Kapitel 63
August
Ende August beschlossen die beiden von einem Tag zum anderen, nach Hause zu fahren. Das Abenteuer Langzeiturlaub war zu Ende. Sie sahen sich eines Morgens an, ahnten die Gedanken des anderen, wussten gleichzeitig, dass sie sich nach ihrer Wohnung, nach dem Alltag sehnten.
Der Abschied von den kroatischen Freunden war tränenreich, aber alle wussten ja, dass die Deutschen zurückkommen würden.
Mit einem weinenden und einem lachenden Auge machten sie sich auf den Weg. Alex war in den letzten Wochen immer öfter selbst gefahren, hatte gegen die Panikattacken angekämpft. Doch auf der Heimfahrt war es ihm lieber, wenn Lena das Steuer übernahm. Schließlich lag der Karawankentunnel auf der Strecke, sie kämen direkt an der Unfallstelle vorbei.
Doch zu seiner Überraschung fuhr sie eine Abfahrt vorher von der Autobahn ab, benutzte dann eine ganzes Stück lang die Landstraße, bevor sie zur Schnellstraße zurückkam. Er hatte wieder einmal die größte Hochachtung vor diesem Mädchen, diesem wunderbaren Mädchen, das seit einem Monat seine Frau war.
„Jetzt könntest du mich eigentlich ein Stück weit ablösen!" sagte sie vollkommen ungerührt, und sein Herz dankte ihr für ihre Feinfühligkeit.
„Gern, Süße! Fahr an der nächsten Raststätte raus, dann essen wir eine Kleinigkeit!" Er sprach das Thema nicht an, weil auch sie es nicht tat. Sie wusste, dass er sehr gut verstanden hatte, er wusste, was sie für ihn getan hatte. Sie mussten nicht darüber sprechen. Aber dankbar küssen konnte er sie, musste er sie.
Alessia, die in ihrem Kindersitz kurz eingenickt gewesen war, begann zu maulen.
Entweder fahren oder sie rauslassen, hieß das.
Als der Papa endlich mit dem Küssen fertig war, hob er sie heraus. Ein kräftiger Patscher ins Gesicht sollte ihm zeigen, dass er nicht schnell genug gewesen war.
Lena griff nach ihrem Händchen. „Alessia! Das macht man nicht! Nein!" rief sie laut. „Das tut weh!"
Wie immer, wenn sie geschimpft wurde, füllten sich die Augen der Kleinen mit Tränen. Doch Lena gab nicht klein bei, während bei Alex schon wieder das Herz schmolz. „Hör auf zu heulen!" erklärte Lena ungerührt. „Du musst das lassen!"
So wurde aus dem als erholsam geplanten Zwischenstopp ein Martyrium für Alex, der seine brüllende Tochter beruhigen, aber Lena nicht in den Rücken fallen wollte.
Kurz dachte er an die Zeit ganz am Anfang mit seiner Tochter, als sie Tag und Nach gebrüllt hatte. Hoffentlich kam sie jetzt nicht in eine neue Trotzphase.
Alessia sah ihren Papa verwundert an. Er reagierte überhaupt nicht auf ihre Tränen, war vollkommen unbeeindruckt!
Dann konnte sie es ja auch lassen!
Vielleicht hatte er sie dann wieder lieb?
Sie schluchzte noch einmal auf, sah ihn an.
Nichts!
Keine Reaktion!
Sie hob ihr Händchen, strich ihm sanft über seine kratzige Wange,
Das fand sie immer sehr lustig, wenn es so kribbelte an ihren Fingern.
„So ist es lieb!" sagte die Mama und lächelte.
Der Papa streichelte sie, das mochte sie auch so gerne. „Braves Mädchen!" sagte er und das klang schön.
Alles war wieder gut, sie konnte auf seinem Arm hopsen und lachen.
Alex sah Lena stolz an. Sie wusste schon, wie man die Kleine bändigen konnte!
So konnten sie die Pause genießen. Alessia saß auf Lenas Schoß am Tisch, während Alex das Essen holte. Die Kleine bekam zerdrücktes Gemüse gefüttert, griff nach dem Löffel, den Lena hielt, und Alex schloss die Augen.
Das würde eine Katastrophe geben!
Doch seine Frau sprach leise mit der Kleinen: „Schön langsam! So ist es brav. Das machst du ganz fein."
Und das Mädchen ging sehr behutsam mit dem Löffel um, überließ die Hauptführung der Mama, grinste den Papa an. „Schau mal, was ich kann!" schien ihr Blick zu sagen. Er strich über ihr blondes Engelsköpfchen, über ihre runden Wangen.
Sie schluckte ihr Essen hinunter und rief: „Bababa iiii!"
„Ja, ich habe dich auch sehr lieb!" antwortete er. Er streichelte Lenas Gesicht. „Und die Mama haben wir auch lieb, nicht wahr?"
Alessia runzelte kurz die Stirne, beschloss aber dann, dem Papa recht zu geben. „Mamama iiii!" sagte sie. Es klang nicht ganz so begeistert wie vorher, was ihm einen kurzen Lacher entlockte.
„Präferenz eindeutig!" meinte Lena nur.
„Ist ja auch verständlich!" erklärte er. „Du erziehst und ich verziehe!"
Sie strich ihm durch die dichten Haare. „Dafür sind Papas ja da!"
Ein älteres Ehepaar kam vorbei, sah Alessia verliebt an. „So ein hübsches Püppchen!" schwärmte die Frau. „Und ganz die Mama!" Sie blinzelte Alex zu.
Der zog seine Frau an sich. „Ich kann den verrückten Genen gar nicht genug dankbar sein!" flüsterte er in ihr Ohr, ließ seine Zunge etwas spielen mit der Muschel. Verdammt! Er war schon wieder so hart, dass es schmerzte. Sie sah aber auch zum Anbeißen aus in dem etwas, das wohl ein Kleid sein sollte!
Sie schmeichelte seinen Augen noch immer unendlich, wie damals im Bus, als sie ihn angelächelt hatte, als er geträumt hatte von einer Schönheit wie ihr an seiner Seite. Er hatte dieses Bild noch immer jederzeit abrufbereit in seinem Gehirn abgespeichert, dieses und viele andere.
Wie sie in der ersten Nacht vor ihm gelegen hatte.
Wie sie ihn bei seinem Antrag angestrahlt hatte.
Wie sie am Strand der kleinen Bucht am Meer gelegen hatte.
Wie sie beim Fischerfest in seinen Armen war.
Mehr als jeder Daten-Stick fassen konnte, war in seinem Kopf abgelegt.
„Was guckst du?" fragte sie lächelnd, weil sein Blick so unverwandt auf ihr lag.
„Ich quäle meine Augen ein wenig mit deinem hässlichen Anblick!" antwortete er grinsend.
Er nahm Alessia auf den Arm, um zum Wickeln zu gehen. Vielleicht beruhigte sich sein Freund im Süden dabei etwas.
Wenn nicht, was ja wahrscheinlicher war, würde eben die Jeans auf der Weiterfahrt etwas sehr drücken.
Aber das war er ja gewohnt!
Lena sah den beiden nach. Der große hübsche Kerl mit dem süßen Mädchen auf dem Arm zog viele Blicke auf sich.
Doch auch sie blieb nicht unbeachtet. Ein junger Mann setzte sich ungefragt zu ihr an den Tisch, stellte ein Glas Rotwein vor sie.
Sie sah ihn überrascht und ablehnend an.
„Hallo, meine Hübsche! Ich bin Lukas. Hast du schon einmal überlegt, ins Modelgeschäft einzusteigen?" fragte er und zog das Wenige, das sie anhatte, mit den Augen aus.
„Natürlich! Vor zwei Jahren! Seit dem bin ich ziemlich gut im Geschäft!" antwortete sie schlagfertig. Sie schob das Glas zu ihm. „Du weißt sicher, dass Alkohol vollkommen tabu ist, wegen der Kalorien!"
In diesem Moment kam Alex mit seiner Tochter zurück. Alessia sah noch vor ihm den Fremden, der sich neben Lena niedergelassen hatte. „Uuuuuu!" brüllte sie durch das ganze Restaurant und strampelte heftig auf Papas Arm.
Alex ging ganz ruhig weiter, übergab das Mädchen an Lena. Bevor er noch ein scharfes Wort zu dem fremden Kerl sagen konnte, hatte die Kleine schon ihre Hände in dessen Haaren vergraben und zog mit aller Kraft daran. Der Schmerz trieb Tränen in die Augen des Anmachers. „Aaaaaa! Oooooo!" rief das Mädchen begeistert und war verwundert, dass die Mama gar nicht schimpfte!
Lukas befreite sich schnell von diesem kleinen Teufel und suchte das Weite.
Alex lachte, bis er sich den Bauch halten musste.
Alessia lachte mit ihm und patschte in die Hände, während sie, sehr zufrieden mit sich selbst, auf Lenas Schoß auf und ab hüpfte.
„Mit der kann ich dich ganz beruhigt losziehen lassen!" japste er nach einiger Zeit, als er wieder Luft bekam. „Die vertreibt jeden Konkurrenten in Sekundenschnelle!"
Lena schüttelte nur den Kopf. Eigentlich sollte sie ja mit dem Mädchen schimpfen.
Andererseits durften sich Frauen ja verteidigen!
Satt und zufrieden gingen sie zum Wagen. Alessia fielen die Augen zu, Alex stellte zufrieden fest, dass in seiner Jeans wieder etwas Spielraum war.
Wenn er seine Augen konzentriert auf der Straße ließ, könnte dieser Zustand für eine Weile anhalten.
Nur! Nicht! Nach! Rechts! Sehen!
Nicht! In! Ihre! Lächelnden! Blauen! Augen! Sehen!
Doch was machte sie da? Ihre Hand legte sich auf seinen Oberschenkel! By, by, Beherrschung. Er zog scharf den Atem ein.
„Teufelchen!" stöhnte er und wusste, ohne den Kopf zu drehen, dass sie zufrieden schmunzelte. Es gefiel ihr, diese Macht über ihn zu haben! Das wusste er genau.
Sie genoss es, dass er brannte, wenn sie nur eine Augenbraue hob und mit dem Kopf anzüglich auf das Schlafzimmer wies.
Sie genoss es, wenn sie ihn wie zufällig berührte und er sie hungrig in seine Arme riss.
Lena sah sein Lächeln, ahnte seine Gedanken.
Ja, sie genossen den Sex, die körperliche Anziehungskraft, die kleinen unschuldigen Gesten oder die weniger unschuldigen Worte, die sie beide so anheizten, immer und überall.
Um ihn nicht noch mehr zu quälen, nahm sie die Hand wieder zu sich.
„Danke!" flüsterte er erleichtert.
„Ungern geschehen!" antwortete sie.
Er setzte den Blinker, fuhr den nächsten Rastplatz an.
Okay! Einen Kuss konnte er sich ja holen. Das war zwar eher kontraproduktiv, aber verdammt schön.
Und vielleicht......?
Alessia brummelte ungnädig, als er anhielt.
„Halt die Klappe!" rief Alex, und wider Erwarten gehorchte sie und schlief weiter.
Er zog Lenas Kopf zu sich. „Eines Tages bringst du mich noch um den Verstand!" flüsterte er, bevor er in diesem heißen Kuss versank.
Dann erfüllte sich seine Hoffnung: Ihre Hand besuchte seinen Freund, der begeistert zuckte. Stöhnend nahm er ihren Liebesdienst an. Kurz bevor er kam, hielt sein taffes Mädchen ein Taschentuch bereit .
Als er wieder zu sich kam, sah sie ihn lächelnd an, und er wusste, dass sie auch das genossen hatte!
„Ich kann mich jetzt nicht revanchieren!" meinte er trocken. „Sonst kannst du gleich wieder von vorne anfangen!"
Ihr helles Lachen klang wie die schönste Melodie der Welt in seinem Kopf.
Beschwingt, überglücklich, aufgedreht fuhr Alex weiter.
Nach mehreren Pausen kamen sie zu Hause an.
In der Wohnung erwarteten sie Olivia und Bill, Sabine und Roman, die ein festes Paar geworden waren. Seine Mutter hatte Schweinebraten und Knödel vorbereitet, das Begrüßungsbier schmeckte Alex so gut wie Lena.
Olivia nahm Alessia glücklich auf den Arm, Bill und sie gingen gleich ins Bad mit der Kleinen, um sie zu wickeln. Das Mädchen legte den Kopf schief und lächelte die Tante an, behielt überraschenderweise seine Händchen bei sich, schien nicht mehr interessiert an Haaren, Brillen oder Augen zu sein.
Wieder wunderte sich Bill, wie sie Lena ähnlich war.
„Schau, sie legt das Köpfchen schief wie Lena! Das wird mal eine ganz Süße!" meinte Livy begeistert. Alessia streckte ihre Arme nach Bill aus. „Biiii! Iiiiii!" rief sie und sah ihn schmachtend an. Die beiden Erwachsenen hielten sich den Bauch vor Lachen.
„Aha! In meinen Mann bist du verliebt, du Monster! Das kannst du dir schnell abschminken, Süße!" wie Olivia sie zurecht.
Als sie wieder zurück kamen, erzählten sie von Alessias Liebeserklärung.
Vor dem Essen halfen alle zusammen, um das Auto auszuräumen. Der Kleinen fielen die Augen zu. Nach einer kräftigen Portion Brei ließ sie sich bereitwillig ins Bettchen legen.
„Die mampft ja ganz ordentlich! Dabei ist sie so zierlich!" stellte Sabine fest.
„Wie die Mama! Die kann auch ganz ordentlich spachteln!" entfuhr es Alex. Und außer Bill fand niemand etwas an dieser Aussage seltsam. Sie waren dabei, zu vergessen, dass Alessia nicht Lenas leibliche Tochter war. Alle - außer dem jungen angehenden Mediziner.
Aber er behielt seine Gedanken bei sich.
Alle ließen sich den hervorragenden Braten schmecken, die Knödel flutschten nur so. Roman sah seine neue Liebe stolz an. Er plante zwar kein Bratkartoffelverhältnis, aber eine Frau, die kochen konnte, war schon nicht zu verachten!
Diesbezüglich war er nicht verwöhnt.
Auch bezüglich anderer Sachen nicht, wie Achtung voreinander, Liebe, Zuneigung, Freundlichkeit, Humor, und ja, auch Sex, den er auf seine mittelalterlichen Tage wieder sehr genoss.
Sabine war seine Traumfrau schlechthin, sein Leben hatte an jenem Tag in Kroatien noch einmal begonnen.
Er arbeitete halbtags in der Holbein AG, konnte sich seine Dienstzeiten aber einteilen. Mal war viel los, mal weniger, auf Auslandsreisen nahm er Sabine mit.
Einmal hatte er Maria mit ihrem neuen Mann an ihrer Seite in der Stadt getroffen. Die Beziehung der beiden schien ihm nicht sonderlich glücklich zu sein.
Sie hatte andauernd vom Heiraten gesprochen, er hatte etwas gequält das Gesicht verzogen. Vor allem bei ihrem Ausspruch: „Dann ist Jesus endlich zufrieden mit mir!"
Der Ärmste! hatte Roman gedacht. Hatte sie diese ganze Bigotterie noch immer nicht abgelegt!
Und wieder dachte er an seine wunderbare Tochter, und was es für ein Wunder war, dass sie so gut gelungen war!
Als die Gäste gegangen waren, standen Alex und Lena auf der Dachterrasse, sahen auf das beleuchtete Wohnviertel hinunter. Die Sterne strahlten hier nicht so hell wie in Kroatien, wo um sie herum nur Himmel und Meer gewesen waren.
Doch sie wussten, dass das Glück mit ihnen nach Hause gekommen war.
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