5 - Clara de Flocon
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Ich habe ein Mathe Tutorium um 8:00 Uhr, eine Ethik Vorlesung um 10:00 und so gegen Mittag werde ich mich dann beim Geheimdienst der Föderation melden, um nicht mein Stipendium gestrichen zu bekommen. Ich starre meinen Tagesplan an, als hätte ich ihn nicht gerade selbst in mein Online Organisationstool eingegeben. Statt des Dates mit dem Verteidigungsministerium habe ich allerdings nur eine Emoji Sonne auf meine To-Do-Liste gesetzt. Avas Gerede von gehackten E-mail Accounts hat mir zu denken gegeben, vor allem, weil ich alleine in meinem Mathe Tutorium drei Menschen kenne, denen ich es voll zutrauen würde, Regierungs Firewalls zu umgehen.
Einen Teufel werde ich tun und mich mit dem Sunhunter Department in Verbindung bringen lassen.
Während meine Komilitonen drüben in der Bibliothek ungestört weiter an ihren Karrieren basteln, muss ich mich also mit der unberechenbarsten Instanz unserer Regierung herumschlagen. Ist ja nicht so, als hätte ich bessere Dinge zu tun während meiner Klausurenphase. Weinen zum Beispiel. Oder Lernen.
Mein Kopf schwirrt. Schließlich ist Ava MacSage persönlich aufgetaucht und hat dabei gestanden, dass sie mich seit Wochen stalkt. Es gibt doch nichts besseres, um Paranoia zu schüren, als ein bisschen autoritätes Gehabe des föderativen Geheimdienstes. Inzwischen habe ich mich diesbezüglich einigermaßen im Griff, nachdem ich gestern in mein Kissen geheult und es dann geboxt habe vor Wut darüber, dass der Staat so eine Macht über mein Leben hat.
Der Staat, Ava MacSage, der Schatten von Matthias ‚Arschloch' Green.
Jemand lässt sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Ich sehe auf, leicht angepisst, weil sich das generell nicht gehört und ich außerdem halb erwarte, dass es sich schon wieder um irgendeinen krawattentragenden Regierungsmenschen handelt, der mir einen Job anbieten will.
„Ist da frei? Ah, du bist es. Morgen."
Joey Smyrnova-Pappas wirkt etwas gestresst hinter seinem Matcha Latte. Er hält einen Stapel Papier mit halb herausgelöster Spiralbindung in der einen Hand und das in einem so unnatürlichen Winkel, dass die mit unzähligen Post-Its durchsetzten Seiten wohl als Sichtschutz dienen sollen. Er linst in Richtung Theke, aber ohne den Kopf zu drehen. Seine lehrermäßige Ledertasche schlägt gegen mein Schienbein.
„Aua", beschwere ich mich, „Geht's noch?"
„Tu bitte für einen Moment so, als würden wir ein Gespräch führen", flüstert er durch kaum bewegte Lippen über das Zischen der Kaffeemaschine hinweg. Wäre seine Gesichtsbehaarung länger als ein paar Millimeter, könnte man sagen, er nuschelt die Worte in seinen Bart.
Ich blinzle. Als Kontext dieser seltsamen Begegnung ist es vielleicht interessant, dass Joey normalerweise nicht mit mit redet. Er redet überhaupt mit wenigen Menschen, weswegen ich ihn als ein wenig arrogant abgestempelt habe. Wir haben seit geraumer Zeit Vorlesungen zusammen, er hat mir ein paar Mal die Tür aufgehalten und ich weiß nur ein paar Halbinformationen über ihn. Zum Beispiel, dass er einen Doktor in Psychologie hat, aber trotzdem in meinen AI Engineering Kursen sitzt. Außerdem scheint er sein Leben absolut im Griff zu haben - zumindest normalerweise. Er sieht mich auffordernd an, bevor sein Blick wieder nach links tanzt. Anstatt seinen Papierstapel zu senken biegt er ein paar Post-Its zur Seite, um besser sehen zu können.
„Schönes Wetter heute", sage ich verloren, „Schade, dass wir Klausuren schreiben müssen."
„Ja, nicht wahr? Nicht so auffällig hinschauen!"
Ich bin etwas irritiert und wende meine Aufmerksamkeit wieder meinem verpeilten Gegenüber zu. Er trägt ein Poloshirt und einen braunen Pulli, was das spießigste Outfit überhaupt sein könnte, wenn der Typ nicht längere Haare als ich hätte. Er hat die dunklen Locken lässig im Nacken zusammengebunden und sieht damit aus, wie eine Kreuzung aus BWL Student, Vorstadt Hipster und Surflehrer an irgendeinem Karibikstrand. Ich schreibe ‚unangenehmstes Gespräch der Woche führen' auf meine To-Do-Liste, was viel heißt in Anbetracht der Tatsache, dass ich gestern unfreiwillig Matts Koordinatorin auf einen Kaffee getroffen habe.
„Und", macht er etwas unelegant, „Was hast du am Wochenende so gemacht?"
„Ähm", ich kratze mich am Handgelenk, „Ich habe Wäsche gewaschen. Gelernt. Geputzt. Yoga gemacht."
Wieso erzähle ich ihm das? Ich kenne den Typ nicht einmal.
„Schön schön", macht Pappas, „Moment, du machst Yoga? Ist ja stark. Ich auch! Ist ein super Ausgleich zu Studium und Job."
„Versuchst du gerade, mich anzumachen?"
„Was?", er wirkt ehrlich geschockt, aber immer noch abgelenkt von irgendetwas links von uns, das ich nicht ganz verstehe, „Nein. Ich bin in einer ganz blöden Lage gerade. Erzähl mir irgendwas. Egal was."
Ich zucke die Schultern. Von meinem Bildschirm grinst höhnisch die Sonne, die ich für 15:00 Uhr in meinen Kalender eingetragen habe. Was soll's.
„Die Regierung will mich auf 450 Euro Basis als Werkstudentin einstellen. Wenn ich nein sage, verliere ich mein Stipendium, weil eine Frau mit bedenklich hohem Koffeinkonsum es so will. Die Physiker aus dem dritten Stock haben am Wochenende eine Party geschmissen und ich muss dringend den WG Putzplan umschreiben. Und ich bin inzwischen so verdammt paranoid, dass ein Typ mit Dauerwelle hier aufschlägt und mir verkündet, dass er das letzte halbe Jahr in irgendeinem Bunker gecampt und Friends geschaut hat, dass ich jedes Mal zusammenzucke, wenn mich jemand anspricht."
„Klingt nett", sagt Pappas nur, der natürlich kein Wort mitbekommen hat, weil er vollkommen auf das ältere Pärchen am Tresen fokussiert ist. Omi und Opi halten Händchen.
„Ja", mache ich langgezogen, „Sind das deine Eltern?"
„Meine ...? Nein, nein, nein", er wirft mir einen sehr geschockten Blick zu, „Wie alt denkst du, bin ich?"
„Keine Ahnung, 30? Ungefähr."
„30? Willst du mich auf den Arm nehmen? Psst, sie kommt", macht er und verschwindet noch etwas mehr hinter seiner Arbeit.
Ich schüttle nur den Kopf und lächle dem Pärchen zu, als es vorbeigeht. Die beiden lächeln zurück. Er legt einen Arm um sie und sie hält ihm die Tür auf.
„Sind sie weg?", fragt Pappas, nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist.
„Ja", mache ich und versuche all meine milde Verurteilung seines Verhaltens in einen fragenden Blick zu legen, „Darf ich fragen, was genau dein Problem ist?"
Er lässt sich in seinem Stuhl zurückfallen, senkt seine Notizen und richtet sich zu seiner vollen Größe auf.
„Hi", macht er und räuspert sich, „Entschuldige. Die beiden sind Patienten von mir, die jetzt angefangen haben, sich zu daten. Sie wissen nicht, dass sie den gleichen Therapeuten haben."
„Wenn mein Tag weiter so läuft brauche ich bald einen Therapeuten", sage ich und senke meinen Blick wieder auf die Emoji Sonne auf meinem Bildschirm.
Mein Magen verknotet sich. Ich werde in wenigen Stunden die Bahn nach New Helsinki nehmen und dort bei dem besten Geheimdienst diesseits der Demarkationslinie klingeln, als wäre das nicht eine normalerweise strafbare Handlung.
Es gibt leider eine Handvoll Gründe, wieso ich nicht direkt von der bequemen Eckbank meines Lieblingscafés aufstehe, um einen waghalsigen Fluchtversuch zu starten, obwohl alle meine Alarmglocken schrillen.
Erstens: mein Stipendium.
Zweitens: meine Uni Veranstaltungen heute.
Und nicht zu vergessen mein Grund Nummer drei: ich würde wirklich sehr gerne wissen, wieso zum Geier man ausgerechnet mir diesen Job anbietet. In den Arbeitsvertrag, den Ava mir hingeklatscht hat, steht zwar eine lange Liste mit Dingen, die ich von der Steuer absetzen kann - technische Geräte, Dienstkleidung, Krankenhausaufenthalte - aber kein Wort dazu, wieso ich ‚Studentin auf Abwegen' für das Department spielen soll. Ganz davon abgesehen, dass es nicht unbedingt ein Masterplan ist vor dem CCI zu fliehen. Ich habe einen von denen getroffen und würde meine Liste der direkten Sunhunter Bekanntschaften gerne so kurz halten, wie möglich.
„Clara", spricht mich mein Gegenüber an. Ich sehe auf, denke ‚Oh man, wieso ist der immer noch da?', antworte aber: „Ja?"
Der Grieche kippt Kandiszucker in sein Getränk, der glitzernd im Milchschaum versinkt.
„Danke für die Rettungsaktion. Du wirkst etwas besorgt. Alles in Ordnung bei dir?"
Die Frage erwischt mich unvorbereitet. Es ist wirklich nett, dass er das bemerkt und nachhakt. Wenn er nicht empathisch wäre, hätte er den falschen Job. Wieso redet er jetzt überhaupt auf einmal mit mir? Sieht meine Eckbank aus, wie die Couch in deinem Büro?
„Mann", stöhne ich, „Das mit dem Therapeuten war nicht ernst gemeint."
„Hm hm", kommentiert der Grieche wenigsagend und beginnt, seine halb aufgelöste Arbeit zu sortieren. Post Its fliegen in alle Richtungen.
„Ich schreibe Klausuren. Ich bin übermüdet, gestresst und von Existenzängsten geplagt, wie alle anderen Studenten auch. Bis auf dich natürlich", spinne ich eine Halbwahrheit zusammen.
„Autsch", macht er, „Sarkasmus. Interessant."
Klugscheißer.
„Fragst du mich jetzt auch noch nach der Beziehung zu meinem Vater?"
Seine Mundwinkel zucken. Stille senkt sich über uns und ich will mich schon entschuldigen, weil das jetzt falsch rüberkam, doch der Grieche rührt nur seinen Kaffee um. Hoffentlich denkt er nicht, ich flirte auf eine verdrehte Weise mit ihm. Das ist das Problem mit attraktiven Männern: alles, was du sagst, klingt falsch. Ich habe gerade wirklich genug Sorgen, auch ohne dass ein zehn Jahre älterer Kerl denkt, ich will etwas von ihm.
„Kann ich gerne, wenn du das willst. Aber dann musst du mich in meiner Praxis besuchen, weil wir sonst zu spät zu Keaton kommen", sagt er und trinkt den letzten Rest seiner grün-weißen Blättersuppe.
Ich sehe auf die Uhr, teilweise dankbar, teilweise geschockt, weil ich es mir absolut nicht leisten kann, zu spät zu kommen. Im Audimax ist der Eingang auch noch vorne, was heißt, dass man dem Professor in die Augen sehen muss, wenn man mit seinem Kaffeebecher in der Hand die akademische Viertelstunde überzieht. Ich stopfe mein Notebook in meinen Rucksack, ziehe den Reißverschluss zu und werfe mir das Ding auf den Rücken, während der Grieche seine Tasse selbst zurück in die Küche bringt. Anscheinend ist er öfter hier. Er hält schon die Tür auf, während ich noch den Stuhl zurück schiebe, sodass zwei blonde Studentinnen wegen des kalten Luftzugs böse über ihre Laptops linsen.
Pappas und ich verlassen das Campuscafé und rennen dabei fast eine Gruppe Erstsemester um. Wir joggen über den Vorplatz des Hauptgebäudes. Er hält mühelos Schritt, wahrscheinlich, weil er für zwei meiner Schritte nur einen machen muss. Wir schaffen es gerade noch so in die Vorlesung zu schlittern und uns an Keatons Rücken vorbeizuschmuggeln. Es sind nur noch ganz vorne Plätze frei. Unsere Kommilitonen haben uns schon lange bemerkt und grinsen schadenfroh oder unangenehm berührt über unser nur knapp vermiedenes Zu-Spät-Kommen.
„Sehr geehrte Hörerinnen und Hörer", beginnt der Mann mit den Ballonsocken, „Willkommen zur heutigen Vorlesung."
Ich will mich schon meinem Schicksal ergeben und in der ersten Reihe Platz nehmen, doch Pappas zupft mich ungeduldig am Ärmel. Ich gestikuliere ein ‚Was?!' in seine Richtung und er winkt mir, ihm die Ränge nach oben zu folgen. Ich atme einmal lange aus, denke ‚Wieso immer ich?' und folge dem Dachschadenexperten die beleuchteten Stufen hinauf. Pappas führt ein Blickduell mit zwei unserer älteren Kommilitonen, die anscheinend mit ihm befreundet sind, und dann haben wir plötzlich zwei der begehrten Sitzplätze im Mittelfeld.
„Das ist die Revanche für die Rettungsaktion", flüstert er über Keatons näselnde Stimme hinweg, „Wir sind quitt."
Ich gebe ihm einen Daumen nach oben, weil ich alles tun werde, um die erste Reihe zu vermeiden. Keaton hat einen besonderen Faible dafür, seine Studenten zu erschrecken, indem er sie aufruft. Lasst euch nicht von den Socken täuschen, der Mann ist hinterlistig.
Ich klappe meinen Laptop auf. Da ist sie wieder, die Sonne auf meinem Planer, gerade, als ich die ganze Sache für eine Sekunde verdrängt hatte. Ich lobe mich selbst für die ausgefuchste Verschlüsselung, denn Pappas sitzt ja momentan direkt neben mir. ‚Date mit dem Verteidigungsministerium' wäre ein viel zu guter Aufhänger für eine Therapiesitzung gewesen.
Er beugt sich jetzt aber trotzdem umstandslos vor, dreht meine Tastatur zu sich und schreibt allen Ernstes hinter die Sonne: Sehr gute Idee.
Wahrscheinlich denkt er, dass ich mir einen Besuch im Solarium gönne oder eine Runde zu entspannenden Walgesängen den Sonnengruß turne. Ich stütze den Kopf in die Hand. Wenn der nette Psychomensch und sein Matcha Latte nur wüssten, wo ich heute meinen Nachmittag verbringen werde.
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