34 - Matthias Green

Falls ich je in die Verlegenheit komme, mir einen Wohnort aussuchen zu müssen, an dem ich meinen Ruhestand verbringe, möchte ich bitte so weit weg von Ava sein, wie irgendwie möglich. Und damit meine ich, am anderen Ende des bekannten Alls, vielen Dank.
Wenn das nicht das Ausschlusskriterium wäre, könnte ich es mir auch gut vorstellen, mit meinem Oktopus in Paradise Isle mit zu chillen, wie Claras Oma. Als wir am Skybahnhof ankommen, erstrecken sich vor uns die sanften Hügel und die funkelnden Seen der Bubble. So hoch oben, wie die Skybahn hier hält, hat man einen ganz guten Überblick über das schickste (und einzige) Naturschutzgebiet dieses Weltraumquadranten. Hier wohnen nur sehr wenige Menschen und der Großteil davon kümmert sich in irgendeiner Form um die Pflanzen oder Tiere, die man hier angesiedelt hat. Oder aber man hat sich hier nach einer erfolgreichen kriminellen Karriere zur Ruhe gesetzt und genießt einfach das Leben, wie Claras Omi.

Der Oktopus ist begeistert von allem, was in dieser Bubble passiert. Während wir in den Sessellift steigen, der uns zum Boden hinunter schaukeln soll, klebt sich Grabsy außen an die Rückenlehne von Claras Stuhl und lässt zwei von acht Tentakeln im Wind schlackern. Wenn das galaktische Entenküken könnte, würde es wahrscheinlich laut „Wouhou" schreien, aber zum Glück hat das Schicksal mir zwar einen leuchtenden, klebenden und anhänglichen, aber keinen lauten Oktopus beschert.

„Also", sage ich, während unter uns ein Schwarm Vögel vorbeizieht. „Wieso hast du dich so derbe mit deiner Oma gestritten?"

„Das wirst du sehen."

„Enttäuschende Antwort."

„Ich hab aber eine bessere Frage: was machen wir, wenn sie es schafft, das Programm zu knacken?"

„Bei Ava und van Haven angekrochen kommen. Das ist dann deren Problem. Polizeiarbeit mache ich schon sehr ungern, aber Politik? Auf gar keinen Fall. Da hat man nur Scherereien."

Clara schweigt und ich nehme das als Anlass ein bisschen zu pfeifen und mich generell des Lebens zu erfreuen, während wir auf die Talstation unseres Sessellifts zusteuern. Ich sollte öfter Ausflüge ins Grüne machen, das ist gut für meine Laune. Für jemanden mit dem Nachnamen ‚Green' halte ich mich zu wenig in Gärten, Parks oder Wäldern auf, kommt mir. Vielleicht sollte ich mir mal eine Zimmerpflanze zulegen, so als Anfang? Aber sowas stirbt einem doch direkt, wenn man im Vakuum unterwegs ist. Gibt es feuer- und strahlungsfeste Kakteen?

„Matt, mir ist das alles unheimlich", sagt Clara. Ich sehe zu ihr hinüber. Sie scheint sich nicht so sehr des Lebens zu erfreuen, wie ich. Woran das wohl liegt, wir haben doch super Wetter? Und überhaupt mal Wetter zu haben ist schon eine interessante Sache. Ich bin das auch überhaupt nicht mehr gewohnt. Wurde deshalb schon einige Male angeregnet, seit ich wieder in den Bubbles bin. Einen Regenschirm zu kaufen liegt aber massiv unterhalb meiner Spießigkeitsschmerzgrenze.

„Wieso hast du dich entschieden, mir zu helfen?", frage ich sie. „Du wolltest nie Teil dieser Mission sein und jetzt bist du vielleicht der Grund, wieso wir das Programm aufbekommen."

Sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich kopfschüttelnd an.

„Denkst du, ich komme aus dieser Mission wieder raus? Ich denke nicht. Ava hat meinen Namen in irgendeiner Datei stehen. Ich will gar nicht wissen, was das Department mit Leuten macht, die auf halber Strecke aufgeben. Deswegen wolltest du gar nicht erst, dass ich mitmache, oder? Zumindest war das einer der Gründe. Mein Titel ist zwar ganz unten in der Hierachie angesiedelt, aber vermutlich gibt es für mich nicht einmal mehr einen Weg aus dem Department raus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Leute mich wieder gehen lassen, mit den Dingen, die ich weiß."

Meine Lebensfreude flattert noch ein paar Mal mit den Flügeln, dann stürzt sie schreiend in die Tiefe und verschwindet aus meinem Bewusstsein.  Ich möchte ihr sagen, dass sie keine Angst vor dem Department haben muss. Dass ich sie beschützen werde vor van Haven und den Protokollen, die keiner wirklich durchblickt. Ich sehe zu ihr hinüber. Ich fürchte, wir wissen beide, dass ich zwar durchs All tauchen und mich mit der VHN kloppen kann wie ein Weltmeister, aber meine Macht Grenzen hat.

„Ich rede mit Ava", verspreche ich. „Dir passiert nichts. Nicht von Seiten des Departments aus."

„Da kannst du dir nicht sicher sein. Es wäre mir lieber, wenn du nichts versprechen würdest, was du nicht halten kannst."

Der Sessellift schaukelt, vor uns liegt die wunderbare Landschaft und ich fühle mich, als hätte sich über alles ein Schwarz-Weiß-Filter gelegt. Ich sehe zu ihr hinüber, aber sie meidet meinen Blick.

„Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert", verspreche ich leise und hoffe, dass ankommt, wie ernst ich es meine. Wenn sie wüsste, was ich tun würde, damit es ihr gut geht. Die Schuld schnürt mir die Kehle zu. Ob Ava auch damit kalkuliert hat? 

„Mir ist schon was passiert", sagt sie. „Aber es wäre nett, wenn du mir helfen könntest, nicht zu sterben für eine Regierungsorganisation, die sich einen Dreck um mich schert."

Ich beiße die Zähne zusammen. Sie hat Recht. Für das Department ist Clara ein Niemand. Kurzfristig nützlich als Schlüssel zu Tyes Netzwerk, aber nicht mehr. Sie ist nicht vom Department ausgebildet, sie hat das Training nicht durchlaufen, sie weiß nichts von den Fallstricken. Sie ist zwar gut, in dem was sie tut, doch für das Department arbeiten Menschen mit viel mehr Erfahrung.
Es hat aber auch einen Grund, wieso Sunhunter in der Regel keine nahen Familienmitglieder haben. Militärisches Know How, Zugang zu sensiblen Informationen, selbstaufgebaute Netzwerke und normalerweise die Ressourcen der Föderation. Das Department hat Angst davor, dass jemand emotional zu investiert wird und seinen Status als Hunter missbraucht, um im eigenen Interesse zu handeln. Beispielsweise, um jemanden zu beschützen, der einem wichtig ist.

Während wir auf die Talstation zuschweben und in der Ferne ein blauer See glitzert, schüttle ich langsam den Kopf. Die Waffe, die ich verborgen mitgebracht habe, drückt sich in meine Seite. Ich verstehe, wieso Ava getan hat, was sie getan hat. Die vor der Regierung und dem Großteil des Departments verborgene Mission, meine ich. Ich verstehe, dass sie verzweifelt ist. Dass van Haven mit dem Rücken zur Wand steht. Doch in dieser Sache hat sie sich verrechnet. Ava ist eine hervorragende Bingo Spielerin, aber sie hat zu hoch gepokert. Mit Clara.

„Hör mir zu", sage ich zu ihr und beschließe, dass es schlicht keinen besseren Zeitpunkt geben wird. Das künstliche Sonnenlicht lässt ihre Haare glänzen und ich muss an einen Sonnenaufgang im Orbit denken. Ich muss wegsehen, um weiterzusprechen.

„Es hat einen Grund, wieso wir zusammen eingesetzt werden. Und es ist nicht nur, dass wir über deine Oma an einen Zugang zur Hackerszene bekommen. Ich habe Ava gebeten, dich an der Universität einzuschreiben."

Jetzt sieht sie mich doch an. Der Ausdruck in ihren Augen gefällt mir überhaupt nicht.

„Was hast du getan?", fragt sie und es ist keine positive Überraschung in der Frage. Nur Verrat. Mein Herz macht einen Satz. Es ist ein Geheimnis, von dem ich nie dachte, dass ich es lüften würde und nun passiert es ausgerechnet inmitten einer Ermittlung in einem verdammten Naturschutzgebiet. Aber ich möchte nicht mehr lügen. Sie wollte Verantwortung übernehmen für den gestohlenen Ohrring und das Programm darauf, deshalb sind wir hier. Ich habe viel mehr, für das ich Verantwortung übernehmen muss. Irgendwo muss man anfangen.

„Ich habe sie gebeten, dich abziehen zu lassen. Aus der Ausbildung."

Sie starrt mich an und dann versucht sie, mich aus dem Sessellift zu werfen. Sie beugt sich herüber und schubst mich so hart, dass der Gurt mir in den Bauch schneidet. Zweimal, bis ich mich an der Armlehne festhalte und sie blocke. Sie boxt mich noch einmal in den Oberarm, lässt einen unartikulierten Schrei los und dann rutscht sie auf dem Sessel so weit weg von mir, wie möglich. Die Szene wäre witzig, wenn ich mich nicht so beschissen fühlen würde.

„Das Department mag es nicht, wenn seine Agenten an jemandem hängen", fahre ich fort und reibe mir den Arm. „Ich denke, sie wollen mich dafür bestrafen, dass ich dir geholfen habe. Uns dafür bestrafen."

„Du hast dafür gesorgt, dass ich ..."

„Ava. Deswegen kann sie dir das Stipendium streichen. Dich exmatrikulieren lassen. Das heißt nicht, dass du die Aufnahmeprüfungen nicht bestanden hast. Sie hat nur dafür gesorgt, dass du überhaupt die Chance hast, anzutreten."

Clara beugt sich vor, als wäre ihr schlecht. Grabsy ist inzwischen zurück zu uns nach vorne gekrochen und sitzt unruhig oben auf der Rückenlehne, wie ein Kind, dessen Eltern streiten.

„Ich dachte", sagt sie. „Ich dachte, ich wäre raus aus dem Militär. Weit genug weg von den Kreuzern. Aber das war alles eine Lüge. Ihr seid nie weggewesen, ich habe euch nur nicht gesehen. Dich nicht gesehen."

Sie strafft sich wieder, aber man merkt deutlich, dass sie gerne überall anders wäre, nur nicht mit mir auf einem Sessellift.

„Du hast Ava gebeten, dass sie mich in mein Studienprogramm einschleust", sagt sie. Ich nicke, aber halte mich vorsorglich schonmal fest, falls ihre Mordversuche in die zweite Runde gehen. Es war wirklich voreilig, mir Gedanken über meine Rente zu machen.

„Du hast mich abziehen lassen aus dem Rekrutenprogramm. Ohne irgendetwas zu sagen."

Fairerweise muss man hinzufügen, dass ich fünf Minuten, nachdem ich im Core angekommen war schon wieder ins All geschossen wurde und nicht viel Spielraum für klärende Gespräche hatte, aber im Kern: ja.

„Du bist so ein Arschloch", sagt sie. „Du hast mir nicht einmal die Wahl gelassen."

„Ich dachte, du wolltest studieren."

„Darum geht es nicht."

Ich weiß.
Die Wahrheit ist einfach. Wir haben uns damals auf dem Kreuzer darüber gestritten, ob ich ihr bessere Nahkampftaktiken beibringe, aber dahinter stand die ganze Zeit etwas Größeres. Es ging nie um einen bestimmten Griff, der den Gegner in den Staub befördert. Genauso wenig, wie es jetzt darum geht, dass das Department dringend Werkstudenten braucht. Hinter dem ganzen Schlamassel steckt schlicht und einfach, dass ich die Front dieses Krieges kenne. Und, dass es mir sogar lieber ist, dass Clara mit mir Mordermittlungen im Core führt, als sie dort kämpfen zu sehen.
Deswegen habe ich um ihre Versetzung gebeten. Deswegen ist sie ins Visier des Departments geraten. Deswegen hat Ava ihr mit einem Arbeitsvertrag aufgelauert. Ich habe einen Fehler gemacht, den mir das Department nicht vergessen wird. Einen gefährlichen Fehler für die Organisation und für mich selbst. Ich schließe die Augen und lasse meine Selbstkontrolle für einen Moment fallen. Die Wahrheit ist einfach, aber ich kann sie trotzdem kaum aussprechen.

„Ich konnte dich nicht sterben lassen."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top