24 - Matthias Green
Oh mein Gott, was ist das, hält sie sich etwa an ihren Updateplan? Unfassbar. Wo ist das Fernsehen? Wo ist die Presse? Man informiere die Welt.
Oder man lese schlicht das neue Kapitel, das reicht auch.
Viel Spaß :)
~☀️~
Hendrik ist im strömenden Regen auf einem der Bikes nach New Seoul geflogen und überreicht uns grimmig einen Rucksack, der Mesiastec Waffen und ein leuchtendes Babyalien sowie eine leere Packung Erdnussflips enthält. Klassische Ausstattung für einen Spritztour durch die Stadt. Während der Butler sich damit beschäftigt, den Schnitt einer nahegelegenen Hecke missbilligend zu betrachten und dabei Schmiere zu stehen, ziehen wir uns mit dem Rücken zueinander im Schutz der leeren Bushaltestelle um. Regen trommelt gegen das trübe Plexiglas.
„Weißt du, ich dachte wirklich nicht, dass ich noch einmal in so einer Situation lande", murrt Clara.
„Halbnackt mit mir irgendwo in der Öffentlichkeit?", frage ich und ziehe mir mein Shirt über den Kopf.
Ich werfe einen Blick über die Schulter, mehr aus Reflex als aus böser Absicht und erwische sie dabei, wie sie dasselbe tut.
„Hey, nicht gucken!", verlange ich.
Wir ziehen uns die schwarze Funktionskleidung über, setzen unsere Helme auf und treten gerade rechtzeitig hinaus in den Regen, um ein daherkommendes Großväterchen mit Einkaufstüten und gepunktetem Regenschirm nicht zu verstören. Wenn man mich fragen würde, würde ich den Wettermachern etwas mehr Sonne in den Plan schreiben, aber mich fragt ja grundsätzlich niemand, wenn es um große Entscheidungen geht.
Auf einer von van Havens Galas habe ich vor ein paar Jahren Tequila mit dem Vorsitzenden der zuständigen Organisation getroffen und mich intensiv für mehr Sonnenstunden eingesetzt, was aber irgendwo im Alkoholpegel meines Gegenübers ertrunken sein muss. Wenn der Typ nüchtern genauso depressiv ist, wie unter Einfluss von Drogen, dann wundert mich dieses Klima nicht. Nach einem knappen Winken in Richtung des Butlers joggen wir im absolut unnötigen Regen mehrere Treppen hinauf, bis wir uns auf einem halbüberdachten Parkplatz wiederfinden. Es schüttet so sehr inzwischen, dass das Wasser vor uns noch einmal vom Asphalt hüpft, bevor es abfließt.
„Bei dem Wetter fliegst du", sagt Clara.
„Mit Vergnügen."
Wir schwingen uns in den Sattel eines der schwarzen Villa Paavola Bikes, das unschuldig ganz hinten im Halteverbot auf uns gewartet hat.
„Nur prophylaktisch: Wie gut schießt du noch?", frage ich Clara, die ihren Helm abgenommen hat, um sich einen Kopfhörer ins Ohr zu basteln. Die Haare kleben ihr nass an der Stirn und locken sich in der Feuchtigkeit. Sie sieht viel zu unschuldig aus für jemanden, der gerade dabei ist, auf eine Verfolgungsjagd zu gehen. Bis auf dieses Grinsen natürlich, das kommt direkt aus der Hölle.
„Annehmbar", sagt sie, „Ich war neulich in New Seoul auf einer Art Oktoberfest und habe mir an einem Schießstand einen mannshohen Plüschtiger geholt."
Einen Moment lang starren wir uns an. Ich hoffe, dass mein Blick eindringlich genug ist, um zu kommunizieren, dass wir hier alles jagen werden, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Plüschtiger.
„Was?", fragt sie und setzt ihren Helm auf, „Ich bin offen für konstruktive Kritik, aber du kannst mir nicht erzählen, dass du deine mit Steuergeldern finanzierte Ausbildung nicht auch manchmal für das Gute einsetzt. "
Ich schüttle nur den Kopf.
„Denkst du, wir liefern uns heute noch eine Schießerei?", fragt sie dann, doch etwas verunsichert. Dass sie nicht komplett ausrastet bei der Andeutung, zeigt schon klar, dass da keine Zivilistin hinter mir sitzt. Ich zucke die Schultern und starte das Bike. Der Motor läuft absolut lautlos, wunderbar praktisch, um sich anzuschleichen.
„Man weiß nie, was passiert, wenn man seine Stalker verfolgt. Festhalten."
Ich hoffe nicht, sonst grillt uns das Psychozebra, füge ich in Gedanken hinzu und werfe beiläufig einen Blick auf meine regennasse DataWatch. Dank eines Pings haben wir trotz verlorenem Sichtkontakt eine ziemlich gute Idee, wo sich unser potentieller Marker befindet. Da er in Richtung New Singapoure unterwegs ist, sollten wir uns aber trotzdem nicht zu lange mit Kaffeeklatsch und Heckenschnitten aufhalten. Und da ich als Ehrenmann zu meinem Wort stehen muss, drängeln wir uns noch schnell mit einem waghalsigen Sturzflugmanöver im Fly Through einer Cafékette vor.
Clara hat anfänglich versucht, sich nicht an mir festzuhalten, was theoretisch möglich ist, weil wir uns vorbildlich individuell festgeschnallt haben. Jetzt hat sie allerdings die Arme um meine Brust geschlungen und seit einigen Minuten nichts mehr gesagt, außer Dinge, für die ihr ihre Oma wahrscheinlich den Mund mit Seife auswaschen würde. Dabei hat unser eigentlicher Flug noch nicht einmal angefangen. Ich verkneife mir ein Lachen, ignoriere das Hupen hinter uns und die zweihundert Meter freien Fall nach unten.
„Ein doppelter Espresso, bitte", bestelle ich für Clara, die gerade zum fünften Mal in den letzten drei Minuten meinen Geisteszustand in Frage stellt, „Und ein Hot and Spicy Pumpkin Caramell Double Cream Macchiato mit zwei Schuss Vanille und extra Schokosirup. Und habt ihr diese bunten Streusel noch?"
Die Frau am anderen Ende bejaht und ich bestelle mir Streusel auf meinen Kaffee, weil das einzige, was besser ist als eine kleine Verbrecherjagd, eine kleine Verbrecherjagd mit Zuckerschock ist. Wir nehmen unsere Getränke entgegen, ich fahre zwei Getränkehalter am Griff des Bikes aus und platziere das langweilige und das coole Getränk darin. Meine Güte, wie ich die Zivilisation und ihren Fructosesirup vermisst habe.
„Bereit?", frage ich meine Partnerin.
„Nein, du Wahnsinniger."
Ich trete aufs Gas und wir schießen in Richtung Highway davon, unserem Marker hinterher.
Zwar gibt es auch in unserer momentanen Bubble tote Zonen, in denen die Ortung nicht funktioniert und sich alles und jeder verkriechen kann, der Dreck am Stecken hat, doch in der Nachbarbubble ist das Netz noch weit löchriger. Das heißt, wir müssen idealerweise davor Sichtkontakt aufbauen. Leichter gesagt, als getan, denn wir haben nur die Watch Signatur und keinen Fahrzeugtyp, nach dem wir Ausschau halten sollen. Ich schneide eine der Highwayskurven, um schneller als Okrys an den Pforten in die Nachbarbubble zu sein. Ein Polizeiintracraft schert aus und funkt uns an. Ich verdrehe die Augen zum Himmel.
„Clara, hast du Lust den Anfängern zu sagen, dass sie die Fahrzeugsignatur checken sollen?"
„Ich lasse dich jetzt nicht los", brüllt sie zurück, viel lauter als nötig. Ich vergesse immer wieder, dass es Menschen gibt, die nicht regelmäßig aus Flugzeugen springen oder mit zweihundert Kilometer pro Stunde vor der Polizei fliehen. Zum Glück hat sie mich in ihrem Leben, sonst würde sie wahrscheinlich vor Langeweile anfangen, Bäume einzustricken.
Nichts gegen Stricken.
„Guten Morgen", nehme ich meinen Funkspruch an, obwohl es inzwischen nachmittag ist.
„Anhalten!", befiehlt jemand am anderen Ende.
„Checken Sie die Fahrzeugsignatur, dann können Sie sich entschuldigen."
Stille, dann ein geknicktes: „Verzeihung, guten Flug."
„Du kleiner Bastard", murmelt Clara, die wohl die Leistungsstärke unserer Mikros unterschätzt.
„Ja", mache ich, während wir über den regulären Verkehr hinwegdüsen, um uns erst kurz vor der Bubblegrenze wieder einzuordnen, „ich weiß."
Es hört auf zu Regnen, sobald wir New Seoul verlassen. Kurz blitzt links und rechts von uns der Weltraum hinter den Wänden des Tunnels auf, dann fliegen wir in die Nachbarstadt ein und die Himmelsprojektion eines milden Frühlingstags empfängt uns. Die Hochhausblöcke, über die wir einige Minuten später hinwegziehen, scheinen an einer Symmetrieachse gespiegelt. Blickt man vom Weltraum aus auf die Stadt, so könnte man meinen, die Hälfte der Bubble wäre voller Wasser und würde das Abbild der anderen Hälfte darstellen.
Das Meisterstück des Schwerkraftingenieurwesens ist der ideale Ort, um unterzutauchen, da die Kräfte, die alles in der Schwebe halten, blinde Flecken auf unseren Ortungssystemen produzieren. Ganz davon abgesehen, dass wir ohne richterlichen Beschluss normalerweise nicht einfach Leute tracken können. An dieser Stelle kommt uns jedoch Dalton Okrys Nebenjob sehr gelegen. Einer der Gründe, wieso ich mir relativ sicher bin, dass er kein großer Fisch ist, ist nämlich, dass kein wirklich guter Verbrecher einen Kleinkriminellen hinter mir herschicken würde, der für gelegentlichen Handel mit Partydrogen und mehrmaliges Schwarzfahren mit der Skybahn gesucht wird.
Das ist einfach schlechter Stil. Darf ich mich nochmal vorstellen, meines Zeichens bin ich momentan zehnt meist gesuchter Hunter in den Galaxien, mich jagen in der Regel die Schwergewichte unter den Assassinenarschlöchern. Ohne angeben zu wollen.
„Okrys fliegt Richtung Lower Levels", informiert mich Clara, die inzwischen nicht mehr so stark zittert wie zu Anfang unserer Spritztour, „Dritte Querstraße."
Wir fliegen über Dachgärten, vertikale und horizontale Swimmingpools und rauchende Schornsteine hinweg, sowie durch zwei in konzentrischen Kreisen wachsende weiß blühende Riesenluftpflanzen hindurch.
„Er sitzt in dem Skybus."
„Wir verfolgen ein öffentliches Verkehrsmittel?", fragt sie und klingt dabei etwas enttäuscht.
„Passiert den besten."
Doch unsere entspannte Observation bleibt trotz der bis dato antiklimaktischen Struktur nicht lange langweilig. Wir folgen dem Bus in die Lower Levels hinab, bis das Licht der Kuppel verschwindet und wir uns im schummrig violetten Halbdunkel befinden. Werbetafeln fliegen links und rechts vorbei, während wir ins Zentrum der Bubble steuern. Der Punkt, der Okrys Position angibt, flackert immer wieder.
„Auf elf Uhr", sagt Clara.
Ich hätte unseren schlacksigen Freund beinahe übersehen, der zwischen einigen anderen gerade aus dem Bus ausgestiegen ist.
„Gute Arbeit."
Er steuert in die Sub Quarter Markets. Vielleicht bekommen wir unsere Schießerei doch noch.
„Warst du hier schon einmal?", frage ich sie, „Das ist rauchendes Pflaster."
„Gefährlich?"
„Für einen durchschnittlichen Studenten schon."
„Cordia war hier, zwei Wochen vor ihrem Tod. In dieser Bubble, in diesem Viertel. Ihre Bewegungsdaten haben aber Lücken, logisch."
Ich kralle die Hände fester um meinen Lenker. Vorbildlich, dass Clara die Abkürzung für das Callsign meiner toten Kollegin verwendet. Und auch, dass sie sofort die Akte und die Standortdaten checkt, auf die sie dank ihrer Alphafreigabe Zugriff hat. Die Sunhunter Bewegungsdaten sind übrigens nicht die, die ich bei Gabe gekauft habe. Wenn sie Zugriff auf soetwas hätte, wäre die Regierung gelinde gesagt absolut gefickt.
„Hm", mache ich, „wahrscheinlich war sie bei Benji. Da halten wir auf dem Rückweg."
„Benji al Ra, auch bekannt als ‚Papa Poison'?", liest sie von ihrer Watch ab, „Übersetzer für Erdsprachen und Apotheker?"
„Ja, exakt der."
Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass sie irgendwelche Namen in das interne Suchnetzwerk werfen kann und erstaunlich akkurate Akten ausgespuckt bekommt.
„Zwei Kinder, die beide eine einstweilige Verfügung gegen ihn haben, Raumfahrtführerschein, mehrere Waffenlizenzen, Gefängnisaufenthalt wegen Beihilfe zum Mord, züchtet psychoaktive Pflanzen, Mitglied des Waisenhaus Förderbundes, ehemalig habilitiert als Pharmaziedozent in Corin, Mars. Pollenallergie, diagnostiziert mit grauem Star. Marker #34."
Erstaunlich akkurat, wie gesagt. Clara kommentiert diese Vita nicht weiter.
„Er hat Verbindungen zu gewissen Schmuggler- und Piratenkreisen. Und ‚Baba Yaga' erfunden, diese Droge, die uns Caliss gekostet hat, weil sie die VHN munter in die Luft gepumpt hat", ergänze ich.
„Uff", kommt es von hinten.
„Jap. Netter Typ, tatsächlich. Kriegsverbrecher sehen selten so fies aus, wie sie sind."
„Siehst du Okrys noch?"
„Da vorne, auf dem Weg zu den Labrinths."
Mein Helm hilft mir, ganz ähnlich wie die Brille, die in meinem Rucksack liegt und wahrscheinlich gerade von meinem Oktopus getragen wird, den Guten im Blick zu behalten. Allerdings nicht mehr lange, denn unser Marker steigt hinunter in eine der Markthallen.
„Wir parken. Festhalten."
Claras Arme spannen sich an. Irgendetwas sagt mir, dass sie meinen Flugstil immer noch nicht ganz vertraut, dabei habe ich heute fast noch nicht das Geschwindigkeitslimit überschritten und nur einmal mit der Polizei interagiert. Ich steuere eine Zwischengeschoss an, um dort zu parken. Dann kann der Spaß erst richtig losgehen.
Und nebenbei bemerkt kann ich meinen bunten Kaffee trinken, immer vorausgesetzt, er wird mir nicht aus der Hand geklaut oder geschossen. Denn hier regnet es zwar nie Wasser, dafür aber das ein oder andere Mal Blei.
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