12 | Dream

Xander spürte den Druck des Denkdeckels auf seinem Kopf nur für einen Augenblick. Dann wurde das Bild um ihn herum schwarz, bevor es in den lebendigsten Farben wieder auftauchte.

Neugierig ließ Xander seinen Blick durch den Traum schweifen. Er saß auf einer weich gepolsterten, roten Sitzbank am Fenster eines typisch amerikanischen Diners. Auf dem blank geputzten Tisch vor ihm standen Ketchup- und Senfflaschen, ein Serviettenhalter sowie Salz- und Pfefferstreuer, die allesamt perfekt in Szene gesetzt waren. In der polierten Chromkante des Tisches konnte er fast sein eigenes Spiegelbild sehen und aus einer alten Jukebox in der Ecke drang leise ein Rock'n'Roll-Klassiker.

Außer ihm waren noch andere Gäste im Diner, doch sie wirkten wie Statisten in einem Spiel – „NPCs", dachte Xander, deren einziger Zweck es war, in Aktion zu treten, wenn der Protagonist sie dazu aufforderte. Heute war dieser Protagonist zur Abwechslung er selbst. Hektor hatte ihm den Traum einer Kundin zugewiesen, die diese Nacht keine Sitzung mehr hatte, und so bot sich Xander die Möglichkeit, durch ihren Traum in die Traumwelt einzutauchen. Alles, was er tun musste, war den Ausweg zu finden.

Er ließ seinen Blick weiter durchs Diner wandern und blieb schließlich an einem Kellner hängen, dessen makellos weiße Schürze ein romantisches, fast zu schönes, Bild von einem Mitarbeiter vermittelte. Xander erinnerte sich an seine eigenen Erfahrungen in der Küche und im Service – und an seine Kleidung, die nach einem langen Tag eines sicher nie geblieben war: sauber. Aber dies war nicht die Wirklichkeit; es war ein konstruktiver Traum, und er schien inspiriert von einem Tarantino-Film oder den nostalgischen Archie Comics.

Xander gefiel, was er sah und er hätte die Träumerin gern kennengelernt, um mehr über ihre Fantasie zu erfahren, doch dafür war jetzt keine Zeit. Er musste hier schnell wieder raus, um Renard zu finden und ihn zu stoppen. „Ober?", rief er eilig und winkte den Kellner heran, der mit einem leicht tänzerischen Schritt auf ihn zukam.

„Hallo und willkommen im Hawthorne Grill, Sir. Was darf ich Ihnen bringen? Vielleicht ein Stück von unserem berühmten Pumpkin Pie? Oder einen Honey Bunny Milkshake?"

Xander konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. „Nein, danke", erwiderte er schmunzelnd. „Ich würde nur gerne wissen, wie ich in die Oasis komme."

„Sie wollen in die Oasis? Dann rufe ich Ihnen Ihren Traumreiseleiter. Einen Moment..."

„Nein, warten Sie", sagte Xander schnell. Er hatte vergessen, dass er diesmal nicht in der Rolle eines Reiseleiters hier war, sondern als Träumender. „Ich habe mich falsch ausgedrückt. Wo tritt mein Reiseleiter gewöhnlich in die Traumwelt ein?"

Der Kellner sah sich um, als würde er nachdenken. Dann sagte er mit monotoner Stimme: „Das weiß ich leider nicht."

Xander überlegte kurz, dann versuchte er es anders: „Wenn ich dieses Diner verlasse, wohin muss ich mich wenden, um Besuch zu empfangen?"

Wieder zögerte der Avatar, bevor er erneut antwortete: „Das weiß ich leider nicht."

Xander stöhnte auf. Das war ja schwieriger, als einem Politiker eine klare Antwort zu entlocken.

„Frag ihn mal, ob dein Blind Date schon da ist", ertönte plötzlich Hektors Stimme an seinem Ohr. Xander zuckte zusammen; er hatte völlig vergessen, dass Hektor mithören konnte.

„Mein Blind Date?", echote er. „Ich habe gar keines bestellt!"
Hektor lachte im Kontrollraum, gefolgt von einem dumpfen Husten. Der Arme hatte ganz schön einstecken müssen. „Es ist Teil ihrer Welt; hier trifft sie sich gewöhnlich mit ihrem Liebhaber. Und da er heute nicht kommen wird, muss deine Fantasie das erledigen. Vielleicht kommst du so raus."

„Also gut, dann mach ich es eben wie sie ... Können Sie mir sagen, wann mein Date eintrifft?"

„Natürlich", antwortete der Ober mit einem höflichen Nicken. „Ihr Date sollte jeden Moment hier sein. Das Übliche?"

Xander zuckte die Schultern. „Ja, warum nicht."

Der Ober verbeugte sich leicht und verschwand hinter die Theke. Xanders Blick wanderte ziellos durch den Raum, bis er an der Tür hängen blieb. Genau in diesem Moment öffnete sie sich.

Ein großer Mann trat ein. Doch noch während er den Türrahmen durchschritt, begann er sich zu verändern. Seine Gestalt schrumpfte, wurde schlanker, und sein Gesicht wirkte plötzlich jünger. Der Bart zog sich zurück, als würde er nach innen wachsen, bis nichts mehr davon übrig war. Gleichzeitig wurden die Haare länger, schlohweiße Wellen, die ihm bis knapp auf die Schultern fielen. Die markante Kieferpartie verschwand, dafür traten hohe Wangenknochen hervor. Um die graublauen Augen bildeten sich dichte, lange Wimpern.

Mit einem lasziven Hüftschwung näherte sich die Erscheinung Xanders Tisch und setzte sich ohne zu zögern ihm gegenüber. Zierliche Finger glitten über die glatte Oberfläche des Tisches, bevor sie dort verharrten. Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war unergründlich und schien ihn zugleich zu durchbohren.

„Hallo. Wie schön, dich heute hier zu sehen! Wie heißt du?"

Xander blieb für einen Moment der Mund offen stehen. Er hatte in der Traumwelt schon so einiges erlebt, aber eine Verwandlung wie diese war selbst ihm noch nie untergekommen.

„Yuki?" Seine Stimme war voller Erstaunen. Er konnte kaum glauben, dass die KI sie so perfekt getroffen hatte. Fast perfekt. Die kleine Narbe über ihrem linken Auge fehlte – ein Detail, das er wohl im ersten Moment vergessen hatte zu bedenken.

„Ist das eine Frage oder die Antwort?" Der Avatar lächelte vergnügt und wickelte spielerisch eine Haarsträhne um ihren Finger, die ihr ins Gesicht gefallen war.

„Xander! Ich heiße Xander. Und du bist Yuki", stieß er schnell hervor. „Wir haben uns schon einmal getroffen!"

Der Yuki-Avatar legte den Kopf schief und sah ihn neugierig an. „Oh, wirklich? Woher kennen wir uns denn?"

Xander grinste. Es war zugleich faszinierend und irritierend, mit der Liebe seines Lebens zu sprechen – einer Version von ihr, die keine Ahnung von ihm hatte.

„Wir haben uns im Krankenhaus kennengelernt", sagte Xander leise und griff spontan nach der Hand des Avatars. Er wusste, dass die Berührung nur in seinem Kopf stattfand, und doch fühlte es sich fast echt an – warm und tröstlich. „Du warst sehr liebevoll mit deinen Patienten. Ich war so beeindruckt, dass ich dich gefragt habe, ob du mit mir ausgehen würdest."

„Und was habe ich geantwortet?" Yuki sah ihn mit einem neugierigen, fast schelmischen Blick an.

„Du hast Nein gesagt." Xander lachte kurz, ein bittersüßes Lachen, das nicht ganz zu seinen Augen passte. Damals hatte ihm nicht der Sinn nach Lachen gestanden.

Seine Mutter hatte mehrere Wochen im Koma gelegen und war danach nicht mehr dieselbe gewesen. Fast jeden Tag hatte er an ihrem Bett gesessen, ihre Hand gehalten und gehofft, dass sie die Augen wieder öffnete und ihn ansah. Doch als sie schließlich wieder bei Bewusstsein war, hatte sie fast alle Erinnerungen verloren. Nicht einmal an ihren eigenen Sohn konnte sie sich erinnern.

„Ich habe es bestimmt nicht böse gemeint", durchbrach Yuki seine Gedanken, ihre Stimme warm und tröstlich.

„Natürlich nicht", erwiderte Xander schnell. „Es waren die Umstände. Aber jetzt sind wir ja hier." Er grinste, und die Yuki vor ihm spiegelte sein Lächeln, als wäre es das Natürlichste der Welt.

„Also, Xander", begann sie mit spielerischer Leichtigkeit. „Was möchtest du machen? Wollen wir uns einen riesigen Schokoeisbecher teilen? Oder vielleicht ein wenig das Tanzbein schwingen?"

Xander blickte kurz nach draußen, wo die Traumwelt in ihrer surrealen Schönheit lockte. Es reizte ihn, Zeit mit Yuki zu verbringen, doch er hatte eine Mission zu erfüllen.
„Ich würde gern spazieren gehen", erklärte er. „In der Oasis. Weißt du, wie ich dort hinkomme?"
Yuki lächelte verschmitzt und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Natürlich. Ich kann dich hinbringen!"

*August Prompt von @dorotet
„Du bist in einem Restaurant und wartest auf dein Blind Date, das dir ein Freund verschafft hat. Als die Person ankommt, stellst du fest, dass du sie bereits kennst."

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