3. Schule oder die legale Foltermethode für junge Leute
Das schrille Klingeln des Weckers liess mich aus meinen unruhigen Schlaf hochschrecken. Für einen kurzen Moment war ich desorientiert, hing noch halb in meinem Traum, dann wurde mir klar, dass Dinosaurier schon seit Jahrmillionen ausgestorben waren. Genervt trat ich die Decke weg. Ich hatte schon wieder nicht gut geschlafen. An sich war es nicht schlecht, jede Nacht zu träumen, das taten nachweislicherweise alle, aber ich konnte mich an jede Einzelheit erinnern, was dazu führte, dass ich mich nie richtig ausruhen konnte. Und da meine Träume auch noch nicht sonderlich entspannend waren, gab es gewisse Tage, an denen ich eher einem Zombie glich als einer gelangweilten Viertklässlerin.
Wie immer war ich trotzdem sauer auf den Wecker. Zwar war mir sehr wohl klar, dass ich wohl kaum ausgeruhter gewesen wäre, hätte ich weitergeschlafen, aber angenehm war es trotzdem nicht, so geweckt zu werden. Abwesend trat ich gegen den Nachttisch, auf dem das Gerät stand, was es dazu brachte, zu verstummen. Es hatte immer schon einen Wackelkontakt gehabt, ich musste nur im Gedächtnis behalten, ihn für den nächsten Tag wieder richtig zu verbinden. Sonst verpasste ich noch die Schule, weil ich verschlief. Und das wäre schliesslich eine Schande gewesen. Beim Gedanken an Schule landete meine Laune in den Keller. Schliesslich waren noch mehr Lektionen über Textverständnis und Mathetexte, in denen man die Informationen fand, mit denen man rechnen sollte, genau das, was ich brauchte.
Gähnend öffnete ich die Türe meines Zimmers und spähte vorsichtig hinaus. Sonst war noch niemand aufgestanden, wie immer. Ich hatte das Glück gehabt, ein Einzelzimmer im Waisenhaus zu ergattern. Normalerweise gab es nur Doppelzimmer, aber da mein winziges Zimmer genau unter dem Dach, und damit unter der Dachschräge, lag, passte kein Doppelbett hinein, weder eines, das in die Höhe, noch eines, das in die Breite gebaut worden war. Nach einer Weile hatte ich sogar aufgehört, mir dauernd den Kopf an der Decke zu stossen. Ich trottete geräuschlos ins Bad und machte mich für den Tag fertig, allerdings die ganze Zeit mit dem bohrenden Gefühl im Hinterkopf, etwas wichtiges vergessen zu haben. Erst, als ich einen neuen Kapuzenpulli überzog, dachte ich daran, was gestern passiert war. Meine Laune krachte durch den Kellerboden und landete in der Nähe des Erdkerns, als ich daran dachte, dass ich den reichsten, einflussreichsten Mann in New York, der zu allem Überfluss auch noch ein Genie und Superheld war, gegen mich aufgebracht hatte. Und ich hatte sogar dafür gesorgt, dass er mein Alter und mein Geschlecht kannte. Das hatte ich wirklich schlau angestellt. Es würde wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis die Men in Black an meine Zimmertüre klopften. Oder Ethan Hunt oder so.
Ich schlenderte hinunter zum Frühstück, meinte Turnschuhe quietschten auf der Steintreppe. Ich schnappte mir einen Apfel, einige Sandwiches zum Mittagessen und meine Schultasche und stürmte aus der Haustüre. Auf dem Weg in den Central Park begann ich meinen Apfel zu essen. Er war erstaunlich sauer und nicht gerade das, was ich erwartet hatte, aber ich ass ihn trotzdem. Eigentlich hatte ich am Morgen nie besonders grossen Hunger, ausser natürlich, wenn Donuts oder Pancakes zur Verfügung standen, aber dafür wuchs ich auch nicht besonders schnell und blieb ziemlich klein.
Es war ein kalter Morgen und die Wiesen im Central Park waren mit Raureif bedeckt. Ich liebte es, wenn es früh war durch den Central Park zu schlendern und die Natur zu bewundern. Es war so schön friedlich. Im Sommer kletterte ich immer auf einen der Bäume um etwas zu lesen, bevor die Schule angefangen hatte, aber in den kälteren Monaten setzte ich mich lieber auf eine der Bänke. Obwohl ich immer so früh losging, um den anderen aus dem Weg gehen zu können, kam ich meistens zu spät. Ich konnte mich entweder nicht von meinem Buch losreissen oder ich schätzte den Weg falsch ein. Meistens Ersteres.
Auch heute ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Ich schaute irgendwann auf die Uhr, bekam einen halben Herzinfarkt und rannte los. Als ich in der Schule ankam, klingelte es gerade zum Unterricht. Entsetzt fixierte ich auf meine Uhr, die vorher definitiv noch etwas mehr Zeit bis zum Schulbeginn angezeigt hatte, und übersah so den Jungen, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. In voller Geschwindigkeit krachten wir in einander hinein und landeten auf dem Fussboden. Wir blinzelten uns überrascht an.
Während ich mich nach einem Schreckmoment aufrappelte, musterte ich ihn verwirrt. Ich kannte ihn nicht, aber das hatte nichts zu bedeuten. Ich kannte eigentlich niemanden an dieser Schule so richtig. Irgendwann hatte ich aufgegeben, zu versuchen, Gespräche mit irgendwem zu führen, denn es lief sowieso immer darauf hinaus, dass mein Gesprächspartner nicht unbedingt verstand, was ich von ihm wollte. Und das wiederrum führte dazu, dass eine ganze Menge Leute mich nicht leiden konnten und sich über mich lustig machten, weil ich "seltsam" war.
Es war also nicht weiter verwunderlich, dass ich den Anderen nicht kannte: Er hatte verwuschelte, braune Haare, die aussahen, als sei er gerade aus dem Bett gefallen und runde, rehbraune Augen. Sein T-Shirt ragte aus der Hose und seine Schuhe waren nicht gebunden. Er war höchstens ein Jahr älter als ich und sah im Grossen und Ganzen aus, als käme er gerade aus dem Bett.
«Bist du auch zu spät?», fragte er.
Ich verdrehte die Augen, mich bestätigt darin sehend, dass es eine dumme Idee war, mit irgendjemand in meiner Schule ein Gespräch anzufangen, wenn ich ein wenigstens halbwegs intelligentes Gespräch führen wollte, und zog ihn ebenfalls hoch. "Ja, ich bin zu spät, Captain Obvious. Wirklich, eine meisterhafte Deduktion, Sherlock."
Ich versuchte, seinen verletzten Gesichtsausdruck zu ignorieren, der sich sicher auf meinen harschen Ton bezog. Er schien nicht erwartet zu haben, dass seine dämliche Frage mich nerven würde, wahrscheinlich hatte er nur nett sein wollen. Da er damit allerdings ein wenig aussah wie ein getretener Welpe, tat es mir eben doch leid, ihn angemeckert zu haben, obwohl er mir eigentlich gar nichts getan hatte. Vielleicht musste ich eben doch lernen, wie man nett zu Anderen war und meine Lehrerin hatte recht.
Ich gab ihm also etwas schuldbewusste eine zweite Chance und meinte: "Na dann, Lauf, Forest, Lauf!»
Für einen kurzen Moment starrte er mich nur an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und mir wurde klar, dass er meine Referenz verstanden hatte. Das war beinahe noch nie passiert, weshalb ich vollkommen überrumpelt zurücklächelte.
Er hob seinen Rucksack vom Boden auf und salutierte dann scherzhaft vor mir. "Ich gewinne dir die Tennismeisterschaft, Jenny!», versprach er mit und verschwand gestresst im nächsten Klassenzimmer. Ich aber blieb zurück und starrte ihm nach. Was für ein seltsamer Typ. Ob er es wohl wert war, ihn besser kennenzulernen? Ich dachte ernsthaft darüber nach, als ich mich dazu zwang, in Richtung meines Klassenzimmers zu gehen.
Ich gab mir keine Mühe, besonders leise zu sein, als ich das Zimmer betrat. Die Lehrerin würde mich sowieso hören und mir die gleiche Standpauke wie immer halten. Ich konnte schon beinahe mitsprechen, als sie zuerst verärgert aufsah und dann, im gleichen Tonfall wie immer, zu ihrer Moralpredigt ansetzte. «Schön, dass du dich auch noch zu uns gesellst, Kayla. Vor allem mit so guter Laune.»
Und wie immer lachte die Klasse über ihren Kommentar.
Ich hob nur eine Augenbraue, mich nicht gross darum scherend, was sie sagte. Wieso sollte ich mich darum kümmern, pünktlich zu sein, wenn das nur hiess, dass ich noch länger in einem Klassenzimmer sitzen musste? «Sorry. Nächstes Mal versuche ich, pünktlich zu kommen.»
«Das sagst du jedes Mal», mahnte sie mich, ihren strengen Lehrerblick aufsetzend. Vielleicht war sie dieses Mal wirklich ein kleines bisschen stinkiger als sonst.
Ich zuckte nur die Schultern. «Ich sage genau das, was Sie von mir erwarten. Sie haben ja oft genug betont, wie sehr es Ihnen ein Anliegen ist, dass ich pünktlich komme. Wenn Sie mir heute sagen würden, es sei Ihnen ein Anliegen, dass ich morgen als Clown verkleidet in die Schule komme, dann werde ich mich morgen dafür entschuldigen, dass ich das nicht getan habe und Ihnen versprechen, ich würde es ganz sicher das nächste Mal machen. Klar soweit?" Ich setzte mich unbeeindruckt an einen leeren Tisch, verschränkte demonstrativ die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf hinein, als wollte ich schlafen, was natürlich völliger Blödsinn war. Um einen vernünftigen Schlaf zu bekommen, sprach Sie viel zu laut. Aber das wusste die Lehrerin nicht, die sich seit einigen Jahren mit meinen kleinen, aber ziemlich offensichtlichen Protesten herumschlagen musste.
Da sie wusste, dass es keinen Sinn machte, weiter mit mir zu streiten, seufzte sie. «Wenn du für heute alle deinen schlauen Sprüche aufgebraucht hast, dann können wir endlich mit dem Unterricht anfangen. Also, heute geht es wieder um Textverständnis.»
Ich hätte liebend gerne auch noch einen frechen Kommentar über unser Thema abgelassen, aber ich konnte mich noch allzu gut an das letzte Gespräch mit meiner Klassenlehrerin erinnern. "Die ganze Schule weiss, dass du intelligent bist, Kayla, das ist kein Geheimnis", hatte sie gesagt. "Und wir wissen auch, dass du dich langweilst. Das ist genauso offensichtlich. Aber ausser dem Honor-Program für Hochbegabte Kinder haben wir nichts, mit dem dir helfen können und du hast ja eindrucksvoll gezeigt, dass du daran nicht teilnehmen willst, als du dafür gesorgt hast, dass du nach einem einzelnen Treffen herausgeworfen wurdest. Und unsere Psychologin ist ziemlich sicher, dass du ihren Intelligenztest einfach nur hingeschmiert hast, was heisst, dass du noch eine ganze Menge mehr Potential hast, als wir wissen."
Ich hatte nur geschwiegen, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt. Ja, ich hatte den Intelligenztest hingeschmiert und ich hatte dafür gesorgt, dass ich aus dem Honor-Program geworfen wurde, aber nach den ersten paar Minuten hatte ich gewusst, dass es nichts für mich war. Ich hätte mit einer ganzen Menge anderer Leuten, die nicht viel cleverer waren, als der Rest der Schule, sich aber für Einstein persönlich hielten, mehrere Stunden die Woche sinnlose, eigens ausgedachte Projekte verfolgen sollen, die von irgendeinem Erwachsenen gecoacht werden würden, der sowieso keine Ahnung vom eigentlichen Thema des Projekts hatte und nur versuchte, irgendetwas zu tun, um sein Geld abstauben zu können. "Lassen Sie mich einfach eine Klasse überspringen!", bettelte ich meine Lehrerin zu wiederholten Mal an. "Ich habe schon so oft gehört, dass irgendjemand das durfte, warum also ich nicht, wenn Sie selbst sagen, dass alle wissen, dass ich clever bin?"
Meine Lehrerin hatte geseufzt, so oft hatten wir das schon besprochen. "Kayla. Du weisst doch ganz genau, warum. Es wird dir nichts bringen, im Null Komma Nichts wird dir wieder langweilig sein und du wirst deinen Lehrer wieder anbetteln, überspringen zu dürfen. Und die andere Sache ist, dass deine emotionale Intelligenz nicht mit deinem IQ mithalten kann. Wir können dich nicht überspringen lassen, wenn du emotional noch nicht reif dafür bist! Willst du es nicht doch noch einmal mit dem Honors-Program versuchen?"
Weil ich verneint hatte und frustriert aus der Schule gestürmt hatte, ertrug ich jetzt eine langweilige Stunde nach der anderen. Ich verstand immer noch nicht, was meine Emotionen damit zu tun hatten, ob ich eine Klasse überspringen durfte oder nicht.
Überarbeitet.
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