Kapitel 72
Alex
Alex saß in einer Zelle. Er saß tatsächlich in der Zelle eines Untersuchungsgefängnisses.
Beschuldigt des Missbrauchs seiner Tochter!
Beschuldigt des Besitzes kinderpornografischen Materials.
Tränen stiegen in seinen Augen hoch. Er dachte an Lena. Was würden sie ihr alles erzählen, welche Fragen würden sie ihr stellen, wie würde sie das Alles verkraften?
Würde er ihr denn Zeit seines Lebens Sorgen bereiten?
Er glaubte nicht eine Sekunde daran, dass sie irgendeinen dieser Vorwürfe ernst nahm.
Aber sie hatten ihr die Tochter weggenommen, um die sie so viele Kämpfe ausgefochten hatte!
Die ihr Kind geworden war!
Sie verhörten sie wohl wie die Frau eines Schwerverbrechers, der er in den Augen der Beamten war.
Er schickte ihr seine ganze Liebe, hoffte, sie war stark genug, das alles unbeschadet zu überstehen.
Er selbst würde das schon packen!
Bald würde die Wahrheit ans Tageslicht kommen!
Aber er machte sich solche Sorgen um sie.
Er hatte am Altar geschworen, alles Unheil von ihr fernzuhalten, und was tat er?
Die Tränen strömten über sein Gesicht.
Ein Justizvollzugsbeamter kam herein, erdolchte ihn mit Blicken, knallte ein Tablett vor ihm auf das kleine wacklige Tischchen, dass die Suppe und der Tee überschwappten und den Rest an Essen aufweichten.
„Ja, jetzt heult er, der reiche Schnösel! Das Monster, das Babys fickt!" Er spuckte noch auf den Teller.
Alex war es egal, er hätte sowieso keinen Bissen hinuntergebracht.
Er dachte an Alessia, seine süße Tochter. Wo sie sie wohl hingebracht hatten? Wer ihr wohl heute eine Geschichte vorlas?
Wer sie wohl heute badete und wickelte?
Und wenn es nun so ein Monster sein würde, als das er hingestellt wurde?
Wenn sie in eine Familie gebracht wurde, und ein Mann fasste sie an?
Er konnte ihr nicht beistehen!
Sie war alleine, weil er es nicht geschafft hatte, sich friedlich von ihrer Mutter zu trennen!
Wenn er damals nicht nach Kroatien abgehauen wäre?
Wenn er sich anstelle von Bill um Evi gekümmert hätte?
Wenn er einmal nicht sich selbst in den Vordergrund gestellt hätte?
Aber es war ihm ja auch um Lena gegangen!
Um ihrer beider Zukunft!'
Er hatte doch nicht ahnen können, dass Evi nach Monaten so durchdrehen würde!
Sie schien sich doch beruhigt zu haben!
Aber er war wohl zu sicher gewesen.
Hatte gedacht, mit Geld alles regeln zu können!
Dabei hatte sie alles genau geplant gehabt, hatte bei seinem letzten Besuch schon gewusst, dass sie ihn vernichten wollte.
Ihn und seine Familie!
Und er war ihr auf den Leim gegangen.
Er hatte gefühlt, dass ihre Wortwahl seltsam gewesen war, hatte sich aber nicht die Mühe gemacht, nachzufragen!
Mit so viel abgrundtiefer Bosheit hatte er einfach nicht gerechnet.
Er legte sich auf die Pritsche, die genauso unbequem war, wie sie in den Filmen immer ausgesehen hatte.
Er wusste, dass an Schlaf nicht zu denken wäre, holte die schönen Erinnerungen an die Woche in Südtirol zurück, um sich von seinem Elend abzulenken.
Er dachte an das Kreuz, das Amelie auf seine Stirne gezeichnet hatte und an ihre Worte: „Gott segne dich!"
Ja! Gott! Den spürte er ja jetzt, den Segen Gottes!
In diesem Moment hörte er das Schloss an seiner Zelle. Der Wärter steckte den Kopf herein.
„Hau ab, du Bastard!" schrie er. „Deine Anwälte haben dich wohl rausgehauen!"
Alex fuhr hoch. Abhauen? War er frei? War das eine Falle?
Langsam ging er auf die Türe zu. Der Beamte zog ihn am Arm, stellte ihm zeitgleich einen Fuß, dass er ins Taumeln kam und sich den Kopf an der gegenüberliegenden Wand aufschlug.
Blut lief über sein Gesicht, er sah ein hämisches Grinsen. „Na, wenigstens kommst du nicht ganz ungeschoren davon!" Er fühlte einen Tritt in den Rücken, aber diese Mal stützte er sich mit den Händen ab, schürfte sich nur die Knöchel auf. Er hatte Todesangst. Der Typ hatte ihn aus der Zelle gelassen, um ihn totzuschlagen!
Da erwachte sein Kampfgeist. Er war unschuldig, und dieser Kerl hatte kein Recht, ihn zu verletzen!
„Nimm deine Pfoten von mir! Du weißt einen Dreck von mir!" brüllte er.
Ein Kollege des Schlägers kam angelaufen, hielt den brutalen Kerl in Schach.
„Gehen Sie, Herr Doktor! Sie sind erst einmal frei! Dort vorne die Treppe hinauf, da wartet Ihre Frau auf Sie!" erklärte er freundlich.
Alex wusste nicht, dass sein Fürsprecher ein Cousin Fatimas war, der Frau des jungen Türken, der ihm das Leben gerettet hatte.
Kemal hatte sofort mit seiner Cousine telefoniert, als er den Namen des Untersuchungshäftlings gelesen hatte. Dr. Borchert war in der Großfamilie eine Art Heiliger.
Er hatte gehofft, mit ihm sprechen zu können, ihm das Leben hier etwas erleichtern zu können. Aber Karl wollte ihn unbedingt übernehmen, und er war der Dienstältere.
Alex und Lena
Alex raste den Gang entlang, taumelte die Treppe hinauf, fiel in Lenas Arme. Es war beiden egal, dass er sie mit Blut beschmierte.
Raffael erschrak, als er den Verletzten sah.
Lena funkelte ihn an. „Noch ein Strich auf meiner Minusliste! Machen Sie Ihren Job gut!"
Alex verstand kein Wort.
Der Kripobeamte sah sie ernst an. „Versprochen! Und jetzt bringen Sie ihn nach Hause. Frau Schneider wartet mit Ihrer Tochter auf Sie!"
„Bringen Sie ihn nach Hause!" äffte sie ihn nach. „Und wie? Huckepack?
Der Kommissar fuhr sich entnervt durch die Haare. Die Kleine schaffte ihn! Sah aus wie ein Engel, faltete aber jeden Kerl auf Briemarkengröße zusammen!
Alex konnte schon wieder grinsen. Die Löwin war herausgefordert worden!
Raffael winkte einen Beamten zu sich. Es war zufällig der Gleiche, der sie aufs Revier gebracht hatte.
„Fahr die beiden nach Hause! Aber schnell! Ich bin noch zu jung für graue Haare!" wies er den Jüngeren an.
Nur zu gerne erfüllte der Polizist diese Anweisung. Er hatte ein wenig in der Akte geschnüffelt und war ziemlich überzeugt, dass das gutaussehende Paar unschuldig war. Er war zwar noch relativ unerfahren, aber ein wenig Menschenkenntnis hatte er schon, vor allem durch seine umfangreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten in sozialen Bereichen. So leicht konnte ihm keiner ein X für ein U vormachen.
Da war er sicher unvoreingenommener als der Hauptkommissar, der ja wie verbohrt gewesen war während der letzten Woche. Raffael war da schon offener gewesen, hatte auch ohne Anweisung des Chefs ermittelt, das Umfeld des Beschuldigten abgetastet.
Für die Handyverbindungen hatten sie einen Beschluss gehabt, aber die Nachweise hatten keine Auffälligkeiten ergeben.
Kurz sah er sich Alex' Verletzung an, die zu bluten aufgehört hatte. „Muss nicht genäht werden!" stellte er fest.
Im Wagen regte er sich dann über den groben Justizbeamten auf. „So etwas darf nicht vorkommen! Aber ihm ist bisher einfach nicht beizukommen! Aber Kemal hat ein Auge auf ihn, sammelt schon seit einiger Zeit Beweise gegen ihn. Kennen Sie Kemal?" fragte er den jungen, blutverschmierten Mann.
„Nein! Nicht, dass ich wüsste!" antwortete Alex, dem langsam die Augen zufielen.
„Er wollte unbedingt Ihre Zelle übernehmen! Irgendwie scheint er Sie zu kennen. Oder eine Cousine von ihm. Fatima, glaube ich." erzählte der Beamte locker weiter.
Da dämmerte es Alex und Lena. Fatima! Die junge Frau von Deniz, seinem Lebensretter!
„Ja! Den Mann von Fatima kennen wir. Er hat mein Leben gerettet nach einem schweren Unfall!" berichtete Alex. Stefan runzelte die Stirne. „Aber Sie müssen auch etwas für ihn getan haben. Die ganze Familie verehrt Sie!"
Alex lächelte. So viel zu Gottes oder Allahs Segen, zu Karmapunkten. Die Welt sah schon wieder etwas heller aus!
„Gut! Ich habe ihm beruflich etwas unter die Arme gegriffen!" räumte er ein.
Der junge Polizist war erst einmal zufrieden. Seine Menschenkenntnis hatte ihn wohl nicht getäuscht.
Er grübelte eine Weile über die junge Frau nach, die kaum älter war als er. „Und Sie sind Juristin? So wie Sie meinen Kollegen Kontra gegeben haben?"
Alex lachte. Da wäre er gerne dabei gewesen!
Sie sah den jungen Beamten über den Rückspiegel überrascht an. Der hatte wohl ziemlich was auf dem Kasten, als Polizist würde er sicher seinen Weg gehen.
„Ich habe drei Semester Jura studiert, ja genau, habe aber dann aufgehört." erklärte sie offen.
Stefan blieb der Mund offen stehen. „Aber warum das denn? Sie sind einmalig! Gegen Sie kommt keiner so schnell an! Solche Frauen bräuchten wir auf unserer Sozialstation! Als Anwältin von denen, um die sich keiner annimmt!" Er wunderte sich selbst, wie offen er mit dem schwerreichen Ehepaar sprechen konnte. Irgendwie stimmt die Chemie zwischen ihnen!
Lena und Alex sahen sich überrascht an. Ein so junger Kerl sprach von seiner Sozialstation?
Stefan berichtete bereitwillig über die Einrichtung, die sich aus Spenden finanzierte, was aber leider sehr zögerlich von statten ging. Für Obdachlose und andere Gestrandete interessierten sich die Menschen nicht so sehr.
„Und da arbeiten Sie mit?" fragte Lena gebannt.
„Ja, als Teenager habe ich da angefangen. Immer nur reden und demonstrieren war mir zu wenig, schon immer. Man muss etwas tun! Auch als junger Mensch!"
„Haben Sie eine Kontonummer dieser Stelle?" fragte Alex.
Stefan grinste, kramte aus dem Handschuhfach einen Flyer, reichte ihn nach hinten. „Deshalb habe ich aber jetzt nicht davon gesprochen! Dürfte ich ja gar nicht! Ich bin ja im Dienst!"
„Worüber gesprochen?" fragte Alex und steckte den Flyer ein.
Er und Lena hatten das Gefühl, zu ihrem buntgemixten Freundeskreis ab sofort auch einen Polizisten in Ausbildung zählen zu können!
Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander.
Die Unterhaltung mit diesem ernsthaften jungen Mann, das, was sie über Fatimas Cousin erfahren hatten, hatte sie ein wenig von ihren schrecklichen Erlebnissen abgelenkt.
Schon auf dem Weg zum Haus hörten sie ein Kind jämmerlich schreien. „Mamama iiii! Bababa Iiiii!" Beide rasten los. Vor der Türe stand die vollkommen entnervte, dicke, graue Maus.
„Na endlich!" rief sie ihnen entgegen. „Das ist ja echt ein nervender Schreihals! Die ist voll und ganz verzogen!"
Lena riss Alessia aus den Armen des Monsters. „Sie haben auch den richtigen Beruf!" sagte sie halblaut.
Marga war sicher, dass das eine Beleidigung hatte sein sollen, aber sie hatte keine Lust mehr auf weitere Auseinandersetzungen. Sie hatte schon seit einer ganzen Weile Feierabend.
Lena versuchte die Tochter zu trösten, küsste die Tränen weg, die über die dicken Backen liefen.
In der Wohnung nahm Alex sie auf den Arm. Das Mädchen erschrak über das Blut, keiner wusste, warum sie damit Schmerzen in Verbindung brachte.
Vorsichtig streichelte sie sein Gesicht. „Papa aua!" meinte sie.
Alex hatte Tränen in den Augen. Zum ersten Mal hatte sie „Papa" gesagt!
Als sie dann auch noch pustete, wie Lena es immer machte, wenn sie sich irgendwo gestoßen hatte, war es um seine Selbstbeherrschung vollends geschehen, auch wenn das Pusten sehr feucht ausgefallen war.
Er sah seine Frau an. „Und die glauben im Ernst, dass man so etwas Süßes verletzten kann?"
Lena heulte mit ihm um die Wette, setzte die Kleine in ihren Stuhl, begann, Alex' Verletzungen zu versorgen.
Alessia ließ die Augen nicht von der Mama, pustetet aus der Entfernung kräftig, um dem Papa zu helfen.
„Au au au!" sagte sie und runzelte die Stirne.
Später, nachdem die Tochter ein großes Glas Brei verspachtelt hatte und die Eltern sich zu ein paar Bissen Brot gezwungen hatten, saßen sie auf dem Sofa und kuschelten. Alessia hatte sich nicht überreden lassen, im Bettchen zu bleiben. Sie würde sich nicht noch einmal von den Eltern trennen lassen.
Nach einem Glas Wein wurden die Erwachsenen etwas ruhiger.
Alex streichelte Lenas Haare. „Wie hast du denn das geschafft, Süße, dass ich da raus gekommen bin?" fragte er schließlich. Denn dass sie das möglich gemacht hatte, davon war er überzeugt, auch auf Grund der Anmerkungen der Polizisten.
Lächelnd erzählte sie von den Wortwechseln.
Danach sah er sie eine Weile grübelnd an, überlegte, ob er seine Gedanken aussprechen sollte, ob er es heute an diesem verrückten Tag tun sollte!
Sie sah seine Blicke und wusste, dass er wieder einmal dachte wie sie. „Vielleicht sollte ich doch weiter studieren? Die Pause hat gut getan, die Sprachen schaden ja nie, die ich gelernt habe. Aber so ganz ohne den Druck, Geld verdienen zu müssen, eine Anwältin derer zu werden, die mich brauchen, das hätte schon etwas!"
Alex küsste sie nur zärtlich, und sie wusste, dass auch er diesen Weg gutheißen würde. „Wann kannst du dich anmelden?" fragte er.
„Zum Sommersemester!" erklärte sie lächelnd.
„Gut!" meinte er und schenkte die Gläser noch einmal voll.
Sie leerten die Flasche, taumelten schließlich erschöpft ins Bett. Alessia ließ sich zum ersten Mal nicht überreden, die Nacht alleine zu verbringen. So lag sie zwischen ihnen, war zufrieden, Mama und Papa zurückbekommen zu haben.
Die andere Frau war böse gewesen, so böse wie die Frau früher, die immer geschrien hatte mit ihr, als sie noch gar nicht auf der Welt gewesen war.
Am Morgen danach sah die Welt etwas besser aus, wenn sich auch Alex bewusst war, dass nichts vorüber war. Der Hauptkommissar hatte ihn für acht Uhr einbestellt, er wollte pünktlich sein.
Alessia weinte, als er zur Wohnungstüre hinaus wollte, sie hatte sehr sensible Antennen.
„Papa kommt zurück!" versprach er.
Sie sah ihn mit feuchten Augen an, strich vorsichtig über seinen Verband am Kopf, den Lena ihm frisch angelegt hatte. „Aua?" Dabei schüttelte sie den Kopf. „Aua? Nein?"
Er schluckte schwer an den Tränen, aber er wollte seine Tochter nicht zu sehr verunsichern und versuchte ein Lächeln. „Nein! Heute tut niemand dem Papa weh! Weil die Mama sonst sehr böse wird!" Er küsste seine beiden Mädchen ab. „Die Mama passt nämlich gut auf den Papa auf!"
Die Kleine hopste auf Lenas Arm, als würde sie jedes Wort verstehen. Dann küsste sie Lena sehr feucht. „Mama ieb!" juchzte sie, und Alex verließ schnell die Wohnung.
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