Kapitel 66

Lena und Alex – Oktober

Die Tage vergingen im Flug, das Leben der kleinen Familie war schöner als je zuvor. Alex arbeitete ein paar Tage, dann nahm er sich wieder frei.
Lena paukte sicherheitshalber ihre Sprachen durch.

Der Herbst zeigte sich beinahe sommerlich. Sie unternahmen Ausflüge mit den Rädern, die sie sich besorgt hatten. Alessia sollte im Anhänger mitfahren, was ihr aber gar nicht passte. So kaufte Alex einen Kindersitz, nachdem er stundenlang recherchiert hatte, welcher auch wirklich sicher war. Hinter ihrem Papa genoss die Kleine dann die Fahrten, hielt ihr Näschen in den Fahrtwind, gluckste glücklich.

In allen Gasthöfen, in denen sie einkehrten, stand die kleine Familie sofort im Mittelpunkt. Die Liebe der drei zueinander war fast zu greifen.

Sie besuchten Freunde, feierten zu Hause das Glück, gingen auch mal ins Kino oder in einen Club, wenn Olivia und Bill Zeit hatten, auf Alessia aufzupassen.

Hin und wieder durfte die Kleine auch bei Sabine und Roman übernachten, was alle drei sehr genossen.
Ebenso wie Alex und Lena, die an diesen Tagen das Bett immer nur kurzzeitig verließen.
Sie machten Pläne für das Haus, nahmen Kontakt zu einem Architekten auf, den Alex seit dem Gymnasium kannte, und der sich gerade selbstständig gemacht hatte.

Ihre frivolen Chats versüßten Alex des Öfteren langweilige Sitzungen. Die Kollegen wunderten sich nicht selten, warum der Chef so oft vor sich hin grinste.
Wenn die Sehnsucht zu groß wurde, verließ er auch schon mal ein Meeting und murmelte etwas von „dringenden Familienangelegenheiten".
Alessia entwickelte sich prächtig, babbelte schon einige Worte, versuchte aufzustehen. Sie kauften Unmengen an Lernspielzeug, sie beschäftigte sich sehr konzentriert damit.

Das Leben, das Glück war mehr als perfekt.

Anfang Oktober kam ein Schreiben von einem Anwalt, adressiert an sie beide. Nichtsahnend öffnete Lena das Kuvert, las, verstand nicht, las noch einmal und sank entsetzt auf einen Stuhl.
Nein! Nein, das konnte doch nicht sein! Ein dreiviertel Jahr hatten sie von Evi keinen Mucks gehört.
Der Anwalt, der Alex in dieser Angelegenheit vertrat, hatte berichtet, dass sie aus der Klinik entlassen worden war, die Wohnung bezogen und eingerichtet hatte.

Und jetzt das!
Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie wieder und wieder versuchte, die trockenen Zeilen zu verstehen, die da schwarz auf weiß standen.

Sehr geehrte Frau Borchert, sehr geehrter Herr Dr. Borchert,

in der Angelegenheit Alessia Borchert werden wir im Sinne unsere Mandantin Frau Eva Meier eine Rückübertragung des Sorgerechts auf die leibliche Mutter beantragen. Sie, das Ehepaar Borchert, haben sich unserer Meinung nach grob sittenwidrig verhalten und die Krankheitssituation unserer Mandantin ausgenutzt. Des Weiteren werden wir Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von drei Millionen Euro erheben.

Es folgten ein Aktenzeichen und die Bitte um Kontaktaufnahme.

Erst als sich die Kleine lauthals bemerkbar machte, tauchte Lena aus ihrem Albtraum auf.
Sie lief zu der Tochter ihres Herzens, drückte sie an sich. „Nie und nimmer wird diese Furie dich bekommen! Nur über unsere Leichen!"

Alessia sah sie an, als würde sie sie verstehen. „Mamama!" sagte sie leise und strich über Lenas Wangen.
Nach dem Wickeln und Baden nahm sie das Mädchen auf den Schoß und wählte Alex' Nummer im Büro.
„Herr Dr. Borchert ist in einem wichtigen Meeting!" erklärte Birgit bedauernd.
„Danke! Richten Sie ihm bitte aus, er soll mich sofort zurückrufen!" erklärte Lena und legte auf.

Die Sekretärin war etwas verwundert. Sonst war die Frau des Chefs immer zu einem Schwatz aufgelegt, aber heute hatte sie sehr bedrückt geklungen. Aber Herr Dr. Borchert hatte ausdrücklich erklärt, dass er auf keinen Fall gestört werden dürfte.
Hoffentlich war nichts mit der Kleinen!

Sie schrieb ihm eine Memo, legte sie auf seinen Schreibtisch, damit sie den Anruf ja nicht vergaß.

Lena tigerte durch die Wohnung. Kurz überlegt sie, ob sie ihren Vater benachrichtigen sollte, aber zuerst musste sie ja doch mit Alex sprechen. Stunde um Stunde verging.
Warum meldete er sich denn nicht?
Sie versuchte es doch auf dem Handy, nur die Mailbox sprang an. „Bitte, ruf mich bitte sofort zurück!" sprach sie drauf und schickte gleich noch eine dringende Textnachricht nach.


Alex war am Verzweifeln Diese Franzosen waren so etwas von stur. Sie behaupteten, einen Reklamationsgrund zu haben, wollten Schadensersatz, dabei hatte er ihnen jetzt schon ein paar Mal erklärt, dass es sich um einen eindeutigen Bedienungsfehler ihrerseits handelte.
Allerdings hatte er auch den Übersetzer in Verdacht, nicht sehr gut zu arbeiten. Lena sollte das machen.

Sein Herz zog sich zusammen beim Gedanken an seine süße Frau.
Mein Gott! Es war schon nach 20.00 Uhr! Nahm der Tag denn kein Ende?
Dass jetzt das Vermissen ihn immer noch so mitnahm?
Ein paar Stunden ohne sie, und das Atmen fiel ihm schwer.

Sein Handy hatte zweimal kurz hintereinander vibriert, aber die Typen forderten seine ganze Aufmerksamkeit. Er ging noch einmal mit der Gruppe in die Entwicklungshalle, führte noch einmal den gesamten Ablauf der Maschine vor, dann endlich kam der Durchbruch. Der Chef der Delegation begriff, woran es gelegen hatte. Nach 21.00 Uhr verabschiedeten sich alle voneinander.

Schnell zog Alex sein Handy heraus, hoffte auf ein paar heiße Worte.
Doch sie klang heiser vor Tränen, vollkommen aufgelöst. Sofort wählte er den Rückruf, erstarrt vor panischer Sorge.
Mein Gott! Die Süße hatte Probleme!
Was war denn wichtiger als sie!

Lena stand vollkommen neben sich. Der Zeiger auf der Wanduhr kroch langsam dahin. Minute um Minute verrann, es dauerte ewig, bis eine Stunde vergangen war.
Wie in Trance fütterte und wickelte sie Alessia, versuchte sich aber so weit zusammenzureißen, dass sie ihr eine Geschichte vorlesen konnte, damit sie einschlief.

Sie selbst brachte keinen Bissen hinunter, fand kaum eine Minute Ruhe. Die schlimmsten Szenarien schossen ihr durch den Kopf. Immer wieder versuchte sie, sich zu beruhigen.
Kein Gericht auf der Welt würde diesem Weib das Kind zusprechen!
Sie war monatelang in der Klapse gewesen, hatte sich null für ihr Kind interessiert.

Die Ärzte würden für sie und Alex aussagen, Bill genauso!
Endlich, als sie nur noch ein Nervenbündel war, läutete das Telefon. Sie sprudelte gleich los, als sie Alex' Nummer erkannte.
„Sie will uns Alessia wegnehmen! Die Verrückte! Ein Anwalt will dich auf Schmerzensgeld verklagen und ihr das Sorgerecht verschaffen! Sind die alle verrückt geworden?" schrie sie durch den Äther. Alex würde helfen, Alex wüsste Rat!
Aber der verstand im Moment nur Bahnhof!

„Was? Wie? Langsam! Bitte, Süße!" stammelte er.
Sie holte tief Luft. „Heute ist ein Brief von einem Anwalt gekommen!" Dann erzählte sie den ganzen Inhalt.
Alex wischte sich übers Gesicht.
Er hatte sie alleine gelassen!
Mit all diesen Sorgen!
Wegen ein paar zehntausend Euro!
Das durfte nie wieder passieren!
Er hatte es doch versprochen!

„Ich bin gleich da!" In der Zwischenzeit war er zu seinem Auto gelaufen und startete. Er schloss das Handy an Bluetooth an und sprach weiter beruhigend auf sie ein.
„Lena, mach dir keine Sorgen! Das wird nie passieren! Das lasse ich niemals zu! Anwälte haben wir auch, und sicher die besseren! Hörst du? Wir suchen den besten Familienanwalt! Das schafft sie niemals! Keiner nimmt uns unsere Tochter weg! Glaub mir! Vertrau mir!" Er schniefte kurz, sie merkte, dass er nicht so unbeteiligt war, wie er erscheinen wollte, um sie zu trösten.

„Ja, mir geht es schon besser!" antwortete sie. „Fahr vorsichtig! Ich wollte dich nicht aufregen!"
„Hör auf, dich um mich zu sorgen, Mädchen! Ich bin schon ein großer Junge!" versuchte er zu scherzen. „Ausgerechnet heute haben mich die Franzosen so lange aufgehalten!" lenkte er ab. „Ich hätte dich schon beinahe zum Übersetzen holen lassen. Ich glaube, Fred ist nicht wirklich fit in Französisch!"

Sie wurde immer ruhiger. Sie hatte gewusst, dass Alex das schaffen würde. Beinahe hätte sie wieder einen blöden Scherz zum Thema „Fit in Französisch" gemacht.
Alex spürte, dass sie wieder klarer denken konnte, konzentrierte sich auf den Verkehr. „Ich bin schon vor dem Haus!" konnte er bald darauf vermelden. „Bis gleich, Süße!"

Sie kam ihm im Treppenhaus entgegen, fiel ihm erleichtert um den Hals. Engumschlungen gingen sie nach oben. Das ältere Pärchen aus der Wohnung unter ihnen lächelte den beiden zu und grüßte.
Die Borcherts waren aber auch zu süß! Als wären sie zusammengewachsen, hingen sie immer zusammen! Und die hübsche Tochter, die der Mama wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Lena hielt ihm den Brief hin, er las und war genauso ratlos im Moment wie sie.
„Eigentlich lächerlich, das Ganze!" brachte er schließlich hervor. Er schenkte ihr einen Cognac ein, sie nahm einen kleinen Schluck.
„Ich habe noch nichts gegessen!" gestand sie.
Seine Stirne bewölkte sich. „Seit wann?"
„Seit dem Frühstück!"

Er rief bei Giovanni an, bat ihn, ihnen zwei Portionen Lasagne bringen zu lassen.
„Kommt sofort!" versprach der.
Als Alex wenig später die Türe öffnete, war der Italiener besorgt über dessen Gesichtsausdruck. Lena kam auch, um Hallo zu sagen, war bleich wie ein Leintuch, hatte verweinte Augen.

Giovanni fuhr der Schrecken in die Glieder, sein italienisches Herz litt Todesqualen. Hoffentlich hatte das Liebespaar des Jahrhunderts keinen Stress miteinander!
Hoffentlich ging es dem Töchterchen gut!

Er sollte sich nicht einmischen, aber heute musste er nachfragen, Carina würde ihn sonst ermorden.
„Sorgen?" fragte er so unverbindlich wie möglich.

„Ja!" bestätigte Alex. „Komm rein!" Es würde nicht schaden, die Meinung eines vollkommen Außenstehenden zu hören. Kurz gab er eine Zusammenfassung ihrer etwas ungewöhnlichen Elternrolle.

Da fiel Giovanni wieder der Abend ein, als die Frau das Paar so böse angesehen hatte.
„Wie sieht diese Evi denn aus?" fragte er.
„Hässlich!" stieß Lena hervor und grinste leicht.
Alex war froh, dass sie ihren Humor wieder zu finden schien und lächelte sie an. „Und wie!" bestätigte er. Dann versuchte er aber doch, eine realistische Beschreibung abzugeben.

Bis auf die Figur könnte es sich um die Frau in der Nische handeln! dachte der Italiener und beschloss, von dem seltsamen Paar zu erzählen.
Alex wurde ganz anders zumute, wenn er daran dachte, dass Evi ein paar Tische von ihm und seinen zwei Mädchen entfernt gesessen haben könnte.
Er würde in nächster Zeit die Augen offen halten, würde Max bitten, jemanden von der Security zu Lenas Schutz abzustellen oder vielleicht noch besser, Evi überwachen zu lassen.

Irgendwo gab es doch noch ein altes Fotoalbum mit Bildern von Evi und ihm auf Mallorca.
Er fand es tatsächlich in einer noch unausgepackten Kiste mit Krimskrams.

Er bat Giovanni zu sich ins Arbeitszimmer, Lena musste das alte Zeug ja nicht unbedingt sehen!

„Si, si! Das ist sie! Älter, aber sie war das, eindeutig!" Jetzt tat es Giovanni total leid, dass er Alex an jenem Abend nicht gewarnt hatte.

Alex und Lena wärmten sich die Lasagne. Sie hatte, während die beiden Männer im Arbeitszimmer waren, das Glas geleert, war ein wenig beschwipst.
„Was hast du denn da für Geheimnisse?" zog sie ihn auf. „Eine Bildergalerie von deinen Exen?"

Er schmunzelte. Gut, dass sie wieder besser drauf ist! dachte er. Er litt wahnsinnig, wenn es ihr nicht gut ging.
„Klar!" antwortete er. „Ganze Bände voll!"
Sie marschierte ins Arbeitszimmer, sah das Album auf seinem Schreibtisch liegen.
Neugierig fing sie an zu blättern. Er stand etwas verlegen daneben. Es waren eigentlich Evis Bilder, er selbst hatte zu dieser Zeit nur noch digital fotografiert.
Sie hatte sich oft und gerne in Pose gesetzt, seine Jungs gebeten, Aufnahmen von ihr und ihm zu machen.

Lena war überrascht, wie hübsch die andere früher gewesen war. Ein ganz kleines bisschen stach es in ihrem Herzen, als sie die zahlreichen Kussfotos sah, oder die, auf denen er sie zärtlich berührte.
„Das war alles nur Show!" erklärt er leise. „Alles nur inszeniert! Sie wollte Aufnahmen haben von dem, was sie gern gehabt hätte!"
Er nahm sie in die Arme. „Außerdem ist das Vergangenheit, nicht wahr?" Morgen würde er das Machwerk wegwerfen. Er wäre auch nicht glücklich darüber, wenn sie Fotos ihrer Verflossenen in der gemeinsamen Wohnung aufbewahren würde.

Dann bingte die Micro-Welle, die Lasagne war fertig. Sie ließen sich ihre Lieblingsspeise schmecken, tranken ein Glas Wein dazu, rauchten nach ewigen Zeiten wieder einmal eine Zigarette auf dem Balkon. Sie hielten sich umschlungen, die grauen Wolken waren dabei, sich zu verziehen.

Im Bett kuschelten sie sich aneinander, fühlten sich wohl miteinander, schliefen zufrieden und glücklich darüber, sich zu haben, ein.
Mitten in der Nacht schreckte Alex hoch. Lena war schweißnass, warf sich hin und her und rief immer wieder: „Nimm deine Pfoten weg! Verschwinde! Die beiden gehören mir! Du bekommst ihn nicht zurück!"

Er schüttelte sie kräftig. „Süße! Wach auf! Lena! Das ist nur ein Traum!"
Langsam schien sie aus dem Tiefschlaf in die Gegenwart zurück zu kommen.
Alex machte sich die größten Vorwürfe, dass schon wieder sie mit seinen Problemen belastet wurde. Von Anfang an hatte sie seine Altlasten ertragen müssen.

Doch er wusste, dass sie seine Tochter aufrichtig liebte, dass sie sie um nichts auf der Welt wieder hergeben würde.
Aber, dass Evi so plötzlich wieder in ihr Leben war, machte ihn verrückt.
War es wirklich Zufall gewesen, dass sie an diesem Abend bei Giovanni war?
Oder hatte sie ihn und seine Familie schon eine Weile verfolgt?

Er hatte keine Ahnung, was im kranken Gehirn der Verrückten vor sich ging!
Und dann fiel auch noch ein Anwalt darauf rein!
Er musste morgen handeln!
Er musste mit diesem Typen sprechen, aber wenn möglich auch mit Evi.
Er würde sie warnen!

Wenn sie noch einmal in die Nähe von Lena oder Alessia käme, würde er sofort seine Zahlungen einstellen und sie aus der Wohnung werfen!
Dieser Gedanke beruhigte ihn.
Er saß am längeren Hebel!
Er hatte die Kohle, die sie brauchte!

Lena hatte sich schnell wieder beruhigt. Er wischte ihr mit einem Tuch den Schweiß von der Stirne, zog der Halbschlafenden ein frisches Nachthemd an.

„Alles wird gut! Alles wird gut!" flüsterte er in ihre Haare, bis sie einschlief.

Am Morgen wachten sie beide wie gerädert auf. Die Erinnerung war schlagartig wieder da. Sie zwangen sich, ein Frühstück hinunter zu würgen, schütteten Unmengen von Kaffee in sich hinein. Sie versuchten ihre Stimmung vor der Tochter zu verbergen, aber die hatte sehr empfindliche Antennen.

Wie Lena zog sie die Stirne kraus, sah den Papa aufmerksam an, dann die Mama. „Bababa? Mamama?" plapperte sie, und es war eindeutig eine Frage herauszuhören.

„Alles ist gut, Süße!" flüsterte Lena, und Alex warf die Kleine in die Luft, bis sie kiekste. Er wickelte sie, kitzelte sie dabei, was sie besonders gern mochte. Ihren Brei mampfte sie in Rekordgeschwindigkeit.

„Ich schau mal bei dem Anwalt vorbei, erzähle ihm unsere Seite der Geschichte." erklärte er.
„Ich komme mit!" bestimmte sie.

„Nein, Lenamaus! Bleib du bei der Kleinen! Ihr müsst euch beide beruhigen! Es könnte sein, dass ich etwas laut werden muss!" hielt er dagegen.
Gut! Sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war der Vater, er würde alles in Ordnung bringen!

Alex ließ die aufgeregte Vorzimmerdame, die sich ihm in den Weg stellen wollte, einfach stehen, öffnete die Türe zum Büro von Dr. Lorenz.
Selbstbewusst baute er sich vor dem jungen Mann auf, der noch nicht einmal grün hinter den Ohren zu sein schien.
Mein Gott! Bin ich wirklich schon so alt, dass halbe Kinder mit dem Studium fertig waren? dachte er.

„Mein Name ist Dr. Borchert!" knallte er dem anderen hin, der rot anlief. „Sie hatten um Kontaktaufnahme gebeten?" Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, ließ er sich lässig und anscheinend vollkommen sorglos auf dem Besucherstuhl nieder.
„Ich... ich hatte eigentlich an einen Anruf gedacht!" räumte der Rechtsanwalt ein.

„Dann hätten Sie sich wohl etwas klarer ausdrücken müssen!" Alex klang sehr arrogant. Er beugte sich vor, fixierte sein Gegenüber. „Sie drohen mir und meiner Frau, uns unsere Tochter wegnehmen zu lassen und erwarten allen Ernstes einen höflichen Telefonanruf?"

Langsam kam er so richtig in Fahrt. „Was in drei Teufels Namen hat Sie geritten, dieses Mandat anzunehmen? Eine Verrückte kommt hereinspaziert, erzählt Ihnen irgendeine Story, und Sie bedrohen mich? Sie drohen, meine kleine Familie auseinander zu reißen?"
Er rang um Beherrschung. „Und jetzt werden Sie sich meine, unsere Geschichte anhören!"

Er berichtete grob von dem Tag, als er Lena kennengelernt hatte, von Evis „Überraschung", von seinem Zwiespalt, vom Angriff Evis auf Lena, von ihrer Intrige mit dem Handyfoto, von ihrer Einweisung in die Psychiatrie, ihrer Reaktion nach der Geburt, von den ersten Tagen mit Alessia, von dem Unheil, das über sie gekommen war, von den glücklichen Zeiten danach, von der Adoption durch Lena, von der Hochzeit, von seinen Zahlungen an Evi, zu denen er nicht im Geringsten verpflichtet gewesen wäre.

Peter fasste kaum, was er da zu hören bekam. Da hatte seine Mandantin wohl einige wichtige Details ausgelassen!
Und er hatte wohl etwas überreagiert, hatte nicht hinterfragt, hatte gleich losgeschossen!
Aber er war eben noch relativ unerfahren, glaubte an die Rechte der Opfer, und diese Frau Meier hatte sich sehr glaubwürdig als Opfer dargestellt.

„Die drei Millionen Schmerzensgeld, wie Sie es nennen, zahle ich gerne. Die tun mir nicht weh! Aber dann verlässt sie innerhalb von 14 Tagen meine Wohnung, und ich stelle sofort meine Zahlungen ein. Sie kann wählen! Richten Sie ihr das aus. Und sollte sie ein einziges Mal in die Nähe meiner Frau und meiner Tochter kommen, geschieht das Gleiche. Ihre Auslagen werde ich bezahlen, werde sie auch verdoppeln, wenn Sie dieses Mandat niederlegen!"

Alex stand auf, Peter hatte das Gefühl, auf Mausgröße geschrumpft zu sein. Er hatte während der Ausführungen des erfolgreichen Mannes kein einziges Wort gesagt. Dem Typen war er nicht gewachsen.
„Schicken Sie mir Ihre Rechnung!" knallte Alex ihm hin, bevor er grußlos das Zimmer verließ.

Dr. Lorenz musste erst einmal das Gefühl genießen, diese Dampfwalze von Mann überlebt zu haben.
Nach einer halben Stunde war er wieder zu einem klaren Gedanken fähig.
Da war ja nun ein Anruf bei einer gewissen Evi Meier fällig. Innerlich kochte er, weil sie ihn so vorgeführt hatte.
Doch dann begriff er auch, dass er ihr aus Unerfahrenheit auf den Leim gegangen war. Nächstes Mal würde er vorsichtiger sein, was die Storys, die ihm erzählt wurden, anbetraf.


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