Kapitel 73
Evi
Evi hatte einen todsicheren Plan geschmiedet. Kindsmissbrauch war ein Verbrechen, das die Welt nie verzieh, auch nicht einem Dr. Borchert. Damit kriegte sie ihn! Und wenn er dann versprach, zu ihr zurückzukommen, mit der Tochter von ihr aus, würde sie ihre Anschuldigungen zurücknehmen, hätte sich halt geirrt, mit einem anderen Lover verwechselt.
In ihrer Paranoia hatte sie jeden Bezug zur Realität verloren.
Die Idee zu dem missverständlichen Gespräch war ihr ganz spontan gekommen, passte aber hervorragend.
Sie schrieb sich ihre Geschichte, die sie der Polizei erzählen wollte, akribisch auf, um sich nicht in Widersprüche verwickeln zu lassen. Immer wieder schmückte sie alles aus, bis sie beinahe selbst glaubte, was sie sich ausgedacht hatte.
Jetzt fehlten nur noch die eindeutigen Bilder, die sie als Beweise vorlegen wollte. Was sie auf Pornoseiten fand, war harmlos. Sie erinnerte sich an etwas, das Darknet hieß. Dort bekam man angeblich alles, was illegal war.
Aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie dazu Zugang finden konnte. Sie machte sich auf in die Clubszene, irgendeiner würde da schon plaudern.
In den ersten Club kam sie gar nicht erst rein. „Oberhalb unserer Altersgrenze!" knallte der Türsteher ihr hin. Ihr verführerischer Blick brachte ihn nur zum Lachen. „Hau ab, Alte!"
Sie zog am Automaten ein paar Scheine, damit war der nächste Zerberus zu bewegen, sie durchzulassen.
Doch sie stellte ihre Fragen zu direkt und ungeschickt, flog kurz darauf raus.
Im dritten Club war sie dann erfolgreich. Sie tanzte einen Typen an, der gefährlich, aber nicht zu auffällig aussah. Seine abschätzigen Blicke ignorierte sie.
„Ich brauche etwas, an das ich nicht rankomme!" erklärte sie, als sie ihn in eine Nische abgeschleppt hatte.
„So lange es nichts mit Sex mit dir zu tun hat, kann ich dir so ziemlich alles besorgen!" Seine Worte trafen sie hart, aber sie musste sich zusammenreißen, durfte nicht die Gekränkte spielen.
„Ich muss ins Darknet!" antwortete sie, setzten alles auf eine Karte.
Er lachte auf. „Und was willst du da?"
„Ich brauche etwas, um meinem Ex eine schwere Kränkung heimzuzahlen!" Sie lehnte sich weit aus dem Fenster.
„Eine Waffe? Also mit Mord will ich nicht in Verbindung gebracht werden! No way!" wehrte er ab.
„Nein! Keine Waffe! Material!"
Er sah sie mehr als misstrauisch an. Dann zog er eine Visitenkarte aus seiner hinteren Hosentasche.
„Morgen um sechs Uhr morgens. Bring zehn Riesen mit!" Damit ließ er sie stehen. Als sie den Club verließ, merkte sie nicht, dass ihr ein dunkelgekleideter Bär von Mann bis vor ihre Haustüre folgte.
Ihre Adresse und ihr Name genügten Norman, ihre komplette Vita auszuspähen. Okay, sie schien gestört zu sein, stellte aber nicht wirklich eine Gefahr für ihn dar.
Pünktlich am nächsten Tag läutete Evi an der Türe. Norman Harrer, Privatermittler, stand auf dem Klingelschild.
Er führte sie in einen Raum, in dem eine Unmenge an Computern liefen. Er wies ihr einen Platz zu, kassierte die Kohle.
„Heb mal dein Shirt hoch!" forderte er sie auf. „Ich muss sicher sein, dass du nicht verkabelt bist!"
Danach nahm er ihr das Handy ab, tastete sie ab, ob sie noch ein weiteres Gerät bei sich hatte. Dabei fand er den Stick, den er überprüfte. Gut, der war jungfräulich. Keine Gefahr!
Er erklärte ihr die Schritte, die sie gehen musste.
Schließlich ließ er sie alleine.
Evi versuchte sich an alles zu erinnern, fand schließlich einen Zugang zu einschlägigen Seiten. Ungerührt sah sie sich die perversesten Seiten an, ihr fehlte jegliche Empathie für die kleinen Rotznasen.
Außerdem war das meiste sicher nur gefaked.
Sie speicherte Bild um Bild, Video um Video, bis das Speichermedium voll war.
Norman verfolgte am Bildschirm im Nachbarraum, alle was sie machte. So eine Drecksau! dachte er. Na! Da konnte er mit Sicherheit noch ein paar Kröten herausholen! Er drückte auf Aufnahme. Sicher war sicher.
Als sie wieder nach draußen kam, nahm er ihr den Stick ab. „Ich habe mich vertan! Du schuldest mir noch 50 Riesen!" Sein Grinsen war teuflisch.
Evi dachte kurz nach. „Ich weiß, wo du deinen Geschäften nachgehst!" hielt sie dagegen.
„Hier ist morgen kein Fitzelchen mehr von mir zu finden!" Seine Augen wurden schmal. „Und ich an deiner Stelle würde ganz schnell vergessen, dass du mich auch nur aus der Ferne je gesehen hast. Ist gesünder für dich!"
Er pfiff durch die Finger, der Bär stand wie aus dem nichts vor ihnen. „Begleite die Lady doch zur Bank! Lass dir 50.000 geben, dafür bekommt sie dann den Stick!"
Evi fügte sich. Sie hatte von Alex ja 200.000 bekommen, das Geld war gut investiert.
Außerdem, wenn er zu ihr zurück kam, hatte sie Geld im Überfluss.
Sie betrat den Schalterraum, bekam das Geld ohne Probleme ausbezahlt, schloss vor der Türe das Geschäft ab.
Am nächsten Tag machte sie sich auf zum Polizeirevier. Ihre Geschichte, die sie dort erzählte, hatte sie noch einmal akribisch durchgearbeitet.
Alex
Alex saß mit verkrampftem Magen auf dem Flur. Um ihn herum herrschte aufgeregtes Treiben. Telefone läuteten, Menschen schrien durcheinander. Teams rückten aus, andere kamen von einem Einsatz zurück.
Nach einer Stunde Wartezeit brachte ihn ein Beamter in Uniform ins Vernehmungszimmer. Der Hauptkommissar wartete schon auf ihn, ein Laptop stand aufgeschlagen an dem Platz, auf dem er sich setzen sollte.
„Guten Morgen, Herr Dr. Borchert!" begrüßte ihn Gernot. „Ich hoffe, Sie hatten eine ruhige Nacht!" Sein Lächeln war mehr als süffisant. „Ich zeige Ihnen heute die Beweise, die Sie sicher sehr interessieren werden."
Er beugte sich über den Tisch, öffnete eine Datei, ließ Alex nicht aus den Augen.
Was der dann ansehen musste, überstieg all seine schrecklichsten Ängste. Grausamste Misshandlungen von Babys, Kleinkindern, Mädchen wie Jungen. Zuerst Fotos, dann Videos, die die Schreie der Kinder wiedergaben.
Alex hörte auf zu atmen, schloss die Augen, hielt sich schließlich die Ohren zu.
„Ich kann das nicht! Bitte! Machen Sie das aus!" flehte er. Er merkte, wie eine Panikattacke in ihm hochstieg. Tränen überströmten sein Gesicht.
Gernot schüttelte ihn grob, riss die Hände von seinen Ohren. „Schauen Sie hin! Das haben Sie sich doch immer reingezogen, bevor Sie mit Ihrer hübschen Frau in die Falle gesprungen sind. Das haben Sie doch auch mit Ihrer Tochter gemacht!" schrie er.
Alex sprang hoch, schlug nach den Händen des Beamten, kämpfte gegen den Würgereiz, verlor den Kampf binnen Sekunden, leerte seinen Mageninhalt über sich und den Kommissar.
Ein zweiter Kommissar - wohl der, der Lena verhört hatte - rief seinen Chef nach draußen. Alex hörte Gebrüll, Drohungen, scharfe Antworten, bis eine dritte Stimme, eindeutig die des jungen Polizisten, der sie nach Hause gebracht hatte, eingriff.
Alex versuchte, das Programm mit seinen zitternden Fingern zu beenden, schaffte es aber nicht. Da warf er den Laptop in die Ecke. Endlich hörte er diese Kinderstimmen nicht mehr, die vor Schmerzen schrien und um Hilfe flehten.
Sollten sie ihn doch wegen Sachbeschädigung drankriegen, es war ihm egal.
Aber diese Bilder und diese Stimmen würde er sein Leben lang nicht mehr aus seinem Gehirn löschen können!
Ein anderer Kriminalbeamter, der sich als Raffael Kastor vorstellte, kam herein, sah ihn entschuldigend an. Er half ihm ins Bad, wo er sich notdürftig reinigen konnte.
„Ihre Frau wird uns umbringen!" versuchte er einen Scherz.
Alex hatte keine Kraft mehr, darauf zu antworten.
„Fahren Sie nach Hause!" sagte Raffael leise.
Alex sah ihn kalt an. „Das war's jetzt? Diese ganzen Quälereien und dann ein: Fahren Sie nach Hause?"
Der Polizist wich seinem Blick aus. „Es tut mir leid!"
Alex schleppte sich zu seinem Wagen. Irgendwie kam er zu Hause an, irgendwie parkte er ein, ohne das Auto gegen eine Mauer zu knallen, irgendwie stieg er aus. Irgendwie schleppte er seinen bleischweren Körper die Stufen hinauf, schloss auf. Lena stürzte ihm entgegen, er schob sie grob zur Seite. Er konnte im Augenblick weder Schönheit noch Liebe ertragen. Er schnappte sich eine Flasche Whiskey, schloss sich im Schlafzimmer ein, sperrte auch die Türe vom Hauptbad zum Flur ab.
Dann nahm er den ersten großen Schluck. Er riss sich die Kleider vom Leib, donnerte alles in eine Ecke im Bad und stellte sich unter die Dusche. Er schruppte und schruppte, bis seine Haut brannte, hoffte, den Dreck wegzubekommen, den er heute hatte sehen müssen.
Aber er konnte seine Seele nicht schruppen!
Während er unter dem Wasserstrahl stand, leerte er die halbe Flasche. Er trocknete sich notdürftig ab, legte sich nackt auf das Bett. Als er Lenas bittende Stimme hörte, drehte er die Stereoanlage lauter.
Er konnte im Moment nichts Positives ertragen, nicht einmal seine Frau oder seine Tochter. Er wusste nicht einmal, ob er es je wieder können würde!
Lena
Lena stand einen Augenblick fassungslos im Flur.
Was war passiert?
Er hatte sie weggeschubst! Was hatten sie ihm angetan?
Sie sah ihm zu, wie der die Flasche nahm, hörte, wie sich die Schlüssel in den beiden Schlössern drehten, dann das Rauschen der Dusche – unendlich lange.
Als das Geräusch aufhörte, klopfte sie an die Türe.
Er konnte sie doch nicht ausschließen!
Er musste mit ihr reden, worüber auch immer.
Als er nicht reagierte, rief sie seinen Namen, bat, flehte, dass er aufschließen sollte.
Doch er drehte die Musik lauter, schreckliche Rap-Musik, die er eigentlich verabscheute. Sie sank vor der Türe in die Hocke, die Tränen flossen.
Sollte sie ihn einfach in Ruhe lassen?
Sollte sie auf dem Revier anrufen, fragen, was geschehen war?
Sollte sie hinfahren?
Aber sie konnte ihn nicht alleine lassen!
In ihrem Kopf drehte sich alles.
Was hatte er erleben müssen, der beste Mann, den es auf dieser Welt gab?
Wer konnte helfen?
Bill fiel ihr ein.
Mein Gott, die Familie wusste noch gar nichts von dem Ganzen!
Sie wählte seine Nummer, erwischte ihn zum Glück in einer Pause zwischen zwei Seminaren.
Stockend, immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt, versuchte sie, ihm einen Überblick zu geben von den beiden schrecklichen Tagen.
Bill verstand anfangs gar nichts, durch behutsames Nachfragen wurden ihm die schlimmsten Zusammenhänge klar, die er sich vorstellen konnte.
„Ich komme sofort!" versprach er. „Ich versuche Olivia zu finden, sie kann dann Alessia mitnehmen! Nicht dass sie noch mehr traumatisiert wird!"
Eine halbe Stunde später kreischten Bremsen vor dem Haus, Olivia und Bill rasten nach oben. Lena fiel ihnen um den Hals, sie war froh, nicht mehr alleine zu sein.
Alessia wurde gerade wach. Livy ging sofort zu ihr, hob sie lachend aus dem Bettchen, scherzte mit ihr, warf sie in die Luft.
Lena hatte schon die Babytasche gepackt, drückte Olivia ihre Autoschlüssel in die Hand. Bills Wagen hatte keinen Kindersitz.
Als sie mit Bill alleine war, versuchte sie sich so weit zu fassen, um noch einmal alles detailliert zu berichten. Der angehende Arzt hatte gleich einen Verdacht, als sie bei Alex' Rückkehr angekommen war.
„Wahrscheinlich haben sie ihn gezwungen, sich diesen Dreck anzusehen!"
Lena wurde weiß wie die Wand. Das erklärte vieles!
Das konnte ein normaler Mensch kaum unbeschadet überstehen!
Sie würde erst diesen Beamten und dann Evi umbringen! Dann konnten sie sie von ihr aus einsperren!
Wütend tigerte sie durch die Wohnung, sank schließlich auf das Sofa. „Wie kann man einem Menschen so etwas antun?" flüsterte sie. „Noch dazu einem Menschen wie Alex?"
Bill versuchte, sie zu beruhigen. „Die Beamten tun ihre Arbeit, Lena! Sie erleben solchen Mist viel zu oft, stumpfen irgendwann ab, wollen um sich schlagen, wollen die Typen erwischen! Und Evi ist krank! Man hätte sie niemals schon entlassen dürfen! Sie hat keinerlei Unrechtbewusstsein! Aber du weißt ja, der Kostendruck! Langzeitpatienten sind teuer und unbequem!"
Er ging zur Schlafzimmertüre, klopfte laut, hörte aber nur die aggressive Musik.
„Hast du eine Stricknadel oder einen kräftigen Draht?" fragte er.
Lena erinnerte sich an einen missglückten Versuch, für Alessia Söckchen zu stricken, suchte und fand die Nadeln.
Bill fummelte eine Weile im Schloss herum, dann fiel der Schlüssel nebenan zu Boden. Noch ein paar Versuche, und die Türe ließ sich öffnen.
Sie stürzte zu Alex, der wie besinnungslos dalag und laut schnarchte.
„Er ist betrunken!" stellte Bill fest. „Lassen wir ihn erst einmal seinen Rausch ausschlafen. Vielleicht heilt die Seele ein bisschen durch das Vergessen!"
Als sie wieder im Wohnzimmer waren, läutete das Festnetztelefon. Ihr Vater meldete sich aufgeregt.
„Sag mal, Kind! Was ist denn los? Ich habe gehört, dass die Polizei gestern Alex mitgenommen und eine ganze Reihe von Computern beschlagnahmt hat! Ich versuche seitdem, euch am Handy zu erreichen! Gunnar sagt kein Wort, was passiert ist, der Idiot!"
Sie gab Bill den Hörer, sie selbst konnte nicht noch einmal alles erzählen. Sie hatte ganz vergessen, dass sie ihn hatte anrufen wollen, aber die Ereignisse hatten sich überschlagen. Dann hatte sie sich auch auf Alex' Anwalt verlassen, aber der war wohl in Sachen Strafrecht nicht sonderlich bewandert.
War aber dann zu stolz, sich Hilfe zu holen, obwohl er wusste, dass der neue Anwalt der Schwiegervater von Alex und ehemaliger Strafrechtler war!
„Ich bin gleich da!" versprach Roman. „Ich bringe Sabine mit!"
Lena wurde langsam ruhiger. Es würden Menschen um sie beide herum sein, die sie liebten, die helfen würden.
Das Schlafzimmer war dank Bills Fähigkeiten nicht mehr verschlossen, sie musste sich nicht mehr so viele Sorgen um ihren wunderbaren Mann machen.
Sie schaltete die Kaffeemaschine an, brühte je eine Tasse für sich und Bill auf.
Als sie seinen Magen knurren hörte, machte sie ein paar Brote, dafür reichten ihre hausfraulichen Kenntnisse durchaus.
Sie zwang sich auch selbst, zuzulangen. Sie würde ihre Kraft brauchen, um Alex beizustehen.
Kurz darauf trafen Roman und Sabine ein. Sie nahmen Lena tröstend in die Arme.
„Mein Gott! Was wird dieses Weib euch denn noch antun!" stöhnte ihre Schwiegermutter. „Wäre ich bloß gleich am Anfang energischer gegen sie vorgegangen! Aber es ist nicht leicht, sich in das Leben eines 25jährigen Sohnes einzumischen!"
Lena lächelte schon wieder ein wenig. Es tat so gut, nicht alleine zu sein!
„Genau!" sagte sie. „Du bist an allem schuld! Nicht die Verrückte, nicht die Kripo! Nicht die Ärzte, die sie entlassen haben! Du und Bill! Ihr habt das alles verbockt!" Sie sah ihren Vater an. „Und du? Was hast du falsch gemacht?"
Roman grinste sie an. Er war mehr als froh für diesen Anflug von Galgenhumor. Dieses Mädchen würde sich nicht unterkriegen lassen!
Das Muttertier Sabine hatte ihre Gefriertruhe geräubert, Lena verstaute die Schätze an selbstgekochten Mahlzeiten dankbar.
Bill setzte sich wieder zu Alex, maß seinen Puls und seinen Blutdruck, versuchte ihm Wasser einzuflößen, was der aber brummend verweigerte.
„Ich fahre mal zum Revier!" erklärte Roman. „Ich muss wissen, was da abgelaufen ist!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top