Mood
Zula Webster
Mein großer Bruder Donte machte mir die Türe von seinem Auto auf und ich stieg ein. Er hatte drei Jahre in einem Imbiss gearbeitet, um sich diesen kleinen Wagen leisten zu können. Donte wollte es sich unbedingt selbst finanzieren können.
Er startete den Motor. Wir hörten keine Musik wie sonst und lachten auch nicht ausgelassen wie wir es normalerweise an jedem Morgen auf der Fahrt in die High School taten. Doch dieses Jahr war nicht wie die anderen Schuljahre zuvor.
Es war still, bis er sich räusperte: „Die Jungs und ich haben euch gestern zu dritt im Flur und in der Kantine gesehen, wo Star eine Szene gemacht hat."
Ich schluckte und schaute aus dem Fenster, wo die Häuser mit den perfekten Vorgärten an uns vorbeizogen.
„Seid ihr jetzt wieder befreundet?"
„Londyn und ich sind uns wieder näher gekommen, aber Star - sie verarbeitet alles ein bisschen langsamer als wir, schätze ich."
„Ich bin mir sicher, dass ihr das wieder hinbekommt", versicherte er mir.
Ich wusste es besser. Wir hatten keine Ahnung wie es ohne Kylie war. Nur wegen ihr hatte sich unsere Clique gebildet. Ohne Kylie hätten wir anderen uns wahrscheinlich nie angesprochen. Ich konnte verstehen, wie hart es Star traf. Sie war am engsten von uns mit Kylie befreundet gewesen. Manchmal hatte Kylie sie nur für sie beansprucht, als wäre Star ihr Schoßhündchen. Oft war es mir so vorgekommen, als würde Kylie Londyn und mich manchmal ausschließen. Aber das hatte Kylie immer gemacht - Spielchen gespielt und uns manipuliert. Sie hat uns jeden Tag zu spüren gegeben, dass es ein Privileg war mit ihr - Kylie Brown - befreundet zu sein.
Donte machte Mood von 24kGoldn an, hüpfte wie wild auf seinem Sitz herum und sag lauthals mit. Ich wusste, dass er mich damit nur aufmuntern wollte. Ich tat so, als würde es wirken.
Auf der Kingston High herrschte wie immer Chaos. Etliche Schüler unterhielten sich, tauschten den neusten Gossip aus oder schrieen herum. Meiner Meinung nach hatten die Kinder heutzutage häufiger Aufmerksamkeitsprobleme. Ich hatte die Highschool noch nie für einen sicheren Ort gehalten. Ganz besonders nicht die Kingston High, die Kylie's Revier war.
Ich entdeckte eine Gruppe Mädchen in weinroten Cheerleaderuniformen. Ein blondes Mädchen stand in der Mitte und spielte sich ganz besonders auf. Diese Art erinnerte mich an Kylie. Das Mädchen war Phoebe Clark, Kylie's Erzfeindin. Phoebe war einer der wenigen gewesen, die sich von Kylie nichts hatten sagen lassen. Ich hatte Phoebe dafür immer bewundert. Phoebe fand es bestimmt toll, dass Kylie weg war. Jetzt konnte sie die Herrschaft übernehmen. Ich hatten diesen ganzen Machtkampf schon immer lächerlich gefunden.
Man könnte sich fragen, warum ich dann in den inneren Kreis von Kylie gehört hatte? Wenn Kylie sich jemanden ausgesucht hatte, konnte man nicht einfach nein sagen, denn sonst würde man sein eigenes Todesurteil unterschreiben. Außerdem suchte doch jeder ein bisschen Anerkennung. Ein Ort, an dem man sich verstanden - zugehörig fühlte. Wenn ich gewusst hatte, welche Bürde die Freundschaft mit Kylie mit sich brachte, hätte ich mich darauf niemals eingelassen.
„Hey Leute!", trällerte eine Stimme. Londyn Rowlins kam auf uns zu und umarmte meinen Bruder und mich stürmisch. „Sieht so aus, als würde Phoebe ihre Krallen ausfahren und Kylie's Erbe an sich reißen."
Sie redeten, als befänden wir uns in einem Teenie Film. Aber so war es schon immer in Gracehill gewesen. Diese Kleinstadt verkörperte jedes amerikanische Klischee.
„Hast du Star schon gesehen?", fragte ich. Ich wollte mich für das entschuldigen, was ich gestern gesagt hatte. Ich wusste, dass ich sie damit verletzt hatte.
Londyn schüttelte den Kopf. „Vielleicht kommt sie heute gar nicht."
„Hi, Mädels. Langer Sommer, nicht?" Auf einmal stand Phoebe Clark vor uns, samt ihrer drei Cheerleader im Rücken. „Tut mir leid, was passiert ist."
Warum hörte es sich aus ihrem Mund wie eine Lüge an?
Londyn schnaubte verächtlich. „Geb's doch zu. Du hast dich gefreut, als Kylie plötzlich weg war."
„So denkst du von mir? Ich bin enttäuscht."
Ich hielt Londyn zurück. Sie sah so aus, als würde sie ihr jeden Moment den Kopf abreißen wollen.
„Es war klar, dass Kylie irgendwann etwas passieren wird. Sie hat ihr ganzes Leben auf Social Media präsentiert und Neid geerntet. Jeder hat sie insgeheim gehasst, inklusive euch. Ich frage mich, ob ihr etwas mit ihrem Verschwinden zu tun habt."
„Das reicht", sagte Donte warnend und wollte Londyn und mich gerade wegziehen, als die Leute zu tuscheln begannen.
Ich schnappte den Namen Isaac Roberts auf. Ich drehte mich um und erkannte Isaac, Star's Ex. Er war ihr erster Freund gewesen. Isaac war vor zirka einem Jahr nach Kanda wegen seines Dads gezogen. Ich erinnerte mich, wie Kylie ihn immer abwertend Skaterboy genannt hatte. Sie hatte Isaac gehasst und noch mehr, wenn er mit Star zusammen gewesen war. Aus diesem Grund hatten Londyn und ich nie einen festen Freund gehabt. Kylie hatte es geliebt uns zu kontrollieren, während sie selbst mit den unterschiedlichsten Kerlen geschlafen hatte. Ihre Logik hatte ich oft nicht verstanden. Vieles an ihr hatte keinen Sinn gemacht. Fast alles an ihr war widersprüchlich gewesen.
Star und Isaac steuerten auf uns zu. „Hey", begrüßte Star uns zögernd.
„Hi", sagten Londyn und ich fast gleichzeitig und der Scham in unseren Stimmen war uns deutlich anzuhören. Wenn ich das, was ich gestern gesagt hatte, ungeschehen machen könnte, würde ich es tun.
„Es - es tut mir leid, dass ich gestern so impulsiv reagiert habe", gestand Star. Isaac nickte ihr aufmunternd zu.
„Wir wissen doch, dass du und Kylie die engste Freundschaft von uns hatten, auch wenn es nie ausgesprochen wurde", sagte ich.
„Genau", pflichtete Londyn mir bei. „Wir wollen doch alle wissen, was letzten Sommer mit Kylie passiert ist. Jeder geht anders mit diesem Verlust um."
„Also ist alles wieder gut?", fragte Star.
„Natürlich", antworteten wir und fielen uns erleichtert in die Arme.
Doch diesmal waren es nur drei Mädchen, die sich mitten im Pausenhof umarmten - keine vier.
Gerade als wir in den Musikraum laufen wollten, erklang eine Durchsage durch die Lautsprecher. Ich erkannte sofort, dass es die Stimme des Direktors war. „Guten Morgen liebe Schüler und Schülerinnen. Ich hoffe, Sie hatten alle schöne Ferien. Wie Sie alle wissen, ist einen unserer Schülerinnen Kylie Brown seit nun vier Monaten verschwunden. Ab heute werden Polizisten in der Kingston High rumlaufen. Darüber möchte ich Sie alle in Kenntnis setzen. Es ist möglich, dass Sie von der Polizei und verschiednen Ermittlern angesprochen werden. Selbstverständlich sind Sie dazu nicht verpflichtet und haben das Recht Ihre Eltern dazu zu holen oder Ihre Aussage zu verweigern. Die Polizei würde sich aber über Kooperation Ihrerseits sehr freuen. Wir haben im Büro 12, das leer stand, eine Stelle eingerichtet, an die Sie sich wenden können. Wenn Ihnen etwas am 29. April aufgefallen ist, melden Sie sich bitte. Selbst wenn Ihnen ihr Hinweis unbrauchbar scheint, zögern Sie nicht ihn zu melden. Der Polizei kann alles weiterhelfen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit."
Und dann fing das Getuschel an.
„Die Frage ist nur, ob sie nach einer Leiche, einer Entführten oder einer Ausreißerin suchen", sagte ein Junge zu seinen Freunden.
„Kylie hätte diese ganze Aufruhr sicher gefallen", bemerkte ein Mädchen.
„Egal ob tot, entführt oder ausgerissen - ich bin einfach nur froh, dass sie weg ist", sagte eine andere.
Diese Aussage jagte mir einen Schauer über den Rücken. Aber es war nicht wegen der Worte an sich, sondern weil ich der gleichen Meinung wie sie war. Denn anders als die anderen konnte ich endlich wieder ruhig schlafen, seit Kylie weg war...
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