Kapitel 1...Das schwarze Büchlein
"Hast du alles notiert?", fragte die Frau, mit ihren langen, glatten, kastanienbraunen Haaren, das kleine Mädchen, das in der großen Küche des Hotels auf dem Stuhl am Tisch kniete, den Füller in der rechten Hand und ein schwarzes Kochbüchlein vor sich liegend, in das das Mädchen gerade ein neues Rezept kritzelte, das ihr die Frau in ihrem Diktieren gerade beendet hatte.
Das kleine Mädchen schaute auf zu ihr und spielte mit dem Stiftende an ihrer Unterlippe herum, indem sie das Ende immer wieder gegen ihre Unterlippe tippte. "Tante Helen?...Wie schreibt man das Wort - Blanchieren?", piepste das kleine Mädchen mit ihrer feinen Kinderstimme und wartete auf die Antwort ihrer Tante.
"...B...l...a...", begann die Frau das Wort in einzelnen Buchstaben für das Mädchen zu sortieren.
"Dankeschön Tante Helen! Jetzt bin ich fertig!", trällerte das Mädchen freudig und klappte das Büchlein zu. Dann stellte sie sich mit beiden Beinen auf die Sitzfläche des Stuhles, um mit ihrer Tante auf Augenhöhe zu stehen und sah auf den Mann, in weißer Schürze um die Hüften gebunden und weißer Kochmütze auf dem Kopf, neben sich stehend.
Die Frau schaute das Mädchen fragend an.
"Tante Helen?", piepste das kleine Mädchen.
Die Frau blinzelte das Mädchen vergnügt an. "Du möchtest noch etwas dazu wissen, kleine Sam?", stellte die Frau ihre Frage an das neugierige Kind. Sam war sozusagen ihre Tochter...ein lang behütetes Geheimnis der Familie, dass das Mädchen jahrelang in dem Glauben aufwachsen ließ, Helens Nichte zu sein. Sie war Helens Ein und Alles und lehrte sie in Punkto - Hotel - alles von ihren gesammelten Geheimnissen, Regeln und Verantwortungsbewußtsein...vor allem ihr WISSEN reichte sie an das Mädchen weiter...eine Vorbereitung auf deren Zukunft.
"Kann ich...Kann ich die Soße nicht noch etwas verfeinern?", fragte Sam.
"Wie meinst du das, Sam?"
"Damit die Soße etwas sämiger wird und besser bindet und das Aroma verfeinert.", erklärte Sam ihrer Tante.
"Ich denke, dass ein Esslöffel Rotwein oder Weißwein das ganze noch etwas abrunden könnte. Wir müssten das Rezept erstmal ausprobieren und die richtige Menge von Esslöffeln der Weine abstimmen. Man nennt es: einen Schuss Wein oder einen Spritzer Wein hinzugeben... bevor wir es unseren Gästen anbieten...Probieren geht über studieren, kleine Sam...So!", klatschte sich ihre Tante Helen zufrieden in ihre Handinnenflächen. "Genug für heute, kleine Sam!"
Sam begann leise zu jammern. Sie wollte noch etwas von ihrer Tante lernen. "Morgen ist auch noch ein Tag, kleine Sam! Gehen wir zu deinen Eltern ins Büro zurück, bevor dein Vater noch den Suchtrupp los schickt...", beendete Tante Helen die heutige Lehrstunde in der Küche des Hotels.
Mister Brooks, der Koch der großen Küche, hob das kleine Mädchen vom Stuhl herunter und stellte sie auf den in der Farbe grau gehaltenen, gefliesten Küchenboden und brachte den Stuhl in den Aufenthaltsraum der Köche und Köchinnen zurück, wo sich alle aus der Küche in ihrer Pause zurückzogen und aufhielten.
Das kleine Mädchen klemmte sich das schwarze Büchlein unter ihren rechten Arm und den Stift steckte sie sich in ihren Dutt, mit dem sie ihr ebenfalls kastanienbraunes Haar fest hielt. Sie sah ihrer Tante Helen sehr ähnlich.
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Die junge Frau in dem Büro, in Richtung Terrasse zum Park, mit den sandfarbigen. gestrichenen Wänden, saß vor ihrem schwarzen Büchlein, das auf dem Schreibtisch vor ihrer Nase lag und starrte es schon geraume Zeit an. Sie hatte es aufgeschlagen und darin gelesen. Einst schrieb sie mit ihrer Tante Helen und ihrem Freund dem Koch Mister Brooks neue Rezepte hinein. Nach Vollendung schenkte sie es damals dem Koch der Hotelküche, um es seinem Nutzen zur Verfügung zu stellen oder für das Eintragen neuer Rezepte.
Mister Brooks hatte vor ein paar Wochen seine Kündigung eingereicht und verließ das Hotel. Sein Bruder Alfred war mit seiner neuen Frau nach Europa ausgewandert und hinterließ ein Restaurant, das er mit Brooks Schwester Selma eröffnet hatte. Sie bat Brooks um Hilfe, sonst müsse sie das Restaurant schließen, da ihre Kochkünste nicht so ausgeprägt und vollkommen und köstlich waren wie seine. Und nach langem Hadern und reichlichen Überlegungen reichte er voller Traurigkeit und nicht leicht gefallenem Entschluss seine Kündigung ein.
Zum Abschied legte er Sam ein kleines eingepacktes Geschenk auf ihren Schreibtisch und verließ das inzwischen umbenannte "Stanford - Hotel" in "Stanford - Harper - Hotel". Er verabschiedete sich nicht einmal persönlich von ihr. Er verschwand einfach.
Sam fand es an dem Morgen auf ihrem Schreibtisch und nahm es zwischen ihre Finger und öffnete es. Zum Vorschein kam das schwarze Büchlein mit den vielen Rezepten, die Sam mit ihrer Tante und Mister Brooks für die Ewigkeit niedergeschrieben hatte. Als sie das Büchlein aufschlug, lag ein kleiner zusammengefalteter Zettel auf der ersten Seite zwischen dem Inhaltsverzeichnis und dem ersten Rezept.
Eine kleine Widmung, die Brooks an sie richtete. In der er sich für all die schönen Jahre und Momente seines Lebens in diesem Hotel bedankte. Und dass sie ihm Samstag immer unter die Arme in der Küche gegriffen hatte, um mit ihm zusammen für ihre Hotelgäste zu kochen Das würde er am allermeisten vermissen und den Spaß, den sie dabei hatten. Sein letzter Satz aber wies sie darauf hin, dass sie ihn zu jeder Zeit aufsuchen und um Hilfe bitten konnte, wenn sie ihn brauchte.
Sie faltete den Zettel wieder zusammen und legte ihn zurück an seinen Platz, wo sie ihn gefunden hatte und setzte sich nachdenklich auf ihren Bürostuhl. Sie blätterte konzentriert in dem schwarzen Büchlein und jedes Rezept, was Seite für Seite dieses Büchlein schmückte, konnte eine Geschichte erzählen. So auch dieses hier.
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"...Die Eier vom Eigelb trennen, das Eiweiß zwischen den zwei Hälften der geteilten Eierschalen hin und her schwenken und in den Messbecher filtern. Das Eigelb wird danach in eine Extraschüssel gegeben."
Das kleine Mädchen, mittlerweile acht Jahre alt, sah vom Schreiben auf. "Soll ich das wirklich so hinschreiben?... Extraschüssel?", fragte sie ihre Tante.
Helen lächelte. "Na gut!...Wenn es denn unbedingt sein muss, schreib: in eine andere Schüssel...in eine andere...Nein, warte!...In eine zweite...nein...auch nicht so...in eine andere Schüssel klingt gut...vorläufig. Jeder, der daraus kocht, soll wissen, was gemeint ist und was zu tun ist.", und das Mädchen widmete sich wieder dem Schreiben, während ihre Tante neben ihr her oder um sie herum lief und das Rezept diktierte...
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Sam schmunzelte in Gedanken versunken. An diesem Tag, als sie dieses Rezept einschrieben, gingen zwei Schüsseln in der Hotelküche zu Bruch, nachdem ihre Tante dieses neue Rezept ausprobieren wollte.
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"Verflixt aber auch eins! Hast du das gesehen, Sam? Ist sie einfach aus meiner Hand geflogen. Nun liegt das ganze Eiweiß auf den Fliesen! Jetzt fange ich nochmal von vorne an!"
Kurz darauf passierte es wieder. Eine zweite Schüssel rutschte beim Eierschnee schlagen aus den Händen ihrer Tante. Auch sie segnete das Zeitliche. Bevor ihre Tante fluchen konnte, reichte das Mädchen ihr ihre Hände. "Gib mir bitte die Eier, Tante! Ich mach das!", sprach das Mädchen und kletterte wie gewohnt auf ihren Stuhl am Tisch und Mister Brooks gab dem Mädchen eine neue Schüssel. "Danke sehr Mister Brooks!"
Brooks lächelte und sagte: "Zeig deiner Tante, wie's richtig gemacht wird, kleine Sam!", und das Mädchen grinste ihn freudig an und sah verstohlen zu ihrer Tante hinüber, die sich auf den Boden gekniet hatte, um ihre kleine Schweinerei aufzuwischen und die Scherben der zweiten Schüssel zusammenzukehren.
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Dann klappte Sam das schwarze Büchlein traurig zu und stand vom Schreibtisch auf. Sie nahm das kleine Kochbuch vom Tisch in ihre Finger und ging zum Kamin hinüber, über dem ein Porträt von ihrer Tante, eigentlich ihre richtige Mutter, Helen Stanford, hing und lehnte das Rezeptbuch auf dem Kaminsims an die Wand. Dann schaute sie auf zu ihrem Bild und sprach leise mit ihr. "Er ist gegangen. Ich weiß nicht für wie lange das sein wird. Er hilft seiner Schwester im Restaurant. Ich hoffe, er kann dort Fuß fassen und wird glücklich dort...Ich wünschte, ich hätte ihn aufhalten oder einen anderen Vorschlag unterbreiten können. Ich vermisse ihn jeden Tag...genau wie dich. Er hat das schwarze Buch zurückgegeben...das mit den vielen tausend Rezepten, die wir drei hinein geschrieben haben. Erinnerst du dich noch daran?
Ich würde noch gern mit dir weiter plaudern, aber die Pflicht ruft. Ich bin die Erbin dieses Hotels...deine und Dads Nachfolgerin. Ich meine Onkel Benjamin. Es ist noch etwas verzwickt. Ich muss mich noch daran gewöhnen.
Der zweite Chef wird schon auf mich warten und innerlich toben. Die Zimmerkontrolle steht heute morgen auf dem Plan. Danach werde ich in die Küche schauen, ob sich unser neuer Koch schon eingelebt hat. Ich muss am Ball bleiben, um euch Beiden Konkurrenz zu machen...Wir sehen uns später. Stell bis dahin nichts Dummes an, ja?...Ich hab dich lieb!", sagte sie mit erhobenem Haupt zu der Frau auf dem Porträt und verließ ihr Büro.
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