17 | Die Schnittstelle
Die Nacht hatte sich nun vollständig über die Traumwelt gelegt, als drei Gestalten schweigend durch den düsteren Wald schritten, dessen Nebel nur für sie eine schmale Schneise durch die Finsternis zu öffnen begann. Das gelegentliche Knirschen von Ästen unter ihren Füßen durchbrach die Stille und Nebelschwaden krochen zwischen den knorrigen Bäumen hervor und verfolgten ihre Beine wie träge, hungrige Schatten, ohne sie jedoch erneut zu umschließen. Der Mond schob sich langsam und unwirklich an das Himmelszelt über ihren Köpfen, sein Licht seltsam diffus, als ob er selbst Teil eines Traums wäre.
Renard ging noch immer voraus, sein Schritt war sicher und zielgerichtet, während Xander sich dicht neben Nia hielt. Er war angespannt, bereit, bei der kleinsten Bewegung zu reagieren. Nia wirkte ruhig, fast gelassen, doch Xander spürte die künstliche Präzision ihrer Bewegungen. Sie war ein Avatar, ihrer Programmierung konnte diese Situation kaum etwas anhaben, doch ihn konnte ihre Stärke nicht beruhigen. Er hatte keine Kontrolle und er hasste diesen Umstand.
Nach einer Weile, die Xander wie eine Ewigkeit vorkam, tauchte vor ihnen im Unterholz eine hohe mit Efeu und Moos überwucherte Mauer auf. In ihrer Mitte befand sich eine massive Holztür, die wie aus einer anderen Zeit wirkte. Ein halb verwittertes Relief zierte ihre Oberfläche: eine Sonne, die in einen Mond überging, umringt von seltsam verschlungenen Mustern.
„Wir sind da", sagte Renard knapp und legte eine Hand auf das Holz. Die Tür gab ein tiefes Grollen von sich, als sie langsam aufschwang. Xander erwartete einen Ausgang in die Oasis, doch hinter der Tür lag keine Straße und kein Platz, auch keine Kammer und keine Halle – sondern eine andere Welt.
„Wo sind wir?" Xander trat einen Schritt über die Schwelle der Tür und setzte seinen Fuß auf einen Boden aus schimmerndem Glas, das wie ein zerbrochener Spiegel wirkte, durch den man in eine endlose Tiefe blickte. Über ihnen spannte sich ein dunkelblauer Himmel mit hell funkelnden Sternen, die sich bewegten und Muster bildeten, wie eine uralte, lebendige Karte. In der Ferne schwebten Inseln, jede eine eigene kleine Welt, verbunden durch Brücken aus reiner Energie. Der Raum schien endlos, und doch lag eine bedrückende Nähe in der Luft, als ob etwas Großes, Uraltes sie beobachtete.
„Willkommen in der Schnittstelle", sagte Renard leise, fast ehrfürchtig. „Der Ort, an dem Traum und Realität verschwimmen. Wo alles beginnt – und endet."
Xander setzte vorsichtig den zweiten Fuß auf das Glas und spürte, wie es unter seinen Füßen vibrierte. „Was ist das?" Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Renard drehte sich zu ihm um, seine Augen funkelten vor einer Mischung aus Stolz und Wahnsinn. „Das Herz der Traumwelt. Hier wurden die ersten Traumspuren gelegt, hier werden sie gespeichert, und hier kann man sie löschen."
„Löschen?" Xander spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog. „Was meinst du damit?"
Renard deutete auf eine der schwebenden Inseln in der Ferne, auf der ein strahlender Turm stand, der wie ein Prisma aus pulsierendem Licht wirkte. „Jeder Traum, jede Erinnerung, jedes Fragment – alles kann dort gelöscht werden. Auch der Traum von Mr. Harold. Genau deswegen bin ich hier!"
Nia trat an Xanders Seite, ihr Blick ebenfalls auf den leuchtenden Turm gerichtet. Ihre Stimme war sachlich, aber angespannt. „Xander, wenn ein Traum einfach so gelöscht wird, könnte das die gesamte Traumwelt destabilisieren. Erinnerst du dich an das, was ich über das Pilzgeflecht erzählt habe? Die Traumwelt ist wie ein Netzwerk – ein empfindliches Gleichgewicht. Stell dir vor, du reißt einen zentralen Knotenpunkt heraus oder setzt ein Feuerzeug an eine kritische Stelle. Das ganze System könnte zusammenbrechen. Wenn das passiert, dürfen wir keinesfalls mehr hier drin sein!"
Renard musterte Nia mit scharfem Blick. Ein Lächeln, halb belustigt, halb argwöhnisch, spielte um seine Lippen. „Du bist ziemlich schlau für einen Avatar, nicht wahr? Oder bist du etwa gar keiner?"
Nia grinste leicht, ein Funken Trotz in ihren Augen. „Ich nehme das mal als Kompliment, Renard."
Unter anderen Umständen hätte Xander die Situation amüsiert, doch die Spannung und die drohende Gefahr ließen ihm keinen Raum für Humor. „Renard, ich verstehe deinen Zorn, wirklich. Aber wenn Nia recht hat, könnte das, was du vorhast, uns alle das Leben kosten. Und das, nur um Mr. Harold zu schaden?"
Renard schüttelte den Kopf und trat einen Schritt näher. „Es geht nicht darum, ihn zu töten. Wenn ich das gewollt hätte, wäre das längst erledigt. Ich will Yasmin befreien. Und wenn dabei auch noch Elysium Haven – dieses verlogene Paradies – zerbricht, dann wäre das ein Bonus."
„Yasmin? Ist sie...?" „Meine Schwester!", vollendete Renard den Satz. „Sie ist auf diesen Lügner Harold hereingefallen und nun ist sie hier unten gefangen. Ich muss sie rausholen, ehe es zu spät ist."
„Herausholen?" Xander starrte ihn an. „Du meinst, er hat sie absichtlich eingesperrt? Aber wie—"
„Glaub ihm kein Wort! Renard lügt, wenn er sagt, dass ich Yasmin mit Absicht hier festhalte. Aber das stimmt nicht!" Erst jetzt bemerkte Xander den Mann, der in einiger Entfernung auf dem Boden saß, an Händen und Füßen gefesselt mit Bändern aus gleißendem Licht.
Das musste Mr. Harold sein! Er war war ein Mann mittleren Alters, elegant gekleidet in einen makellos sitzenden Anzug aus weißen Leinen, dessen Stoff im Licht anmutig schimmerte. Sein Gesicht war glatt und nahezu maskenhaft, er war perfekt, wie alle Avatare im Elysium Haven. „Yasmin ist freiwillig hier und lebt mit mir glücklich und zufrieden!", verteidigte er sich.
„Nein!", unterbrach Renard nun heftig. „Yasmin ist zur Zeit mehr Tod als lebendig. Und das, was hier von ihr übrig ist, ist nichts weiter als eine Projektion. Eine Illusion. Mr. Harold redet sich ein, dass diese perfekte Welt ihm gehört; er hält sie hier fest. Ihr Bild. Ihre Existenz. Aber Yasmin liegt in der realen Welt im Koma, aus dem sie erst wieder aufwachen wird, wenn dieser Tyrann sie wieder freilässt. Und während er hier unten einen auf heile Beziehung macht, leidet meine Schwester!"
„Moment." Xanders Verwirrung wuchs. „Deine Schwester liegt im Koma. Etwa so, wie..." „Deine Mutter!" Diesmal war es Nia, die das Wort ergriffen hatte. „Sie war vor ihrem Koma auch im Elysium, habe ich recht?" Die blaugrauen Augen von Yukis Abbild sahen Xander fast traurig an. Und für einen Moment dachte er, dass es tatsächlich seine Freundin war, die ihn durch die Augen des Avatars ansahen.
„Sie war hier und hat sich verlaufen", überlegte Nia weiter. „Genauso wie Yasmin. Beide sind nicht mehr aufgewacht. Sie haben das gleiche Schicksal erlitten."
„Für Yasmin ist es noch nicht zu spät", erklärte Renard und ging auf Mr Harold zu. „Ich brauche nur die Information, wo sich ihr Traum befindet und dann werde ich sie wecken und zurückbringen. Und alle anderen Träume werde ich zerstören, damit so etwas nie mehr jemandem passieren kann!"
„Das ist Blödsinn!" Mr Harold versuchte so gerade zu sitzen, wie es ihm möglich war. „Ich halte deine Schwester hier nicht fest! Sie ist zu mir gekommen. Wir lieben uns!"
„Blödsinn? Das ist kein Blödsinn! Meine Schwester hängt an ihrem Leben! An ihrem richtigen Leben, draußen, in der richtigen Welt! Du hältst sie hier fest, weil ihr euch im realen Leben nicht sehen könnt. Was würde deine Frau über deine Affäre sagen? Du denkst nur an dich selbst und dein Image! Und die Erschaffer des Elysium verschleiern den Bug mit den Übergangsträumen. Damit sind sie mitschuldig und müssen ebenfalls bestraft werden!"
Renard trat näher an Xander, seine Augen lodernd vor Zorn und Trauer. „Meine Schwester und deine Mutter sind beide Opfer dieses Systems geworden, Xander! Deine Mutter wurde als Testsubjekt benutzt. Sie ist in einen Übergangstraum gesetzt worden und man konnte sie nicht rechtzeitig wieder herausholen, bevor ihr Geist darin zerbrach. Dir hat man erst erzählt, dass sie hier bleiben wollte und dann, dass sie krank wurde. Aber wusstest du, dass sie Geldprobleme hatte und sich für eine viel zu geringe Summe dieser Gefahr bewusst ausgesetzt hat? Dass dies alles ein vom Institut geplanter Versuch war?"
„Meine Mutter hat einem Versuch zugestimmt?" Xander konnte es nicht glauben. Alles, was er über das Elysium und seine Mutter zu wissen gedacht hatte, geriet plötzlich ins Wanken. „Sie hat erzählt, dass sie die Traumreise in der Lotterie gewonnen hat. Wir dachten, es wäre endlich die Belohnung für ihre harte Arbeit. Einmal frei und sorglos sein, das war alles, was sie sich gewünscht hat!"
Xanders Hände ballten sich zu Fäusten, als er daran dachte, dass dies alles eine Lüge war. Dass er selbst dem Unternehmen, das ihm seine Mutter genommen hatte, auch noch unterstützt hatte. Auf einmal stieg in ihm ebenfalls eine ungeahnte Wut empor.
„Frei und glücklich sein, das wollte auch Yasmin!" Renard lachte bitter. „Sie wollte sich einfach nur hier mit jemandem treffen, in dem sie sich verliebt hatte. Ich dachte, es wäre harmlos, bis sie eines Tages nicht mehr aufgewacht ist. Dann begann ich mich an alles zu erinnern, was sie mir je über ihren Liebhaber erzählt hatte und begann zu recherchieren."
Renard trat näher an Harold heran, seine Augen dunkel und voller unbändiger Emotionen. „Dann habe ich ihn gefunden. Mit Hilfe einiger Verbündeter, konnte ich ihn identifizieren und überführen. Ich musste nur noch auf eine Gelegenheit warten."
„Verbündete?" Die Offenbarung traf Xander wie ein Schlag. Verbündete Renards bedeuteten Spione, denen er vertraut hatte. Wer hatte ihm geholfen und das Institut dabei verraten? Wer hatte sonst noch ein Interesse daran, diesen Fall aufzuklären?
Doch bevor er danach fragen konnte, begann der Raum um sie herum zu vibrieren. Ein tiefes, bedrohliches Summen erfüllte die Luft, und die Sterne über ihnen schienen sich schneller zu bewegen, wie ein Uhrwerk, das aus dem Gleichgewicht geraten war.
„Wir haben nicht viel Zeit", sagte Renard und schaute auf seinen Transponder. „Die Wächter werden kommen. Und sie werden keine Gefangenen machen."
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