Kapitel 71
Lena
Lena saß seit gefühlten Stunden auf dem Flur des Polizeireviers. Endlich ließ sich ein Beamter herab, sie in sein Büro zu bitten. „Kommissar Raffael Kastor" las sie auf dem Namensschild. Er lächelte sie freundlich an.
„Möchten Sie einen Kaffee oder ein Wasser? Ein Sandwich vielleicht?" fragte er zuvorkommend.
„Sind Sie der gute Bulle, und der böse verhört meinen Mann?" Sie kannte die Spielchen von ihrem Studium und auch von den vielen Krimis, die sie gesehen hatte.
Er lehnte sich entspannt zurück. „Kann schon sein, Lady!"
Sie runzelte die Stirne bei dieser Anrede.
„Das war für den Bullen!" antwortete er grinsend.
Doch dann war das Eröffnungsgeplänkel zu Ende, er wurde knallhart.
„Wussten Sie von den sexuellen Vorlieben ihres Mannes?"
Sie schnappte nach Luft, beruhigte sich aber schnell wieder. „Ich weiß von vielen sexuellen Vorlieben meines Mannes! Soll ich ein paar Details erzählen?"
Jetzt war er der Überraschte. Die Kleine war gut drauf! Aber sie hatte wohl den Ernst der Sache noch nicht überrissen.
„Danke! Aber, nein danke!" Er versuchte, ernst drein zu schauen. „Frau Meier hat ernste Vorwürfe gegen Ihren Mann erhoben, und sie kannte ihn wohl länger als sie."
„Frau Meier ist verrückt und kannte ihn überhaupt nicht! Sie hat ihn jahrelang betrogen und ausgenützt, und als er sie verlassen wollte, hat sie ihm die Schwangerschaft präsentiert. Danach hat sie ständig versucht, ihn zurückzubekommen, hat das Kind als Druckmittel eingesetzt, hat schließlich jegliches Interesse an der Kleinen verloren, wollte sie nicht einmal sehen. Alessia war ein schwieriges Kind, aber wir drei haben uns zusammengerauft und sind heute eine mehr als glückliche Familie. Warum Frau Meier plötzlich nach Monaten wieder auftaucht, kann ich nicht im Mindesten verstehen!"
Ihr Redeschwall war kaum zu bremsen.
„War Ihr Mann je alleine mit seiner Tochter? Hat er sie gebadet, gewickelt?"
„Ja, natürlich! Er ist der Vater! Wickeln und baden Sie Ihre Kinder nicht? Sind Sie ein Macho?" Sie schoss ins Blaue, aber sie hatte getroffen, wie sie an seinem Blick erkannte.
„Die Fragen stelle ich!" wies er sie zurecht.
„Hat Ihr Mann jemals den Laptop schnell zugeklappt, wenn Sie ins Zimmer kamen?"
„Nein, unsere beiden Bildschirme laufen den ganzen Tag, bis wir die Geräte ausschalten. Aber ich verstehe nichts von seinen Entwicklungen, und er interessiert sich nicht für meine Sprachprogramme!"
„Haben Sie je an seinem Computer gearbeitet, sind Sie dabei auf verschlüsselte Dateien gestoßen?"
„Ich habe seinen Computer nie angefasst, warum auch?"
„Wie ist Ihr Sexualleben? Glauben Sie, dass es für ihn erfüllend ist?"
„Ja! Das heißt, ich glaube es nicht, ich weiß es!"
Sie war ihm ein Rätsel. Sie sollte toben, weinen, verzweifeln!
Aber sie war die Ruhe selbst, war gefasst, beinahe lustig, als würde ihr der Zweikampf mit Worten gefallen!
Glaubte sie so vollkommen an die Unschuld ihres Mannes? War das möglich, dass ein Pädophiler eine so perfekte Tarnung aufbauen konnte? Heilung war ja angeblich nicht möglich bei dieser Veranlagung. Er musste die Psychologin befragen, machte sich eine Notiz darüber.
„Hat Alessia je geweint, wenn sie aus dem Badezimmer zurückgebracht wurde?"
„Nein! Sie ist ein totales Papakind geworden. Wenn sie ihn sieht, lacht sie immer glücklich, und ich bin abgeschrieben!"
„Geworden?" bohrte er nach.
„Ich war vier Wochen alleine mit ihr, weil Alex nach einem schweren Verkehrsunfall im Krankenhaus lag! Da war sie anfangs sehr fixiert auf mich!"
„Das war in Slowenien, nicht wahr? Sie haben ihn in dieser Zeit nicht besucht?"
„Sie haben ja doch ihren Job gemacht! Nicht nur auf die Worte der Irren gehört!" lobte sie ihn süffisant.
„Doch, ja! Wir haben eine Menge herausgefunden, bis Sie aus Südtirol zurückgekommen sind!" Er übertrieb grenzenlos, sein Chef hatte eigentlich alle Vorhaben unterbunden, hatte sich auf den Maschinenbauer als Schuldigen eigeschossen. Er selbst hatte im Alleingang einiges versucht, war aber immer wieder zurückgepfiffen worden.
Sie hatten an der Arbeitsstelle des Verdächtigen erfahren, dass die Familie eine Woche in Urlaub gefahren war, der Boss hatte eine ungenehmigte Handyortung durchgeführt, konnte aber mit dem Wissen, dass sich die drei in Südtirol aufhielten, logischer Weise nichts anfangen. Aber so konnten sie wenigstens sicher sein, dass sie nicht abgehauen waren.
Lena wurde hellhörig. „Woher wussten Sie, dass wir in Südtirol waren?" fragte sie.
Verdammt! Hatte er sich da verplappert! Er tat, als hätte er die Frage nicht gehört, beschäftigte sich sehr intensiv mit den Papieren auf seinem Schreibtisch.
„Sie haben eine Handyortung durchgezogen!" Der nächste Schuss ins Blaue. Seine sich verdunkelnde Gesichtsfarbe zeigte ihren Treffer ganz deutlich. „Könnte ich vielleicht den richterlichen Beschluss dazu sehen?" fragte sie zuckersüß.
Er suchte in seinem Gehirn nach einer Antwort, nahm Zuflucht zu einer Notlüge. Sie würde ihn sicher nicht durchschauen, ein so junges Ding!
„Sie sind nicht beschuldigt! Sie haben kein Recht auf Akteneinsicht!" erklärte er ihr ruhiger, als er sich fühlte.
Sie lehnte sich entspannt auf ihrem Sitz zurück. „Das mag sein! Aber Alex' Anwalt hat es. Und den werde ich anrufen, sobald ich dieses Zimmer verlasse. Dieser Verfahrensfehler würde Sie jede Anklagemöglichkeit kosten. Auch wenn mein Mann schuldig wäre, hätten Sie keine Möglichkeit, ihn vor Gericht zu bringen. So einen dummen Fehler würde kein Erstsemester in Jura übersehen. Ein Richter würde Sie in der Luft zerreißen. Und jetzt lassen Sie meinen Mann frei, geben uns Alessia zurück, ermitteln korrekt weiter, prüfen alle angeblichen Beweise auf Herz und Nieren. Dann vergesse ich vielleicht, Haftaufsichtsbeschwerde einlegen zu lassen. Ich möchte, dass mein Mann voll und ganz rehabilitiert und die Irre ihrer Lügen überführt wird. Und ich will vor allem nicht, dass unsere Tochter Schaden nimmt! Haben wir uns verstanden? Meine Lippen bleiben verschlossen, wenn Sie Ihren Job machen!"
Raffael saß da, sah aus wie ein begossener Pudel. Der Chef würde ihn in der Luft zerreißen, nächste Woche würde er bei der uniformierten Truppe Geschwindigkeitsmessungen durchführen. Wortlos stand er auf, schob seinen Stuhl so heftig nach hinten, dass er umkippte und betrat das Nachbarzimmer.
Sie hörte eine Stimme brüllen, eine andere leise antworten, die erste wieder losschreien. Dann schien der Chef sich zu beruhigen, die beiden debattierten eine Weile miteinander.
Als Raffael zurückkam, sah er mehr als erschöpft aus.
Gunnar, der Firmenanwalt, klopfte, wollte Lena erklären, dass Alex in der Zelle bleiben musste, doch der Polizist schnitt ihm das Wort ab.
„Neue Situation! Warten Sie draußen!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top