stille der Wohnung hinein und atmete erleichtert auf. Ihre Mutter schien bereits zu schlafen, also drohten keine neuen Diskussionen. Sie nahm noch eine kurze Dusche, bevor sie schließlich müde in ihr Bett fiel und ihre Augen schloss. Erst jetzt, als sie langsam zur Ruhe kam, schlichen sich diese blauen, schönen Augen in ihr Gedächtnis zurück. Seit sie diesen Jungen vor ein paar Wochen kennengelernt hatte, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte sie nicht einmal gekannt und ihr trotzdem geholfen. Er hatte sie einfach völlig uneigennützig beschützt, ohne sie anzubaggern. Das hatte ihr wirklich gefallen. Wieso zur Hölle hatte sie John nicht einfach nach seiner Nummer gefragt?

Ich weiß. Es war ein Kapitel ohne John. Aber ich wollte, dass ihr Cassie etwas besser kennenlernt. Ich bin gespannt, ob ihr sie mögt. Schreibt es in die Kommentare.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top