9 - Clara de Flocon

~🌟~

Ava nimmt mir Blut ab, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Sie verliert allerdings etwas von ihrer zuvor beinahe blendend guten Laune an meine ‚unfassbar dünnen' Blutgefäße. Ich bemühe mich, nicht an Matt zu denken und habe es inzwischen aufgegeben, seine Koordinatorin diesbezüglich mit Fragen zu löchern, da man der Frau einfach nicht beikommt. Wenn sie dir sagt, dass du diese Information nicht zu Gesicht bekommst, bevor sie deine DNA in einem Plastikröhrchen hat, dann bekommst du sie davor auch nicht zu Gesicht.

„Gut", macht sie irgendwann zufrieden, sodass man sich bereits in Sicherheit wiegt und darauf hofft, dass es nun endlich vorbei ist. Doch zu früh gefreut. Sie sagt mir nichts. Stattdessen schickt sie mich zum Seelenklemptner:
„Sie nehmen jetzt die Bahn nach New Berlin und begeben sich dort in die psychologische Praxis am Alexanderplatz."

Meine Mundwinkel wandern steil nach unten.
„New Berlin? Dahin brauche ich doch mindestens eine Stunde."
„Eher eine Dreiviertelstunde. Ist das ein Problem für Sie?"
„Ja."
„Ich kann Ihnen nichts zur momentanen Situation sagen, wenn Sie nicht einen vollen Schnelldurchlauf unseres Sicherheitsprotokolls abgeschlossen haben, wie ich schon mehrmals erklärt habe."
„Habe ich eine Wahl?"
„Ich kann den Psychologen auch hierher bestellen, aber dann müssen Sie bis heute Abend warten und dürfen bis dahin weder das Haus verlassen, noch mit Agent Green sprechen."

Über eine Stunde später sitze ich also zum ersten Mal in meinem Leben auf der Couch eines Psychologen und komme mir dabei zu gleichen Teilen bevormundet und verarscht vor. Das Zimmer der Praxis ist lichtdurchflutet, etwas spartanisch eingerichtet und aus irgendeinem Grund voller Grünlilien. Außerdem steht eine etwas traurig aussehende Zimmerpalme in einer Ecke, gleich neben einer weißen Minigießkanne. Als sich die Tür öffnet, erwarte ich halb, dass jemand wie Ava in den Raum kommt. Bleistiftrock, hohe Schuhe und smarte Brille. Doch erstens ist es keine Frau und zweitens kenne ich die Person.
Es ist Joey.

„Oh", mache ich überrascht, gefolgt von einem wütenderen, langgezogeneren „Oooohhh".

„Hallo, Miss Flocon", sagt er professionell distanziert, schaltet die ‚Record' Funktion seiner Watch ein und setzt sich auf den weißen Stuhl mir gegenüber, „Oder darf ich Sie weiterhin Clara nennen?"

Er kann wohl aus meinem wütenden Blick lesen, dass diese Sitzung wahrscheinlich in einer Schlägerei enden wird, wenn er das tut. Natürlich arbeitet er auch für Ava. Ich dachte mir schon, dass es verdächtig ist, dass er plötzlich mit mir redet. Und ihr wundert euch alle, dass ich Vertrauensprobleme habe.

Joeys Augen funkeln amüsiert. Obwohl sein Ton völlig eben ist, strahlt er immer noch dieselbe Freundlichkeit aus, wie sonst. Gerissen, der Typ.

„Was ist das hier, ein Verhör?"
„Nur ein lockeres Gespräch. Ich würde es begrüßen, wenn wir ehrlich zueinander wären", sagt er.
„Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich in Ruhe lassen würden."
„Lassen Sie mich bitte ausreden?", fragt er ungebrochen freundlich. Das ist doch eine Masche.

„Ich wurde beauftragt, ein psychologisches Gutachten zu Ihrer Person zu erstellen. Dafür habe ich sie über den Lauf der letzten Monate beobachtet. Erst letzte Woche wollte das Department, dass ich mit Ihnen in direkten Kontakt trete und mir so ein noch deutlicheres Bild mache", er nimmt einen schlanken blauen Ordner aus seiner Tasche und legt ihn auf den Tisch vor sich, „da sie für eine hochpriorisierte Mission in Frage kommen und mit ihrer begrenzten Erfahrung ein deutliches Sicherheitsrisiko darstellen."

Es hört sich so an, als säße ich der einzigen Person des Departments gegenüber, die die ganze Sache für genauso hinverbrannt hält, wie ich. Vielleicht kann ich ihn dazu bekommen, mich für unfähig zu erklären. Das wäre eine elegante Lösung all meiner Probleme.

„Du hast mich gestalkt", stelle ich klar, „Monatelang."
„Ich habe nur meine Arbeit getan. Außerdem hat es Sie nicht wirklich tangiert, dass ich Sie beobachtet habe. Ich habe nie durch ihr Fenster gespäht oder ihren Müll durchwühlt."
„Beruhigend, Sie Creep. Studieren Sie überhaupt noch?"

Er schüttelt leicht den Kopf. Gibt mir anscheinend Raum, das alles zu verarbeiten. Ich schreie innerlich unartikuliert, muss aber irgendwie einen kühlen Kopf bewahren. Ich sehe es nicht ein, ausgerechnet hier meine Contenance zu verlieren, nachdem ich Matt Auge in Auge gegenübergestanden bin und mit keinem Muskel gezuckt habe. Joey klappt seinen Ordner auf und klopft auf einen Absatz, ohne ihn zu lesen.

Die Regierung will mich auf 450 Euro Basis als Werkstudentin einstellen. Wenn ich nein sage, verliere ich mein Stipendium, weil eine Frau mit bedenklich hohem Koffeinkonsum es so will. Et cetera, et cetera ... und ich bin inzwischen so verdammt paranoid, dass ein Typ mit Dauerwelle hier aufschlägt und mir verkündet, dass er das letzte halbe Jahr in irgendeinem Bunker gecampt und Friends geschaut hat, dass ich jedes Mal zusammenzucke, wenn mich jemand anspricht", zitiert Joey frei in seinem samtigen Bariton, der an dieser Stelle aber seine beruhigende Wirkung weit verfehlt. Ich halte die Luft an. Scheiße, scheiße, scheiße. Können Sie mich dafür in den Knast stecken? Wahrscheinlich.

„Ja", mache ich wage, hinter meinem Poker Face sehr bemüht, nicht durchzudrehen, „Das war nicht besonders smart. Ich habe nicht um diesen Job gebeten, okay? Kann ich jetzt wieder gehen?"

„Leider nein", schmunzelt er, „Das Department wollte Sie schon länger unter Vertrag haben, damit Sie nicht über die Geschehnisse auf der Callisto sprechen können. Hätten Sie je Anstalten gemacht, Greens Identität zu verraten oder irgendwie Kontakt mit der Presse aufgenommen, hätten wir jede Menge Ärger am Hals gehabt. Deshalb das psychologische Profil und die Beschattung. Ich denke wir waren diskret genug, um Ihnen keine Unannehmlichkeiten zu machen."

Ich lache auf.
„Darum geht es hier? Um Matt auf dem Kreuzer? Deswegen will das fucking Department, dass ich einen Vertrag unterschreibe? Das mache ich freiwillig, hättet ihr nur mal fragen müssen!"

„Hm", macht Joey. Ich brauche einen Moment, um zu kapieren, dass er wirklich überrascht ist.

„Ist das alles?", knurre ich, „Kann ich dann zu meinen Klausuren zurück? Es interessiert mich auch gar nicht mehr, was hier für eine fette politische Krise am Laufen ist, ich will einfach nur meine Ruhe."

„Da wäre nur nich eine Sache ..."

„Jetzt machen Sie mal nen Punkt!"

„Miss Flocon, ich muss Sie bitten, sich zu setzen."

„Junge", ich denke gar nicht daran, mich wieder zu setzen, „- wie auch immer Sie wirklich heißen - ich habe es schon einmal gesagt und ich werde es wieder sagen: ich bin total ungeeignet für was auch immer Sie alle von mir wollen."

„Da ist das Department anderer Meinung. Spielen Sie mit, dann kann ich Sie schneller wieder gehen lassen. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht ‚Junge' nennen würden."

Ein Stift klickt und er beginnt, irgendetwas aufzuschreiben, das ich aus diesem Winkel nicht lesen kann. Wahrscheinlich ‚Patientin aggressiv', dabei halte ich mich noch sehr zurück, wie ich finde.

„Lassen Sie uns mit dem Screening anfangen."

„War das erst das Warm Up, oder was?", frage ich entsetzt.

„Gewissermaßen. Sie können auch gerne spazieren gehen im Raum, wenn Sie sich dann wohler fühlen. Lockeres Gespräch, wir erinnern uns? Wollen Sie ein Glas Wasser?"

Ich lasse mich zurück auf die Couch fallen, während er aufsteht, zu einem Beistelltisch geht und dann ein Glas Wasser mit einer Zitronenscheibe vor mir auf die Glasplatte stellt. Er trägt drei schmale Ringe an der rechten Hand, alle golden und abgerundet. Joey lässt sich in den Stuhl zurückfallen, löst nebenbei den Haargummi aus seiner Mähne, und beginnt, damit herumzuspielen, während er auf meine Akte hinunter und dann wieder in meine Richtung sieht, wahrscheinlich um zu betonen, wie locker das Gespräch doch ist. Leider erinnert mich der Haargummi an Matt und eine bestimmte Szene in einer Abstellkammer auf einem föderativen Kreuzer. Mein Gesicht brennt. Der Psychologe scheint es nicht zu bemerken.

„Sind Sie entspannt?", fragt er, „Alles in Ordnung?"

„Fangen Sie endlich an."

Er nickt.
„Sie wurden mit einem vollen Stipendium an der Universität in New Seoul angenommen. Davor waren Sie Rekrutin des föderativen Militärs. Das muss eine große Umstellung gewesen sein."
„Schon", antworte ich wage.
„Haben Sie noch Kontakt zu ihren ehemaligen Team Kameraden?"
„Sporadisch."
„Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir in ganzen Sätzen antworten würden."
„Ja, sporadisch."

Er wirft mir einen Blick zu und ich denke schon, dass ich jetzt Bekanntschaft mit seiner bösen Seite mache, als er mitfühlend fragt: „Sind Sie manchmal einsam?"
Er hätte mir auch direkt eins mit seiner Zimmerpalme überziehen können.
„Äh", mache ich, „Nein?"
„Welche Beziehung haben Sie zu Agent Matthias Green, Callsign ‚Symphony'?"
Oder mit seinem Schreibtisch.
„Was wollen Sie damit andeuten?"
„Gar nichts", sagt er unschuldig und bindet sich wieder die Locken zusammen, wobei er ein paar vergisst, die ihm kringelig in die hohe Stirn hängen, „Sie haben sich vor circa einem halben Jahr kennengelernt, nicht wahr? Würden Sie ihn gerne wiedersehen?"

Ich lache verloren auf.
„Nein. Alles, nur das nicht. Bitte. Und ganz dumm gefragt: wäre es nicht klüger gewesen, mich beiläufig auf einen Kaffee einzuladen, anstatt mich nach New Berlin zu zitieren, wie eine Verbrecherin?", frage ich, „Das schafft einen sehr guten Nährboden für Misstrauen, wie Ihnen vielleicht aufgefallen sein dürfte."

„Ich wollte Sie tatsächlich auf einen Kaffee einladen, aber ich bekomme meine Befehle leider auch von oben. Die Situation hat sich geändert und ich soll Ihnen auf dem schnellsten Weg grünes Licht geben oder sie final für untauglich erklären. Zurück zum Thema."

Ich stütze den Kopf in die Hände und stöhne frustriert auf. Falls das Department es zu seinem persönlichen Ziel gemacht hat, mich in den Wahnsinn zu treiben, so sind sie auf einem sehr guten Weg. Das ‚lockere Gespräch' mit meinem ehemaligen Kommilitonen ist gespickt mit unangenehmen Fragen so ziemlich jedem Aspekt meines Lebens und damit auch zu allen Beziehungen, die ich jemals hatte. Es scheint, als hätte das Department alle meine Ex Freunde ausgegraben und von den Zehen bis zu den Erbsenhirnen durchleuchtet. Ich darf mich Fragen zu Eds Kontostand stellen und den Nachnamen seiner Großmutter buchstabieren.

Joey kommentiert jede unangenehme Offenbarung mit einem amüsierten Lippenzucken, das sich immer weiter vertieft, je länger die Liste mit den Namen wird, die wir durchgehen. Wahrscheinlich interessiert das alles das Department nicht im Geringsten, sondern sie testen damit irgendeine Form von Stressresistenz. Nie wieder mit irgendeinem reichen Schnösel ausgehen, hämmere ich mir ins Langzeitgedächtnis ein, Nie wieder ein psychologisches Screening des Verteidigungsministeriums machen. Vielleicht soll das hier mein Schamgefühl ausloten, da es ja anscheinend eine Grundvoraussetzung für das Sunhunter Department zu sein scheint, sich für nichts und niemanden zu schämen.

Als Joey sein Buch zuklappt, bin ich hochrot im Gesicht, verschwitzt und will nur noch nachhause. Vor den Fenstern der Praxis ist es dunkel geworden, Straßenlaternen leuchten und leichter Regen trommelt gegen die Scheiben. Wie bei allen guten Geistern komme ich aus der Nummer bloß wieder in einem Stück raus?

„Gut", macht der Surflehrer mit den gemeinen Fragen und steckt die Kappe auf seinen schwarzen Fineliner, „Dann sieht das soweit gut aus."
„Und was heißt das jetzt konkret?", frage ich, während er seine Brille den Nasenrücken hinaufschiebt. Joey sieht mich einen Moment nachdenklich durch die dicken schwarzen Rahmen an.
„Wir sind fertig. Ich maile Ihre Beurteilung ins HQ und dann gehen wir."
Wir gehen?"
„Sunhunter werden nach einer Mission routinemäßig psychologisch evaluiert. Ich komme mit Ihnen zurück zur Villa."

Ich muss plötzlich lachen, was ihn unvorbereitet trifft. Der Lachanfall schüttelt mich so sehr, dass ich mich am Türrahmen festhalten muss, um nicht einfach umzukippen. Ich wische mir Tränen von den Wangen und sehe wieder zu Joey auf, der immer noch unbewegt und ruhig auf seinem Stuhl sitzt.

„Was ist so lustig?", fragt er milde interessiert.

Ich winke ab. Vom Lachen habe ich Schluckauf bekommen.
„Komm', Pappas, du hast noch einen Patienten heute", immer noch sprudelnd vor Glück trete ich in den Flur hinaus und ernte einen verwirrten Blick von der Sprechstundenhilfe, „Ich hasse euch beide, aber das Jahrhundert Match würde ich nur ungern verpassen."

~🌟~

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top