Kapitel 46
München
In München allerdings besorgte Lena wieder einen Rollstuhl, die großen Entfernungen schaffte er noch nicht. Er fühlte sich seltsam hilflos, wollte mit seinem Schicksal hadern, maulte sie an.
„Halt die Klappe, Borchert!" maulte sie zurück. „Sei froh, dass du noch lebst! Sei froh, dass dein Gehirn noch funktioniert! Sei froh, dass etwas weiter südlich ebenso funktioniert!"
Alex lachte, verstand aber auch den Ernst hinter ihren Worten. So viel hätte bei diesem Unfall schlimmer ausgehen können.
Er hätte zu einem lallenden Etwas werden können, er hätte gelähmt sein können, er hätte auch sterben können.
Es hätte alles vorbei sein können, von einem Moment zum nächsten.
Was zählte es da schon, dass er noch etwas wackelig auf den Beinen war.
Daniel stand vor dem Ausgang im absoluten Halteverbot. Eine Politesse war gerade schnaubend im Anmarsch, als Lena mit Alex und den beiden Reisetaschen bepackt, ankam.
O Gott! dachte sie. So ein gutaussehender junger Mann und sitzt im Rollstuhl! Schnell kam sie zu der Gruppe, half Lena mit dem Gepäck, Alex aus dem Stuhl ins Auto.
Lena bedankte sich herzlich, fiel Daniel dann um den Hals. Alex sah lieber weg, es gab so viele wirklich interessante Menschen draußen zu beobachten.
Der Freund Lenas begrüßte ihn aber dann so freundlich, dass er sich für seine wieder aufkeimende Eifersucht gleich ordentlich schämte.
Der junge Mann hatte sich um Sia gekümmert, damit seine Süße zu ihm kommen konnte.
„Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet!" sagte er leise. „Wenn ich mich irgendwie erkenntlich zeigen kann...?"
Im selben Augenblick merkte er, wie überheblich und dumm seine Worte gewesen waren. „Entschuldige!" sprach er gleich weiter. „Was Blöderes habe ich wohl noch nie gesagt!"
Daniel lachte bloß. Er war kein Typ, der Worte auf die Goldwaage legte.
„Du kannst dich schon erkenntlich zeigen!" konterte er. „Du kannst mir versprechen, die Kleine da neben dir nie mehr so unglücklich zu machen!"
Alex lächelte sie an. „Ich werden den Rest meines Lebens am Gegenteil arbeiten!" versprach er.
„Gut!" sagte Daniel. „Denn das nächste Mal bin ich da, Gewehr bei Fuß, und dann werde ich sie nicht mehr so einfach loslassen!"
Alex schlug sich mit ihm ab. „Ich weiß!"
Dann fuhr Daniel los, brachte die beiden zu seinen Eltern.
Sia lachte Lena an, erkannte sie wieder, streckte ihre Ärmchen aus. Die nahm die Kleine auf den Arm, herzte und küsste sie ab, bis sie vor Vergnügen kieckste.
Als Alex vorsichtig die Hand nach ihrem Köpfchen ausstreckte, krauste sie das winzige Näschen.
Wie Lena, wenn ihr etwas gegen den Strich geht! dachte er. Das ist doch seltsam! Hatte die Kleine das von seiner Süßen gelernt? In der kurzen Zeit? Ein so kleines Kind?
Sia sah den großen Mann sehr vorsichtig an, hielt sich zur Sicherheit an den blonden Haaren, die ihr vertraut waren fest, versteckte sich an Lenas Kopf. Doch der Mann sprach leise mit ihr, strich ihr über den Kopf, sie hatte keine Angst mehr. Menschen machten ihr keine Angst mehr.
Sie hatte schon lange keine bösen Worte mehr gehört! Alles war leise, lieb, zärtlich! Nichts mehr da zum Erschrecken! Zum Fürchten! Deshalb musste sie auch fast nicht mehr schreien!
Sie sah den Mann an. Der hatte auch Haare, die sie packen konnte! Das machte viel Spaß! Sie griff nach Alex, ehe er sich versah, hatte sie seine langen Strähnen fest im Griff.
„Autsch! Na, du hast aber ganz schön Kraft!" jammerte er. Er streckte vorsichtig seine Arme aus. Sie warf sich ihm entgegen.
Sie war groß geworden, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Aus dem zornigen, rotgesichtigen Monster war ein wunderhübsches Baby geworden. Sie sah Lena so seltsam ähnlich! Die großen blauen Augen, das hübsche Näschen, die Form der Lippen! Sie hatte so gar nichts von ihm oder Evi!
Er wartete darauf, dass sein Herz vor Vaterliebe losrasen würde, aber es geschah nichts davon.
Er fand sie goldig, so als hätte seine Süße ein Kind, das er mit großziehen würde.
Dabei war es seine Tochter, die Lena mit großziehen würde.
In seinem Kopf tobten tausend widersprüchliche Gedanken.
Lena sah in ihn hinein. Warum war er so distanziert diesem Kind gegenüber? Fehlten ihm die Vater-Gene?
Gab er der Kleinen Schuld daran, was ihm, was mit ihnen passiert war?
Gut, er lächelte sie an, streichelte ihr Gesicht, aber er schien nichts zu fühlen!
Doch Sia war unbeeindruckt von seiner Gleichgültigkeit. Sie hüpfte auf seinem Arm, grapschte wieder nach seinen Haaren, gluckste vor Vergnügen.
Und langsam, ganz langsam begann er zu lächeln. Ja! Das war irgendwie Lenas Kind, und deshalb würde er es lieben!
Daniels Mutter hatte Kaffee gekocht, sie setzten sich alle um den Esstisch, ließen sich auch den selbstgebackenen Apfelkuchen schmecken.
„Unglaublich wie Sia Lena ähnlich sieht!" sagte die Mutter.
Alex sah Lena fragend an, die Daniel, der nickte.
„Das ist seltsam ja, weil sie gar nicht meine Tochter ist, sondern seine mit seiner Ex, die sie aber nicht wollte!" stieß Lena schließlich heraus.
Die Eltern sahen sich verblüfft an. Der Vater entwickelte schnell seine eigene Theorie. Da war der junge Mann wohl seinem Typ treu geblieben! Die Mutter von Sia sah wohl seiner neuen Freundin sehr ähnlich!
„Und meine ehemalige Freundin ist eigentlich das genaue Gegenteil von Lena. Dunkle Haare, groß und kräftig, fast schwarze Augen!" erklärte Alex aus seinen Gedanken heraus.
„Haar- und Augenfarbe überspringen oft eine Generation!" erklärte der Kinderarzt.
Alex nickte, obwohl er wusste, dass auch Evis Eltern eher die dunkelhaarigen Typen waren. Er hatte sie zwar nie kennengelernt, aber Fotos von ihnen gesehen. Sie waren beide sehr grobschlächtig, mit derben Gesichtern.
Aber er wollte nicht mehr grübeln. Er war erschöpft, sehnte sich nach ein paar Stunden Schlaf.
Lena bemerkte seine Müdigkeit. Sie packte Sia und die Sachen, die sie mitnehmen sollte, in Daniels Auto. Der Freund brachte sie zu ihrer winzig kleinen Wohnung mitten in der Stadt.
Alex ließ sich in ihr Bett fallen, schlief augenblicklich ein.
Lena wickelte und fütterte Sia, legte sie in ihr Bettchen, sang ihr noch ein Schlaflied vor.
Dann ließ sie sich neben Alex fallen. Er griff im Schlaf nach ihr, zog sie an sich, lächelte glücklich. Sie kuschelte sich an ihn und schlief ebenfalls ein.
Sie mussten noch ein paar Tage in München bleiben, damit Lena ihre Angelegenheiten regeln konnte.
Gleich am nächsten Morgen fuhr sie zur Uni, um ihre Exmatrikulation in die Wege zu leiten. Sie war froh, das Jurastudium hinter sich lassen zu können.
Die Welt des Verbrechens, der Gesetzesverstöße war eigentlich nie ihre Welt gewesen.
Auf dem Weg durch die Gänge der Fakultät lief sie einem ihrer Professoren in die Hände.
„Frau Kormann! Wir haben Sie vermisst! Ihr Esprit hat uns gefehlt!" scherzte er.
Lena lächelte. „Ich schmeiße Jura hin! Sie werden sich an den Verlust gewöhnen müssen!" gab sie zurück.
Der Proff blieb abrupt stehen. „Nein! Das werden Sie nicht tun! Sie sind ein Naturtalent! Ich kenne Sie noch nicht lange, aber ich weiß, dass Sie eine fantastische Staatsanwältin werden würden!"
Ihr Blick wurde ernst. „Aber das wäre nicht mein Leben! Nicht das Leben, das ich führen möchte! Meine Eltern sind beide Juristen, deshalb habe ich gedacht, der Weg wäre auch meiner, aber ich habe mich getäuscht! Ich muss niemandem mehr etwas beweisen! Nur mir selbst! Denn ich habe nur ein Leben!"
Er sah sie bewundernd an. Das Mädchen war 23, aber sie war reifer, als ihre Lebensjahre vermuten ließen. „Na, dann! Sie werden Ihren Weg gehen. Ich wünsche Ihnen viel Glück!"
Als sie in ihre Wohnung zurückkam, wickelte Alex gerade Sia. Er stellte sich gar nicht ungeschickt dabei an.
„Hallo, Süße! Ich habe sie gefüttert und gebadet! Ich habe sie angezogen, aber dann hat sie beschlossen, in die Windel zu machen! Sie hat mir zweitausend Haare ausgerissen, mir ein Auge ausgestochen und hat gelacht dabei! Sie ist eine Masochistin, aber sie ist zum Auffressen!" Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.
Gut, er fühlte sich nicht als Vater, aber er fühlte sich als ein Mann, der ein Vater werden konnte.
Der ein Vater werden würde.
Weil er die Mutter liebte, die nicht die biologische war, aber die beste, die dieses Mädchen bekommen hätte können.
Sie würden eine Familie werden Sie würden es schaffen.
Am Nachmittag gingen sie zu dritt in den Englischen Garten. Er schob den Kinderwagen, hatte den Arm um Lena gelegt, küsste sie alle paar Meter.
Sie lachte jedes Mal, genoss seine Zärtlichkeiten, hatte das Gefühl, abzuheben vor Glück. Sie setzten sich auf eine Bank, seine Beine waren müde geworden. Sie genossen den Sonnenschein auf ihren Gesichtern, genossen ihre Nähe.
„UUUUUU!" rief Sia, und sie brachen in lautes Lachen aus.
„AAAAAA!" sagte Alex, und die Kleine wiederholte es. „AAAAAA!"
Er sah sein Mädchen an. „Wir sprechen die gleiche Sprache!"
Für den Rückweg nahmen sie ein Taxi, er war sehr erschöpft. Doch er war glücklich. Unfassbar glücklich. Ja! Er würde dieses Kind lieben, Lena würde dieses Kind lieben und sie würden einander lieben.
Am nächsten Morgen läutete es an Lenas Wohnungstüre. Müde schlurfte sie zur Sprechanlage. Sie hatten eine heiße Nacht hingelegt, sie und Alex, und Sia hatte es klaglos zugelassen.
Sie hatten sich zärtlich geliebt, leidenschaftlich und verdammt wild! Sie hatte sich alles gegeben, hatten sich wieder und wieder einander geöffnet, sich mit Haut und Haaren auf einander eingelassen.
Es hatte kein Tabu gegeben, keine Skrupel, keine Bedenken!
Wie früher hatten sie das Bett gerockt, hatte sie ihre Körper erforscht, sich gegenseitig hochgepeitscht und sich zärtlich wieder heruntergeholt.
Sie hatten sich an jede einzelne erogene Zone des anderen erinnert, hatten ihre Erinnerungen gnadenlos eingesetzt. Hatten sich gequält, sich zum Flehen gebracht, hatten nachgegeben oder auch nicht.
Und jetzt stand sie vollkommen übernächtigt vor diesem Knopf, den sie nur drücken musste. Irgendwie schaffte sie es dann auch.
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