14 - Clara de Flocon
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Ich stehe in High Heels neben einer Leiche und wünsche mir zunehmend, ich wäre ebenfalls tot. Denn wie sich herausstellt bin ich offiziell Matts Arbeitsgrüppchen, das der Forensiker klangvoll als ‚Special Taskforce' bezeichnet, zugeteilt. Das habe ich nun schwarz weiß als zweihundertseitigen Vertrag auf meiner Data Watch. Ava hat sich nicht die Mühe gemacht, persönlich hereinzuschneien, um mir zu sagen, dass sie mich durch ihr ausgefuchstes Schneeballsystem in einer Mordermittlung geschmuggelt hat, sondern allen ernstes eine E-Mail mit der Anordnung geschickt, alles genau zu lesen und sich Notizen zu den Stellen zu machen, die ich nicht verstehe.
Zeit zum Ausrasten hatte ich allerdings noch nicht, denn als die E-Mail kam, habe ich gerade meine Haare unter eine Plastikhaube geschoben und mir eine Gesichtsmaske übergezogen. Diese Maske ist momentan mein bester Freund, denn erstens rieche ich dadurch weniger und zweitens verbirgt sie meine Gesichtsausdrücke vor den Wissenschaftlern und dem Sunhunter. Mein stummer Schrei ins Nichts ist also bisher unbemerkt geblieben.
Auf meiner Watch poppt ein Reminder auf, gerade, als die Glastür zum Pathologielabor zur Seite schwebt. Morgen: 8:00 – 10:00: Höhere Mathematik III – Modulprüfung. Ich sehe zur Decke auf, atme tief durch und werde dabei vom chemischen Geruch des Labors fast umgenietet. Ich frage mich, ob das als valide Entschuldigung für das Fernbleiben einer Prüfung zählt: Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte um sehr kurzfristigen Rücktritt von Modulprüfung III. Unglücklicherweise bin ich mit der Unterzeichnung eines harmlosen Werkstudentenvertrags mitten in eine hochkarätige Mordermittlung gerutscht – man kennt's.
Matt, dessen Dauerwelle ich eigentlich nie wieder sehen wollte, erledigt während ich im Kopf E-Mails an das Prüfungsamt schreibe, beschwingt wie immer die Begrüßung mit den Spezialisten und stellt mich als seine Kollegin und nicht als ‚emotionales Wrack, das das Department gekidnappt hat' vor. Jetzt schwebt seine blass-blonde Dauerwelle über der blutleeren Gestalt einer toten Agentin der wohl mysteriösesten wie unverschämtesten Regierungsorganisation der Föderation.
„Danke", sagt Matt gerade über die Schulter zu dem untersetzten Wissenschaftler, der uns die Ergebnisse vorgestellt hat, „Geben Sie Bescheid, wenn das Ergebnis da ist."
„Ich lasse die DNA Sequenzen noch einmal gegenprüfen", nickt der Pathologe mit dem Dreifachkinn, der bei der Arbeit widerlicherweise Kaugummi kaut, und entfernt sich. Soweit er weiß, handelt es sich um eine VHN Agentin, nicht um eine Sunhunterin. Ich bin immer noch geschockt darüber, dass man nicht einmal den Wissenschaftlern die Wahrheit gesagt hat, aber mir schon.
Matt sieht zu mir auf. Streicht sich fast mit den bis gerade noch ellenbogentief im Brustkorb der Leiche steckenden Händen die verdammten Engelslocken aus dem Gesicht. Er bemerkt es noch rechtzeitig.
„Alles okay bei dir?"
Das fragt er mich jetzt schon das dritte Mal. Ich verstecke mein flaues Gefühl wohl nicht ganz so gut, wie ich denke. Mein Magen knurrt völlig unpassenderweise in regelmäßigen Abständen, wohl weil er sich nicht entscheiden kann, ob ich wegen des fehlenden Abendessens Hunger habe oder mich doch noch übergeben will im Angesicht dieses bis eben geöffneten menschlichen Kadavers und der Verschwörung, die ich immer noch nicht ganz gerafft habe.
Das hier ist nicht meine erste Leiche, der Sunhunter ist aber logischerweise abgehärteter als ich. Die Pathologen finden ihn toll, deswegen wollten sie ihn unbedingt selbst nach den Verletzungen tasten lassen, obwohl er absolut nicht qualifiziert ist. Zumindest soweit ich weiß, keine Ahnung, was der Typ in seiner Freizeit macht. Inzwischen ist die Tote dankenswerterweise wieder zugenäht, doch Matt trägt immer noch Gummihandschuhe und drückt gerade an irgendeinem Schnitt an ihrem Hals herum.
Wir sind übrigens alleine im weißen Licht, denn Joey hat sich passiv-aggressiv verabschiedet, sobald wir in Richtung der Leichenhalle abgebogen sind.
Generell ist es kein gutes Zeichen, wenn ein Gebäude eine eigene Leichenhalle hat. Ich frage mich, ob die anderen Metallfächer des Raums leer sind. Föderations Agenten werden nicht darin liegen, aber vielleicht andere Menschen. Die Opfer der Sunhunter, die ‚Ziele' der Regierung, die echten VHN Spione. Ich beiße die Zähne zusammen und fokussiere mich wieder auf die blutleere Gestalt der Agentin vor uns. Sie war sicher hübsch, als sie am Leben war. Beinahe plumpe Lippen, gestochen scharfe Wangenknochen und feines blondes Haar. Wenn nicht ihr linkes Bein nicht mehr am Rest befestigt wäre und die Knochen ihrer Hand nicht einzeln auf dem Metall liegen würden, sähe sie beinahe friedlich aus. Die Agentin ist ungefähr so groß wie ich, hat aber um einiges mehr blutleere Muskelmasse.
„Was denkst du?", fragt Matt mich, tritt zurück und reicht mir auch ein paar Handschuhe über den Metalltisch, was ich ignoriere.
„Wir machen daraus jetzt keine Unterrichtsstunde, das ist respektlos."
„Nein, aber ich hätte gerne deinen Eindruck. Du hast weniger Erfahrung, aber vielleicht siehst du genau deswegen etwas, das uns allen entgeht."
„Ich bin keine Ärztin."
„Ich auch nicht. Aber mit Gewalt kennen wir uns aus."
„Ich fasse sie nicht an", sage ich entschieden, „Ich will gar nicht hier sein."
„Bitte", machte er schlicht, „Ich weiß jetzt sehr viele Details darüber, wie sie gestorben ist, aber das warum versteckt sich vor mir. Viele Fälle sind an diesem Punkt schon gegessen, weil es nicht gerade leicht ist die Spurensicherungsmethoden des Departments auszutricksen. Der hier nicht."
Es schüttelt mich bei dem Gedanken, die wächserne Haut zu berühren. Ich greife nach den Handschuhen und ziehe sie mir schaudernd über. Langsam gehe ich zum Kopfende der Bahre,
„Das war kein schneller Tod", wiederhole ich hoch hilfreich das offensichtliche.
„Hm", macht Matt, „Wer auch immer das getan hat, wollte Informationen, kein bloßes Ausschalten des Ziels."
„Hast du mal darüber nachgedacht", sage ich und gehe neben ihrem Kopf in die Knie, „Dass sie es vielleicht selbst war?"
„Suizid?", schnaubt er, wohl bereuend, mich gefragt zu haben, „Sehr sehr sehr unwahrscheinlich."
„Nein, das meine ich nicht."
Ich deute auf die Kratzer auf der Kopfhaut der Toten.
„Habt ihr geschaut, ob die von ihr sind?"
Matt kommt herüber, geht ebenfalls neben mir in die Hocke. Er schiebt das Haar zur Seite. Blutige, aber dünne Krusten kommen darunter zum Vorschein.
„Du denkst, sie hat sich selbst gekratzt?"
„Im Rausch vielleicht. Sie hat die auch an Armen und Beinen."
„Ja, das prüfen wir schon. Wahrscheinlich aber eine kalte Spur."
„Keine bekannten Drogen im System", kommentiert der Pathologe, der inzwischen wieder zurückgekommen ist, um uns auf die Finger zu schauen, „Und keine DNA Übereinstimmungen."
„Gar nichts?", fragt Matt baff. Der Wissenschaftler schüttelt den Kopf.
„Es ist, als hätte sie nie jemand angefasst."
Untypisch für so einen heftigen Kampf. Ein tiefes Stirnrunzeln hat sich zwischen den Brauen des Sunhunters eingegraben.
„Ich will noch einen Kreuzvergleich", ordnet er an, „Und einen dritten Scan. Überprüft die Rekonstruktion der Knochenbrüche noch einmal und schickt mir die Ergebnisse direkt auf meine ID, nicht per Mail."
„Und die Leute vor Ort sollen nochmal nach den fehlenden Knochen suchen", hänge ich an, sehe dabei aber nicht den Wissenschaftler, sondern Matt an. Wer bin ich denn, dass ich hier Menschen Befehle gebe? Hallo, IT Werkstudentin eures Vertrauens, keine Ahnung von nichts, aber ich habe diesen Satz mal in einem mittelmäßigen Fernsehkrimi gehört und dachte mir, der klingt jetzt gut. Doch der Sunhunter nickt dem Pathologen nur zu.
„Knochen, Gewebe ... alles. Ava hat mir schon gesagt, dass die Leiche da dringend weg musste, aber ich will trotzdem alle Infos, die ich kriegen kann. Danke."
„Komm' MacClara", Matt wirft eine Minute später im Vorraum seine Handschuhe weg. Wir waschen uns die Hände mit scharf riechender Seife und streifen die knittrigen grünen Schutzanzüge wieder ab.
„Wohin denn?", frage ich, inzwischen zunehmend erschöpft. Meine Waden schmerzen von den hohen Schuhen, die mir eine komplett bescheuerte Vorsichtsmaßnahme erscheinen, aber gut.
„Mittagessen?", fragt Matt und hält mir die Tür auf.
„Mittagessen? Es ist fast Mitternacht."
„Du bist so überkorrekt manchmal."
Wir treten hinaus in einen der Kellergänge des Departments und steuern anscheinend wieder auf den Tunnel zu Villa Paavola zu. Natürlich lässt der Sunhunter sich von einer kleinen Obduktion nicht den Appetit verderben. Noch ein Reminder auf meiner Watch: 14:00-15:00: Advanced Biocoding Klausur.
„Matt", mache ich und er dreht sich schwungvoll zu mir um, „Wir müssen heute nicht mehr über den ganzen Mist reden. Ich habe auch gar keinen Hunger, ich muss morgen zwei Klausuren schreiben und wenn ich noch weniger schlafe, dann läuft das nicht."
Der Sunhunter hält inne und mustert mich. Ich bin zu fertig, um den Blick genau zu analysieren.
„Du willst die echt schreiben?"
„Ja. Ich versuch's zumindest. Wenn ich nicht hingehe zählt das als durchgefallen, ich bin ja nicht krank."
„Also falls dir ein Attest helfen würde", Matt drückt den Knopf am Lift, der ein schickes Ding aus Glas ist, „Ich kenne da ein paar Ärzte."
„Das sind Pathologen. Mir eine Sterbeurkunde auszustellen, damit ich nicht antreten muss ist jetzt ein bisschen zu dick aufgetragen."
„Ja ja. Aber ernsthaft, das ist kein Problem. Ich kann dir illegal das Ding besorgen oder du schreibst Ava ne Mail und sie macht das Ganze etwas legaler. Die kennt die vielleicht sogar, hat ja auch in New Seoul studiert."
„Als wäre es so ein Aufwand eine Krankmeldung zu bekommen", schnaube ich, „Nein, ich will die echt schreiben."
„Okay", der Aufzug ist da und Matt lässt mir den Vortritt, „Can't relate. Wusstest du, dass ich miese Prüungsangst habe?"
Und trotz allem muss ich kurz lachen, weil es so eine absurde Vorstellung ist, dass jemand, der gerne bis über beide Ohren in blutigen Verfolgungsjagden steckt, Angst vor ein paar Textaufgaben hat. Es wäre so leicht, einfach wieder in unser normales ‚wir' zurückzurutschen. Doch das wird – darf – nicht passieren, vor allem solange ich nicht begriffen habe, was die Regeln dieses neuen Spiels sind. Es wird nie wieder so sein, wie auf dem Kreuzer. Das will ich auch überhaupt nicht mehr. Was ich will ist morgen bestehen und so schnell wie möglich so weit weg von dieser Leichenhalle zu kommen, wie es geht.
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