01 | The Bottom

Okay, Girls (and Boys?), hier kommt es, das erste offizielle Kapitel. Ich wünsche ich viel Spaß und bin gespannt, wie euch die Geschichte gefallen wird :) Schreibt es in die Kommentare.

2009.

„Pass doch auf, wo du hinläufst!"

Sie schaute dem großen Typen gereizt hinterher, doch er schenkte ihr keinerlei Beachtung, sondern setzte seinen Weg durch die Menschenmenge unbehelligt fort. Sie unterdrückte das Bedürfnis, ihm die kleine Wasserflasche in ihrer Hand an den Kopf zu werfen. „Blödes Arschloch!", brüllte sie ihm nach, doch er drehte sich nicht einmal zu ihr um. Stattdessen verschwand der Riese in Hoodie und einer dieser lächerlichen, viel zu großen Hosen, die in den Kniekehlen hingen, im dichten Gedränge. Wann verstanden diese Hiphop-Geeks, dass das nicht lässig wirkte, sondern einfach nur peinlich aussah?

„Chill doch mal, Cassie!"

Die Stimme ihrer Freundin riss die Dunkelhaarige mit den wilden Locken aus ihren Gedanken. Cassie fuhr herum und schaute in die braunen Augen ihrer brasilianischen Freundin Alessa, die sie überhaupt erst hierhergeschleppt hatte.

„Was für Chill doch mal? Der Arsch ist in mich reingelaufen, so, als wäre ich gar nicht existent!", erwiderte sie aufgebracht. Sie war es wirklich satt, dass die Menschen glaubten, sie könnten sie aufgrund ihrer Körpergröße herumschubsen.

„Du hast es doch überlebt", sagte Alessa versöhnlich und Cassie folgte ihr in Richtung Ausgang der kleinen Eventlocation. The Bottom.

Die inzwischen mehr oder minder heruntergekommene Halle repräsentierte alles, wofür der Untergrund stand. Der Putz bröckelte bereits von den oft beschmierten Wänden, die teils unverkleideten Lichter strahlten oftmals nur schwach bis gar nicht und die Toiletten waren praktisch kaum noch nutzbar. In den engen, überfüllten Gängen war es heiß und stickig. Cassie konnte es kaum erwarten, endlich wieder frische Luft zu atmen.

„Tut mir leid, aber meine Laune ist heute echt nicht die beste", gestand Cassie, als sie endlich die großen, offenstehenden Türen erreichten.

„Wäre mir gar nicht aufgefallen, hättest du das nicht erwähnt", kommentierte Alessa trocken, als sie ins Freie traten. Für Cassie war die große Schönheit mit den blondierten Locken und der perfekten Bikini-Figur vielmehr wie eine Schwester. Sie kannten sich seit der ersten Klasse und hatten bisher unglaublich viel zusammen durchgestanden; von den Problemen in der Schule oder mit Jungs über die Trennung von Cassies Eltern bis hin zum Tod von Alessas Bruder. Cassie war heute nur wegen ihr hier.

Cassie liebte die ganze Hiphop-Kultur wirklich sehr; sie war mit ihr aufgewachsen und tanzte, seitdem sie denken konnte. Sie lebte für die Musik; für sie war es keine Modeerscheinung, sondern eine Lebenseinstellung.

Doch heute hatte Cassie einfach keine Lust auf diese ganzen seltsamen, reimverliebten Typen, die heute beim Freestyle-Battle ein paar Lines zum Besten gegeben hatten und von irgendwelchen Analytiker-Strebern ohne Leben ihre achtsilbigen Reime mit oder ohne guten Gegnerbezug auseinandernehmen ließen.

Kühle Abendluft schlug ihnen entgegen und Cassie schlang automatisch die Arme um ihren Körper. Inzwischen wurden sie von einer dichten Menschenmasse voran geschoben. Es dauerte nicht lang, bis Cassie wieder einmal von irgendeinem Idioten angerempelt wurde. Ihm und seinen Freunden ging es offenbar nicht schnell genug, also versuchten sie, sich an den anderen vorbei zu drängeln.

Instinktiv griff Cassie nach Alessas Hand, wie sie es immer in solchen Situationen tat, um sie nicht zu verlieren. Sie griff ins Leere. Normalerweise wäre sie jetzt nervös geworden, doch sie waren bereits draußen und würden sich einfach auf dem Parkplatz wiedertreffen, an dem der kleine Gehweg endete, wenn sich die Menge auflösen würde.

Plötzlich blieb die Menschentraube stehen. Unmittelbar vor ihr war ein riesiger Tumult entstanden, doch sie sah nur die Rücken und Köpfe der Menschen vor sich. Von hinten drückten ungeduldig die Jungs, die noch immer versuchten, schneller voran zu kommen - gemeinsam mit anderen.

Die eben noch so kühle Abendluft fühlte sich plötzlich stickig und heiß an. Cassie griff erneut nach Alessa, bekam jedoch nur den Ärmel einer Camouflage-Jacke eines großgewachsenen Typen zu fassen. Hilfesuchend schaute sie sich nach ihrer Freundin um, konnte sie jedoch nicht mehr sehen. „Alessa?"

Als sich vor ihr nichts mehr bewegte, sie jedoch in die Menge hineingeschoben wurde, versuchte sie, irgendwie nach rechts aus der Menschenmenge heraus an den Rand zu gelangen, doch sie schaffte es nicht. Sie steckte fest. Sie kam weder vor noch zurück, war gefangen zwischen den ganzen großen Jungs um sich herum und schaute sich immer wieder hilflos zu allen Seiten um.

Sie wollte ihnen sagen, dass sie aufhören sollten, nach vorn zu pressen, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und ihr Brustkorb zog sich zusammen. Ihr Rücken tat ihr weh und als ihr schwindelig wurde, versuchte sie, sich irgendwie an ihrem Vordermann festzukrallen, um sich bemerkbar zu machen.

„Alessa!", rief sie panisch, als sie spürte, wie ihre Beine weicher wurden und zu zittern begannen. Die Luft wurde immer dünner, ihr Mund immer trockener und der Druck auf ihren Körper von allen Seiten dafür stärker. Sie schnappte verzweifelt nach Luft, als diese aus ihrer Lunge wich. Der Druckschmerz wurde nahezu unerträglich. „Alessa!"

Ihre Stimme versagte. Die Finger ihrer linken Hand krampften sich um den Oberarm ihres großen Vorgängers, die Finger ihrer rechten Hand krallten sich in seinen Rücken. „Cassie?"

Sie hörte den Ruf ihrer Freundin, konnte sie jedoch nicht sehen. Dafür fuhr der Typ in der Camouflage-Jacke aufgebracht zu ihr herum und schaute gefährlich auf sie herab. Er war etwa einen Kopf größer als sie, trug eine schwarze Snapback, hatte vermutlich blaue Augen, obwohl Cassie das in ihrer Panik schlecht einschätzen konnte, und schmale Lippen. Ein unbekannter Parfumduft vermischte sich mit einem intensiven Grasgeruch. Vermutlich hatte er gerade erst seinen letzten Joint geraucht. Er musterte Cassie kurz gereizt, dann auf einmal erkannte er den Ernst der Lage und sein Gesichtsausdruck änderte sich. Plötzlich lag Besorgnis in seinen Augen.

„Hey! Passt auf das Mädchen auf! Ihr erdrückt sie noch!", schrie er die drängelnden Typen hinter ihr an, schlang sofort seinen Arm schützend um ihren Körper und zog sie an sich heran. Cassie klammerte sich an ihn und versuchte, in seiner Nähe zu bleiben.

„Hört auf zu drücken! Es geht gleich weiter!", schrie er sie an, dann schaute er in ihre meeresblauen Augen. Sein Blick ließ sie erschaudern, hatte jedoch trotz der unangenehmen Situation etwas sehr Beruhigendes; ebenso wie seine markante Stimme. „Ich bring dich hier raus. Halt dich einfach an mir fest. Dann passiert dir nichts."

Cassie nickte und hielt sich an ihm fest, während sie in seinen leicht geschlossenen Augen versank.

„Cassie?!"

Alessas Stimme brach den Bann zwischen ihnen.

„Ich bin hier!", rief sie, ohne zu wissen, wo genau sie überhaupt war.

Der Unbekannte schaute auf Cassie herab und schlang seine Arme noch fester um ihren Körper. Eine ganze Weile standen sie einfach nur so da und warteten. Cassies Puls normalisierte sich langsam, doch wirklich Luft bekam sie noch immer nicht. Ihr war schlecht und sie versuchte, den Kopf weiter nach oben zu recken, um freier zu atmen.

„Hab keine Angst. Es geht weiter", sagte ihr unbekannter Retter und schob sie behutsam vor sich her. Er ließ sie erst wieder los, als sie den großen Parkplatz erreichten und sich die dichte Menschenmenge langsam auflöste.

Cassie füllte ihre Lungen mit allem, was die Atmosphäre hergab. Ihre Rippen und ihr Rücken schmerzten so schlimm, dass sie glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Erst, als sie ihre Augen wieder aufschlug, betrachtete sie ihren Retter das erste Mal bewusst.

Er trug einen dunklen Pullover unter seiner offenen Camouflage-Jacke, dazu eine dunkle Hose. Mit seiner großen Statur und dem düsteren Blick wirkte er bedrohlich, doch das änderte sich, wenn er eindringlich in ihre Augen schaute.

„Bist du okay?"

Sie versuchte ruhig zu atmen und nickte zaghaft.

„Ja, geht schon wieder. Danke", antwortete sie leise.

„Sicher?", hakte er nach, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden.

„Ja, es geht mir gut. Danke", versicherte sie ihm, bevor sie sich suchend nach Alessa umschaute. Sie konnte sie noch nicht sehen.

„Schon okay", sagte er und schenkte ihr ein überraschend sympathisches Lächeln. Erst jetzt erkannte sie ihn.

„Du hast vorhin auch gerappt, oder?", fragte sie.

Sein Lächeln steckte sie an.

„Ja, hat es dir gefallen?", antwortete er.

„Du warst ganz gut. Wie heißt du nochmal?", fragte sie.

Er lächelte, dann hielt er ihr seine Hand hin.

„John."

Sie nahm seine Hand und schüttelte sie kurz. Seine Haut war kühl und etwas rau.

„Ich bin Cassie."

„Da bist du ja! Gott sei Dank!"

Alessa war an sie herangetreten und beobachtete die Szenerie misstrauisch von der Seite. John beachtete sie jedoch gar nicht, sondern schaute weiterhin in Cassies Augen.

„Hat mich gefreut, Cassie", sagte er, dann drehte er sich um und ging; einfach so.

Sie schaute ihm kurz sprachlos hinterher.

„Geht's dir gut?", fragte Alessa besorgt, als John außer Hörweite war.

Cassie nickte gequält.

„Geht schon wieder, aber mein Rücken tut weh", antwortete sie.

„Willst du zu einem Arzt?"

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, ich will nur nach Hause."

Alessa nickte, dann setzten sie sich in Bewegung. Ihre Freundin musterte Cassie erwartungsvoll von der Seite.

„Wer war dein neuer Freund?", fragte Alessa neugierig, als sie nicht von selbst zu erzählen anfing.

„Ja, du hast dich ja rar gemacht", grinste Cassie.

Alessa erwiderte es.

„Also hast du dich an den Nächstbesten rangeschmissen, der dir vor die Nase gelaufen ist", schlussfolgerte sie.

„Die haben so gedrückt von hinten. Er hat mich festgehalten und darauf geachtet, dass ich nicht untergehe. Ich hatte wirklich Schiss, aber er hat mir geholfen", antwortete Cassie.

„Das war wirklich cool von ihm", räumte Alessa ein, „und dann hast du ihn nach seiner Nummer gefragt?"

"Nee. Wieso das denn?", fragte Cassie verständnislos. Alessa verdrehte die Augen. „Kein Wunder, dass du Dauersinge bist!"

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