10 - Matthias Green

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Nach sechs Stunden Schönheitsschlaf stolpere ich in einem Paar Gästehausschuhe die Treppe hinunter und mache mir in der Küche einen Kaffee, der selbst einen Elefanten umhauen würde.
Die Sitzung des Krisenstabs ist nicht ganz so gelaufen, wie gedacht und meine Laune ist entsprechend immer noch gedrückt. Allerdings haben meine Rippen noch nicht meine Lunge aufgespießt, was wirklich ein Pluspunkt ist.

Ich drehe das Radio voll auf und versuche damit, meine Gedanken zu übertönen, während die Kaffeemaschine blubbert und der Toaster läuft. Als ein Schatten vor der Haustür auftaucht und sich ein Schlüssel im Schloss dreht, denke ich erst, Hendrik war einkaufen oder soetwas, bevor mein Blick an eben jenem Butler hängen bleibt, der gerade mit Hingabe einen Bonsai auf dem Fensterbrett des Gangs trimmt. Allerdings hört er damit auf und grüßt freundlich, als eine vor Kälte zitternde junge Frau hereintritt und sich den Schnee aus den Haaren schüttelt. Sie grüßt ihn mit einem kleinen Lächeln zurück, das augenblicklich verschwindet, als sie mich erblickt.

„Du", sagt die Liebe meines Lebens in einem Ton, der mir die Haare zu Berge stehen lässt, und wirft den Schlüssel zum Haus in die Schüssel am Eingang, „Ich würde ja sagen, es freut mich, dass du noch lebst, aber ich lüge aus Prinzip nicht."

Ein bewundernswert standfester Teil meines Gehirns ist noch dazu fähig die Tatsache zu hinterfragen, wieso zum Kuckuck sie einen Schlüssel für das Safehouse hat. Ich realisiere außerdem am Rande, dass sie mit der Schuhspitze die Tür offen hält. Doch alles andere verpufft. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich meinen eigenen Namen kenne, aber ihren kenne ich auf jeden Fall.

„Clara", mache ich, „Clara? Clara."

Ich wechsle einen Blick mit meinem Oktopus, deute auf die Frau in der Tür und sage zu Grabsy: „Siehst du sie auch?"

Das Babyalien nickt freudig, was eine sehr seltsame Geste ist und etwas aussieht, als würde ein bläulicher Wackelpudding Samba tanzen. Ich stelle meinen Teller auf der Küche ab, kneife die Augen zusammen und sehe wieder hin. Sie ist immer noch da.
Das Schneeflöckchen steht in einem grünen Mantel und jetzt aus irgendeinem Grund neben einem Typ mit Hipsterbart und gestreiftem Poloshirt in einem Safehouse des Departments.
Ihre Haare sind länger, sie trägt ganz andere Kleidung und sogar Ohrringe, aber da ist unverkennbar dieses Funkeln in ihren Augen. Das letzte Mal, als sie mich so angesehen hat, hat sie mich danach in die Nieren getreten. Träume ich etwa immer noch? Zutrauen würde ich es mir.

Ihr Begleiter hat ihr beim hereinkommen einen Blick zugeworfen, der mich wie eine Nackenschelle getroffen hat.
Sind die etwa zusammen? Ich mache eine wage auffordernde Bewegung in Richtung meines Babyaliens, ohne meinen Blick von der kleinen Französin mit der mörderischen Miene abzuwenden.

„Box' mich mal", sage ich Grabsy und stöhne auf, als mich eine Tentakelfaust in die Brust trifft, „Doch nicht so fest!"

„Oh, Sie kennen sich schon?", fragt der Fremde Poloshirtmensch etwas irritiert.

Ich sage „Ja", sie lacht ein „Nein". Wir sehen uns an, sehen wieder zu ihm hinüber. Nun bejaht sie und ich verneine. Der Typ nimmt währenddessen seine Tasche in die andere Hand, um mich per Handschlag zu begrüßen. Er hat einen starken, warmen Händedruck, aber keinerlei spürbare Schwielen oder Narben. Unverkennbar ein Büromensch. Wahrscheinlich ist er Anti-Alkoholiker, rettet in seiner Freizeit Küken und züchtet Bio Kresse in Herzform. Grundgütiger, Clara, was hast du dir da angelacht?

„Dr. Joey Smyrnova-Pappas", bestätigt der Streifenträger zumindest einen Teil meines Verdachts, „Externer psychologischer Berater des Departments. Ich soll die klinische Freigabe für Hunter Matthias Green erstellen. Sie wissen nicht zufällig, wo ich ihn finde?"

„Er steht vor dir", sagt Clara trocken, „Und das weißt du genau."
„Wieso dutzt du den Kerl?", frage ich.
„Wo warst du die letzten fünf Monate?", fragt sie.

„Oh. Wenn ich ehrlich bin ... ich dachte, sie wären älter, Mister Green", macht der Unsympat. Er zückt einen winzigen in Leder gebundenen Notizblock und einen silbernen Stift, um damit etwas auf selbigem Block durchzustreichen. Dabei ignoriert er taktvoll, dass Clara und ich uns immer noch anstarren, wie zwei gegenüberstehende Sphinxen. Ich bin mir nicht sicher, was mit demjenigen passiert, der zuerst wegsieht.

„Du hast eine neue Frisur", stelle ich fest.
„Halt die Fresse", sagt sie.
Der Unsympat hebt etwas irritiert den Blick. Er kennt Clara anscheinend gut genug, um zu wissen, dass sie eigentlich eine zivilisierten Ausdrucksweise hat. Ich hasse den Kerl jetzt schon, denkt ein funktionstüchtiges Gehirnareal, während ich einen weiteren Schluck von meinem Kaffee trinke. Zu meiner Freude greift er nicht nach ihrem Arm, oder macht sonst irgendwie Anstalten, sie durch seine Berührung zu beruhigen. Immerhin schlafen sie nicht miteinander, denke ich seelig, gefolgt von, verdammt, Matthias, du tust es schon wieder.
„Steht dir gut. Die Haarsache", sage ich etwas ungelenk.

Sie zieht energisch ihren Mantel aus, wirft ihn unter Hendriks missbilligendem Blick auf das Schuhregal und rauscht an mir vorbei die Treppe hinauf.
„Clara", rufe ich ihr hinterher, „Jetzt warte doch mal!"
„Verzieh dich dahin, wo du hergekommen bist!"

Ich ducke mich und kann damit ganz knapp einem ihrer Segeltuch Turnschuhe ausweichen. Sie knallt eine Tür hinter sich zu und lässt mich mit meinem Kaffee alleine. Meinem Kaffee, einem Sechzigjährigen mit Mini Baumschere in der Hand und einem mittelmäßig schockierten Akademiker.

„Mir scheint, Sie kennen sich gut", sagt dieser eindeutig nicht in Modegeschmack promovierte Gedankenleser nüchtern. Der Oktopus nimmt meine Kaffeetasse entgegen, damit ich die Arme vor der Brust verschränken kann, um meinem skeptischen Blick noch mehr Ausdruck zu verleihen.
„Wie kommen Sie drauf?", frage ich.

Hendrik wählt ausgerechnet diesen Moment, um mit spitzen Fingern Claras Schuh aufzuheben und zurück zur Garderobe zu tragen. Der Hipster folgt ihm mit dem Blick, sagt: „Nur so ein Gefühl" und fragt dann hochprofessionell, ob ich denn bereit für mein Assessment wäre.

„Kann ich davor bitte mal ihren Berechtigungsschein und vor allem ihren Ausweis sehen?"
Ich gebe mir nicht einmal Mühe, meine Feindseligkeit zu verschleiern.
„Oh, klar", lacht der Hipster etwas unsicher und beginnt in seiner Tasche zu wühlen. Liebenswürdig verpeilt. Auch das noch. Darauf steht sie total.

Grummelnd folge ich wenig später dem Gedankenleser ins Wohnzimmer der Villa Paavola und nehme Hendriks Angebot an, mir ein Fitness Müsli aus dem Kühlschrank zu holen. Hält mich wohl für zu fett, der Gute.
Ich gehe im Kopf alle bisherigen Ereignisse durch, seit ich wieder in Gesellschaft zivilisierter Menschen weile: Clara ist aufgetaucht und wirft Schuhe nach mir, van Haven will die Regierung übers Ohr hauen und braucht mich als Trojanisches Pferd, ich darf den Psychologenmatrosen nicht provozieren, weil er mir sonst meine Freigabe nicht erteilt und der Butler denkt, ich bin zu fett. In meinem nächsten Leben werde ich Bonsai, dann geht mir das alles einfach vollkommen an der Pfahlwurzel vorbei.

„Schön, schön, schön", macht das Ringelshirt und setzt sich an den teuren Esstisch im Wohnzimmer, „Dann erzählen sie mir doch einmal, wie ihr Tagesablauf auf Mission Y4 aussah. Vor deren Abbruch natürlich."

Hendrik stellt das Müsli vor mich, legt eine Serviette daneben und reicht mir einen silbernen Löffel. Der Hipster scheint etwas verschnupft darüber, dass ich während des Assessments esse, als wäre er mein Lehrer und ich in der dritten Klasse. Ich dachte, Sie wären älter, hat er gesagt. Fick dich doch, Zebramensch, denke ich und nehme einen besonders genussvollen Bissen von einem Apfelschnitz.

Ava hat mir zwar verboten, meine übliche Psychologenverwirrungsschiene zu fahren, aber ich brauche wirklich ein Ventil für meine Emotionen gerade. Und da ich nicht das bescheuerte ballaststoffreiche Müsli durch den Raum werfen - oder noch besser - Clara hinterherrennen kann, wie der traurige Idiot, der ich bin, muss wohl das Matrosenzebra dafür herhalten. Mal sehen, ob er wirklich so gut in seinem Job ist, wie das Department anscheinend denkt. Ich grinse in mein Müsli und beginne, zu lügen, wie gedruckt.

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