Arcade

Stardust Conner

„Stardust!", hörte ich sie meinen Namen schreien.

Ein dunkler Wald umgab mich und ich fror schrecklich. Hilfesuchend sah ich mich um. Die Äste der Bäume sahen wie Monster aus, die ihre Fangarme nach mir ausstreckten.

„Stardust! Hilfe!"

Diese Stimme...

Ich rannte los. Meine nackten Füße berührten nasses Moos, ich sprang über umgefallene Baumstämme und ich riss mir Stofffetzen aus meinem Nachthemd aus, wenn ich an Ästen hängen blieb.

Plötzlich fand ich mich auf einer Lichtung wieder. Panisch blickte ich mich um.

„Kylie?", hauchte ich.

„Stardust", hörte ich meinen Namen als Antwort.

Ich sah einen Brunnen auf der Lichtung stehen, der von dem Vollmond beleuchtet wurde. Kylie saß in einem weißen Jerseykleid auf dem Rand und sah mich mit großen Augen an. Auf ihrem Kleid entdeckte ich Blutflecken.

Ich rannte auf sie zu. „Was ist passiert?"

„Sie sind hinter mir her", flüsterte sie. Ihre Augen waren voller Angst.

„Wer? Sag es mir! Ich kann dir helfen!"

„Ich kann dich nicht in Gefahr bringen."

Dann ließ sie sich nach hinten fallen und stürzte in den Brunnen.

Schweißgebadet wachte ich auf. Keuchend blickte ich mich in meinem Zimmer um. Der Vollmond beleuchtete mein Bett und ich sah meine Vorhänge im Wind wehen. Ich war mir sicher, dass ich mein Fenster bevor ich schlafen gegangen war, geschlossen hatte.

Aufgewühlt stand ich auf und schloss das Fenster. Ich ging aus meinem Zimmer und tapste auf Zehenspitzen durch den Flur. Ich warf einen Blick in das Schlafzimmer meiner Eltern, um mich zu vergewissern, dass Mom nicht schon wieder die Nacht durchlas. Meine Liebe zum Lesen hatte ich von ihr geerbt und anstatt eines Ankleidezimmers hatte Mom eine kleine "Bibliothek", die ihr ganzer Stolz war. Wenn ich las, entfloh ich der Realität. Das hatte ich besonders am Anfang gebraucht, als Kylie verschwunden war.

Mom und Dad schliefen friedlich. Dad hatte schützend seinen Arm um Mom gelegt und sie hatte sich an ihn gekuschelt. Selbst nach knapp 20 Jahren Ehe liebten sie sich noch genauso wie am Anfang. Das wollte ich auch haben.

Flashback

„Du kannst echt glücklich sein mit deinen Eltern", sagte Kylie, als wir am Pool in ihrem Garten lagen.

„Wie kommst du darauf?", fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern und als wir vom Küchenfester ein lautes Klirren hörten - wahrscheinlich ein Weinglas - hatte ich meine Antwort. Wenn Kylie's Eltern mal Zuhause waren, stritten sie sich immerzu. Ich versuchte mich daran zu erinnern, dass Mr und Mrs Brown jemals irgendwelche Zärtlichkeiten miteinander ausgetauscht hatten oder sich auch nur einen liebvollen Blick zugeworfen hatten... Ich erinnerte mich nicht.

„Ich werde niemals heiraten", sagte Kylie mit fest entschlossener Stimme.

„Wirklich nie?"

„Auf keinen Fall. Ich werde eine unabhängige erfolgreiche Frau werden. Ich brauche keinen Mann. Männer sind belastend, toxisch."

„Aber doch nicht alle", wendete ich ein.

Kylie warf mir einen vielsagenden Blick zu. „Du bist wirklich naiv." Sie schmierte ihre Beine mit Sonnencreme ein und sah dann auf. „Was willst du? Wirst du heiraten?"

„Ich glaube schon. Ich denke auch, dass ich Kinder haben möchte." Ich lehnte mich zurück und seufzte. „Weißt du, manchmal denke ich einfach nicht gerne über die Zukunft nach."

„Ja, weil du das Privileg dazu hast. Weil du weißt, dass immer eine Familie hinter dir stehen und dich auffangen wird."

Auf einen Schlag fühlte ich mich schlecht. Ich wusste, dass sie recht hatte.

„Schon komisch, wie verschieden wir sind, aber trotzdem beste Freunde sind."

Meine Mundwinkel zuckten nach oben. „Ja, du hast recht."

„Mach dich darauf gefasst, dass ich dir die beste Hochzeit spendiere, die Amerika je gesehen hat und wehe, ich werde nicht deine Trauzeugin."

Flashback End

Ein Schmerz durchzuckte mich. Vielleicht könnte Kylie nie auf meine Hochzeit kommen. Wahrscheinlich würde sie an dem glücklichsten Tag meines Lebens nicht an meiner Seite stehen. Das wurde mir von der einen Sekunde auf die andere schlagartig bewusst.

Ich schüttelte diese Gedanken ab und schlich durch den Flur. Ich zog mir meine schwarzen Chucks an und zog mir eine Jeansjacke über. Ich schnappte mir meine Schlüssel und Handy und lief dann nach draußen. Niemand wusste, dass ich nachts oft verschwand, wenn ich nicht schlafen konnte.

Draußen war es warm, aber der Wind war kühl. Ich holte mein Fahrrad aus der Garage und fuhr die dunkle Straße entlang, die nur von wenigen Laternen beleuchtet wurde. Noch vor einem halben Jahr wäre ich niemals alleine in der Nacht nach draußen gegangen. Ich war ein kleiner Angsthase gewesen. Vielleicht war ich das noch immer. Unsicher und naiv.

Kylie hatte mir mal erzählt, dass sie die Nacht friedlich fand. Die Welt schlief, keiner störte und man konnte mit seinen Gedanken alleine sein. Sie hatte gemeint, dass sie sich in der Nacht sicher fühlte. Damals hatte ich nicht verstanden, was sie gemeint hatte. Heute wusste ich es. Tagsüber hatten alle Blicke auf Kylie gelegen. Von ihr wurde erwartet das Badgirl zu sein, dem alles egal war. Nachts hatte Kylie sie selbst sein können. Ich war nachts fast nie mit Kylie zusammen gewesen. Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich sie überhaupt gekannt hatte und ob sie mehrere Persönlichkeiten in sich getragen hatte.

Etwas Schwarzes huschte an mir vorbei und ich erschrak so sehr, sodass ich das Gleichgewicht verlor und mit meinem Fahrrad umkippte. Ich verzog mein Gesicht und blinzelte. Plötzlich sah ich eine Hand, die sich mir entgegen streckte und ich schrie auf.

„Entspann dich, Star. Ich bin's nur."

Ich erkannte Isaac Roberts. Wir waren mal zusammen gewesen. Ich hatte ihn ewig nicht mehr gesehen. Ein Monat, bevor Kylie verschwunden war, war Isaac mit auf einer Geschäftsreise seines Vaters in Kanada gewesen. Mein Ex war er aber auch nicht wirklich. Wir hatten eigentlich nur eine Pause gemacht, als er nach Kanada gezogen war. Als Kylie verschwunden war, hatte ich den Kontakt zu ihm abgebrochen. Ich hatte ihn also ein halbes Jahr nicht gesehen und gesprochen.

Isaac half mir auf. „Alles okay? Sorry, ich war ganz schön schnell, hm?"

Allerdings. Verärgert sah ich ihn an.

„Hast du dir wirklich nicht weh getan?"

„Ich werd's schon überleben", beruhigte ich ihn.

Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte sich kein Stück verändert. Seine braunen Haare hingen ihm noch immer genau wie vor einem Jahr verwegen in der Stirn. Und natürlich fand man ihn nicht ohne sein geliebtes Skateboard vor. Kylie hatte immer gespottet, dass es so aussehen würde, als wäre sein Board ein Teil von ihm und er würde mit ihm duschen und schlafen. Kylie hatte Isaac nie wirklich gemocht. Ich hatte nie erfahren aus welchem Grund. Ich hatte mich in ihn von Anfang an verliebt, als wir in die High School gekommen waren. Knapp fünf Monate waren wir zusammen gewesen.

Isaac setzte sich auf den Bürgersteig und ich setzte mich neben ihn. „Ich habe dich heute gar nicht in der High School gesehen", bemerkte er.

Wie auch, wenn ich mehr Zeit auf den Mädchentoiletten mit Heulen verbracht hatte und vorzeitig gegangen war?

„Muss schwer heute für dich gewesen sein."

„Das war es", murmelte ich abwesend.

„Es ist schön dich wiederzusehen. Um ehrlich zu sein, hatte ich Angst vor unserer ersten Begegnung. Ist ziemlich lange her, was? Ich hätte nicht gedacht, dass unsere erste Begegnung nach einem Jahr so anfangen würde, dass ich dich mit meinem Skateboard umfahre."

Ich lachte auf. Das hatte Isaac schon immer gekonnt - mich zum Lachen zu bringen.

Ich drehte mich zu ihm. Er spielte mit den Rädern seines Boards. Ihm wuchs ein leichter Flaum am Kinn. Kylie hatte ihn immer damit aufgezogen, dass er sich noch nicht rasieren müsse und deswegen kein richtiger Mann sei.

Ohne groß darüber nachzudenken, legte ich meinen Kopf an seine Schulter. „Können wir für eine Weile so sitzen bleiben?"

„So lange du willst."

Ich schloss die Augen und genoss die Stille. Vielleicht hatte Kylie das gemeint. Die Stille der Nacht beruhigte.

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