2 - Clara de Flocon

Hi :) Bei mir stehen die Semesterklausuren an, deswegen ist es hier so ruhig geworden. Nehmt es mir nicht übel - ich muss lernen, Freunde 😂 Jetzt aber erstmal viel Spaß mit unserem Schneeflöckchen. Ich hoffe, euch geht es gut und ihr seid nach wie vor gesund! Vielen Dank für die vielen Kommentare - ich lese sie alle, auch wenn ich es zeitlich manchmal nicht schaffe, jedem zu antworten. Und auch ein großes Hallo an alle, die über die Wattys hierher gefunden haben und jetzt diese Geschichte lesen. Freut mich, dass ihr da seid and welcome to the family <3
Ready? Ready. Let's go.

~🌟~

Vor zwei Tagen habe ich beim Wäsche zusammenlegen darüber nachgedacht, ob ich langsam aber sicher zu meiner Oma werde.
Meine Kardamom-Anis-Zimt-Schnecken sind ein Gedicht, auf meinen seniorenfreundlichen Spaziergängen durch den Ahra Rashid Park streichle ich fremde Hunde und ich rede ab und zu mit meinen Zimmerpflanzen. Und wisst ihr auch wieso? Weil ich studiere.

Ich sitze also in der Zentralbibliothek von New Seoul, sehe hinaus auf den gigantischen Wasserfall, der dort in Form eines in sich gedrehten Zylinders scheinbar aus dem Himmel ins Nichts stürzt und pflanze Bäume, um meine fokussierte Zeit zu tracken.
Die Uni hat an jedem Arbeitsplatz einen kleinen Blumentopf stehen, an dem man einen Timer einstellen kann. Während dieser Timer läuft, wächst dort eine Sonnenblume, Lavendel oder auch eine massive Minibuche.

Bis vor kurzem gab es auch die Stoppuhrfunktion, doch weil Studenten regelmäßig ihre Bäume vergessen haben und am nächsten Tag die halbe Bibliothek ein Wald war, hat man das abgeschafft. Habt ihr schonmal eine zehn Meter hohe Sonnenblume gesehen? Angsteinflößend, sage ich euch. Wie das Ganze funktioniert wollte mir neulich ein Biohacking Studi erklären, ist dabei aber kläglich gescheitert. Algorithmen verstehe ich super, aber organische Chemie? Kein Schimmer und momentan auch kein Bedürfnis, mir diesen Schimmer anzueignen.

So viel zu den Bäumen, damit ihr euch nicht wundert, wenn neben meinem Laptop und meiner Thermoskanne ein Kirschbäumchen seine Blüten öffnet. Kürbisse kann der Wundertopf übrigens auch. Im Herbst ist das der Renner.
Bin ich viel zu begeistert von diesen kleinen Pflänzchen? Vielleicht. Verurteilt mich nicht dafür, mein Leben ist außerordentlich ruhig gerade - oder zumindest war es das, bis vorgestern. Das sollte ich vielleicht etwas weiter ausführen, nicht wahr?
Lasst uns 48 Stunden in der Zeit zurückwandern und das seltsamste Ereignis meiner Woche beleuchten ...

Ich lege also gerade so meine Wäsche zusammen, lerne digitale Karteikarten und schweife in Gedanken dazu ab, dass mein Leben so wunderbar ruhig ist, als es an der Tür klingelt. Ich erwarte ein Paket, deswegen sehe ich nicht durch den Türspion, bevor ich öffne. Böser Fehler. Ich stehe zwei großen Männern im Anzug gegenüber. Blaue und rote Krawatte, Bügelfalten in den Hosen, blank polierte Schuhe. Ich dagegen trage ein XXL T-shirt, auf dem ‚University of New Seoul Chess Club' steht, habe ungewaschene Haare und einen BH in der Hand. Außerdem trage ich keine Hose, dafür aber Stricksocken. Stellt euch das bitte bildlich vor.

„Oh echt nicht", ich kicke den Wäschekorb hinter die Tür, „Ich hab jetzt keine Zeit, über Jesus zu reden. Viel Glück noch, ich bin sicher, Miss Larson ist voll dabei."
„Frau Clara de Flocon?", fragt die blaue Krawatte. Ich hebe den Blick von meiner DataWatch. Seit wann kennt Gott denn meinen Namen?
„Ja?", mache ich langgezogen und werfe den BH möglichst unauffällig in Richtung Küchenzeile. Er landet im Waschbecken, neben meiner einweichenden Porridge Schüssel.

Rote Krawatte zückt einen Ausweis, auf dem das Logo der Föderalen Administration prankt. Ich starre das Papier an, als könne ich es so dazu bringen, Feuer zu fangen.
Glauben die wirklich, ich bin so dumm? Oder fange ich jetzt auch noch an, zu halluzinieren? Meine Oma hat auch irgendwann angefangen, mit Geistern zu reden. Ich bezweifle allerdings, dass Geister allen ernstes Manschettenknöpfe tragen.

„Richardson, Ethan. Wir sind hier, um sie abzuholen", stellt sich blaue Krawatte vor.
„Abholen?", frage ich ungläubig, „Was meinen Sie mit abholen? Ins Höllenfeuer, oder was?"
„Man möchte Sie im Bezirksbüro sprechen. Wir sind nur als Eskorte da. Beachten Sie uns gar nicht."
„Wir sind keine Missionare", ergänzt rote Krawatte liebenswürdig, „Wir arbeiten für die Regierung."

„Okay", mache ich langgezogen. War in letzter Zeit irgendwas über Betrüger in den Nachrichten? Jetzt lebe ich nicht nur wie eine Seniorin, ich werde auch genauso ausgetrickst.
„Kommen Sie doch rein", lache ich, „wollen Sie vielleicht einen Kaffee? Ich hab noch Tiefkühlpizza von gestern da. Wasser und Wein auch."
„Ich würde schon einen Kaffee vertragen", sagt rote Krawatte, während blaue Krawatte ihm einen tödlichen Blick zuwirft. Langsam habe ich die Schnauze voll. ich muss lernen, ich habe keine Zeit für Möchtegern Kriminelle. Durchatmen, Clara.

„Was wollen Sie von mir?"
„Das dürfen wir Ihnen nicht sagen. Höchste Geheimhaltungsstufe, Sie verstehen?"
Rote Krawatte nickt, wie um sich selbst zu überzeugen, vielleicht immer noch in der Hoffnung, doch noch einen Kaffee abzustauben. Ich nicke ebenfalls, meine es aber ironisch. Wahrscheinlich ist das ein gewaltiger schlechter Scherz. Zumindest hoffe ich das aus tiefster Seele. Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her.

„Sie denken, ich komme jetzt einfach mit Ihnen mit?", frage ich noch einmal nach.
Die beiden sehen mich schräg an.
„Machen Sie kein Theater", sagt die blaue Krawatte tonlos, „Niemand will Ihnen etwas tun."
„Wir sind keine Missionare", wiederholt sich rote Krawatte, immer noch in freundlichem Tonfall.
Das Ganze hat ein wenig etwas von ‚Kevin allein zuhause', nur dass ich kein süßer Zehnjähriger bin, sondern eine Ex Soldatin. Eine pissige Ex Soldatin.
„Sagen Sie Ihrem Boss, ich habe in einer Woche Prüfungen. So lange dürfen Sie weder meinen Stromzähler ablesen, noch mir irgendwas über Gott erzählen. Noch weniger als sonst. Danach können sie mich ungern wieder belästigen, wenn es sein muss. Schönen Tag noch."
Ich knalle Ihnen die Tür vor der Nase zu.

Nun, zurück hier an meinem Lernplatz, öffne ich auf meinem Laptop meinen Privaten Cloudaccount und gebe mein Passwort ein. Wenn nicht gerade Männer in Anzügen vor meiner Tür stehen und mir den Tag ruinieren, schreibe ich gerade an einer Arbeit, die mein Gehirn in regelmäßigen Abständen zum Schmelzen bringt. Deswegen bin ich auch ein wenig reizbar, zugegeben. Doch insgesamt laufen meine Kurse besser, als ich je gedacht hätte.

In meiner ersten Woche hier bin ich mir vollkommen fehl am Platz vorgekommen zwischen den reichen Techniknerds - ich, mit meinen muskulösen Oberarmen und dem Militärslang. Doch schon bald bin ich nicht mehr heulend auf dem Boden im Bad gelegen und habe Booth, Angel und Crimson lange E-mails geschrieben. Irgendwann habe ich auch die wütenden Nachrichten an Matt gelöscht, auf die er ohnehin nie geantwortet hat. Vielleicht, weil er sich in eine todgeweihte Weltraumstadt einschleicht, um irgendwelche Politiker zu retten, vielleicht, weil er einfach ein Arschloch ist.
Ist mir egal, wirklich. Ich pflanze hier einfach munter weiter meine Bäume und lerne, wie ich eine AI programmiere, die das Sunhunter System umgehen kann, um mir seinen Aufenthaltsort zu suchen und dann die drei Bodybuilder, mit denen ich mich letzte Nacht im Club angefreundet habe, hinzuschicken. Ich mache nur Spaß, ich bin wirklich und wahrhaftig über ihn hinweg.

Mein neues Leben hat begonnen und ich liebe jede Sekunde, ganz ohne Schießereien, Weltraumpiraten und Nahkampftraining. An diesem Morgen schreibe ich ein ganzes Kapitel meiner Semesterarbeit, während der Wasserfall vor dem Fenster glitzert und das Kirschbäumchen zu blühen anfängt. Langweilig sagt ihr? Entspannt, sage ich. Ich bin so versunken, dass ich ihn nicht bemerke, als er die Rolltreppe herauf kommt. Erst, als der Student neben mir fragt, wer denn der komische Typ sei, sehe ich auf.

Karl Keaton, mein Dozent für Ethik des künstlichen Lebens, steht mitten im Raum und scheint nach jemandem zu suchen. Er ist ungefähr hundert, trägt eine Halbmondbrille und sieht insgesamt aus wie ein Großvater, der in seiner Jugend zu viel Crack geraucht hat. Aus sicherer Quelle wissen seine Studenten allerdings, dass das an seiner fehlenden Work-Life-Balance, seiner dritten Doktorarbeit und dem Tod seines Hundes Kaligola liegt. Die sichere Quelle ist er selbst in jeder zweiten Vorlesung, aber er ist witzig, deswegen verzeihen wir ihm so gut wie alles. Heute trägt er Socken mit bunten Heißluftballonen zu seinem altehrwürdigen Tweetanzug.

„Professor, kann ich Ihnen helfen?", frage ich laut.
„Frau de Flocon, Clara ...", mein Dozent strahlt über beide Wangen und klatscht vor Begeisterung in die Hände, als er mich entdeckt, „... nach Ihnen suche ich!"
Überrumpelt sehe ich zu, wie er auf mich zu kommt und sich dabei die Hände reibt. Habe ich versehentlich ein Plagiat verzapft? Hoffentlich nicht.
„Es tut mir wirklich sehr leid, Sie stören zu müssen, aber ich habe große Neuigkeiten für Sie!"
Dann wohl eher keine Plagiatsklage. Ich bin einer seiner Lieblinge, das ist mir schon klar, aber dieser Enthusiasmus ist etwas unheimlich. Während die anderen Lehrenden eher die Nase rümpfen, ist Keaton jedes Mal begeistert, wenn ich in seinen Seminaren auftauche. Er mag Underdogs, Frauen ‚in STEM' und französische Zwiebelsuppe und findet, dass ich seiner dreijährigen Enkelin ähnlich sehe. Fragt mich nicht, was im Gehirn dieses Typen vorgeht. Der Grad zwischen Genie und Wahnsinn ist ja bekanntermaßen schmal.

„Worüber?"
„Kommen Sie, kommen Sie", er ist schon wieder auf halbem Weg zur Rolltreppe, während die anderen Studenten um uns herum hochinteressiert über ihre Bücher linsen, "Folgen Sie mir bitte. Ich verspreche, es dauert nicht lange."
Einen Moment will ich mich wehren, dann klappe ich meinen Laptop zu und halte den Timer an meinem Bäumchen an, das gerade beginnt, Früchte zu tragen. Habe ich die Clusterausschreibung gewonnen? Oder irgendeinen Preis für meine letzte Hausarbeit? Der Gedanke an sich ist schon absurd. Ich pflücke eine der Minikirschen, nehme meine Tasche und stehe auf. Das Büro meines Dozenten ist nur ein Gebäude weiter, aber der Weg kommt mir ewig vor, weil er einfach nicht aufhört, mich vollzulabern.

„Was passiert hier?", frage ich irgendwann geradeheraus, "Habe ich irgendwas falsch gemacht?"
„Oh nein", sagt er und hält mir die schwere Doppeltür der Bibliothek auf, „Ganz im Gegenteil. Ihre Leistungen sind hervorragend. Deshalb kommen Sie überhaupt in Frage."
„Sie sind sehr geheimnisvoll."
Er lacht, schiebt die Hände in die Taschen seines Tweetanzugs und hüpft geradezu über den Asphalt, sodass die Ballonsocken besonders schön zur Geltung kommen.

Wir überqueren die Prachtstraße von New Seoul und betreten das riesige Hauptgebäude der Universität. Vorbei an perfekten Perpetua Mobilia, Nachahmungen griechischer Statuen und schnatternden Studentenhorden. Als wir im Büro meines Dozenten ankommen, wandert mein Blick erst über die verschiedenen halbhochgefahrenen KI Faces, die als bunte abstrakte Lichtfiguren im ganzen Raum herumschweben.

Das letzte Mal, als ich hier war, habe ich geheult, weil ich mit meiner Arbeit völlig überfordert war. Keaton hat mir Tee gekocht und mir dann in seiner großväterlichen Art zu verstehen gegeben, dass er mein Exposé bis auf die Rechtschreibfehler absolut genial findet. Heute gibt es keinen Tee und auch keine aufbauenden Worte. Stattdessen lehnt eine Frau im Anzug am Schreibtisch des Professors. Sie verwendet gerade den ausgeschalteten Bildschirm ihres Tablets, um mit einem dreihundert Creds teuren dunkelroten Lippenstift ihr MakeUp aufzufrischen. Ich friere mitten in der Bewegung ein, als ich sie sehe.

„Hallo", sagt Ava MacSage und fixiert mich über die Kante ihres Geräts hinweg, „Ich fürchte, wir haben uns noch nicht persönlich getroffen. Das hätte auch so bleiben können, wenn Sie nicht seit zwei Wochen vor meinen Leuten davonlaufen würden, wie ein verschrecktes kleines Reh."
Sie steckt den Lippenstift weg und schaltet den Bildschirm ein.
„Wir haben einiges zu besprechen. Machen Sie den Mund zu und setzen Sie sich."

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