- III -
Die historischen Aufnahmen des Atombombenangriffs auf Hiroshima, die jeder kannte, hätten mich auf den Anblick vorbereiten sollen. Sie taten es nicht. Vom entfernten Stadtzentrum war nichts mehr übrig außer wenige steinerne Mahnmale, die trotzig die Gluthitze und die nachfolgende Druckwelle überstanden hatten. Doppelt so heiß wie im Inneren der Sonne war es im Zentrum der Explosion gewesen, die sich in fünfhundert Metern Höhe blitzartig ausgedehnt und die Stadt innerhalb von Sekundenbruchteilen vollständig verschlungen hatte. Nicht nur die Stadt. Mindestens 70.000 Menschen auf einen Schlag. Eine unvorstellbare Zahl. Ein einzelner Tod war bereits ein Schock. Aber Zehntausende in Sekunden ...? Das passte nicht in meinen Kopf.
Hatte die überneugierige Achtjährige überlebt? Oder war auch von ihr nicht mehr als ein verrußter Schatten auf einer Steinwand übrig? War sie verstrahlt, verbrannt oder verstümmelt worden? Warteten qualvolle Jahre auf sie, bevor ihre zerstörten Organe und die Krebsgeschwüre irgendwann ihren Tribut forderten? Hätte ich sie vorhin warnen sollen? Mit Sicherheit wusste ich das nicht, denn es war bereits in meiner eigenen Vergangenheit geschehen. Und die Zehntausenden von Menschen, die »Little Boy« hier vor wenigen Minuten ausgelöscht hatte, waren seit vielen Jahren tot. Denen konnte nicht mehr geholfen werden. Sie waren Geschichte. Außerdem war das ja alles nur ein Traum. Oder?
Erst jetzt wanderte meine Aufmerksamkeit zu meinem geliehenen Körper zurück. Die Druckwelle hatte ihn brachial durch die Gegend geschleudert. Mein rechter Ärmel und das Hosenbein waren zerrissen, die Haut darunter jedoch nur zerkratzt und ohne tiefere Wunden. Fortuna sei Dank.
Unter mir kamen die Silhouetten erster Menschen aus den Trümmern der zerstörten Holzgebäude hervorgetreten. Teilweise stützten sie sich gegenseitig oder krochen mehr, als dass sie gingen. Nein, korrigierte ich mich, es waren keine Silhouetten – ihre Körper waren tatsächlich pechschwarz und haarlos. Ruckartig wandte ich mich ab und rannte die entgegengesetzte Seite des Hügels hinab. Wollte den Schrecken dieser Zeit nicht weiter an mich heranlassen. Ich hatte in diesem Traum einen Auftrag zu erfüllen.
Während ich mir den Weg durch die Busch- und Baumreste bahnte, warf ich einen Blick auf die Taschenuhr. Sie zeigte klar in Richtung Nord-Ost. Das bedeutete wohl, die Zeitreisende hatte ebenfalls überlebt. Und wenn mich die Uhr ihr erneut hinterherschickte, konnte das nur bedeuten, dass ich meine Mission noch nicht erfüllt hatte. Aber worum ging es hier? Sollte ich sie aufhalten? Falls ja, bei was? Sie hatte in ihrem Hologramm beobachtet, wie sich Bomber näherten. Außerdem befand sie sich beinahe am Nullpunkt im potenziellen Zentrum der Explosion. Warum? Hatte sie die Angreifer dorthin dirigiert? Das machte kaum Sinn. War es ein Gerät, dass irgendwie die ultraheiße Energie auffangen sollte? Am Ende hätte sie auch einfach abwarten und die Soldaten rufen können. Warum ist sie also vor mir geflohen und hat mich als »Spinnengläubigen« bezeichnet? Das waren alles wilde Science-Fiction-Spekulationen. Mir schwirrte der Kopf und es brachte mich nicht weiter.
Die Gretchenfrage war: Den zweiten Knopf jetzt ausprobieren und auf die Rückreise oder das Aufwachen hoffen – oder ihr folgen? Im Grunde meines Herzens kannte ich die Antwort bereits: Den Schalter hätte ich auch früher schon drücken und mir das Erlebnis einer Atomexplosion aus nächster Nähe sparen können. Also hinterher.
Und ihr neues Ziel war damit ebenfalls klar: Nagasaki.
《✩》
Die Schrecken nicht an mich heranlassen. Ha! Wie kam ich auf die alberne Idee, dass das nach diesem Inferno möglich wäre? Zehntausende Menschen waren gestorben und eine ähnlich große Anzahl hatte nur mit schwersten Verletzungen überlebt. Was in der Geschichtsschreibung nach nüchternen, anonymen Zahlen klang, unterlegt mit den Bildern einer einsamen, zerstörten Stadt, von der nur noch die Grundmauern standen, stellte sich in meiner Realität als Albtraum heraus:
Kinder mit Körpern aus wässrigen Brandblasen, die sich ohne Eltern in der Flüchtlingskolonne dahinschleppten. Ganze Familien, deren geschmolzene Haut herabhing wie Fledermausflügel. Mütter, die ihre verkohlten Babys trugen, als könne sie ein Wunder zum Leben erwecken. Ein endloser Marsch der Schrecken zog durch die zerstörte Stadt, während vorbeifahrende Kolonnen aus Militärtransportern die Menschen mit Staub bedeckten. Das Schlimmste jedoch war der Geruch: ein stechendes Gemisch aus Schweiß, angebranntem Fett und süßlicher Verwesung.
Am nördlichen Rand des Stadtzentrums erreichte ich endlich den Hauptbahnhof. Ich hatte die Hoffnung, dass hier noch Züge nach Nagasaki fuhren. Anders wäre es den »doppelten Hibakusha«, von denen ich irgendwann mal gelesen hatte – den Personen, die beide Atombombenexplosionen erlebt und überlebt hatten – nicht möglich gewesen, innerhalb von drei Tagen an beiden Orten zugegen zu sein.
Vor der Hiroshima-Station, einem massiven, kantigen Bahnhofsbau, dessen Wände die Feuerwalze nahezu unbeschadet überstanden hatten, sammelte sich eine Menschentraube. Im Gegensatz zu den Kolonnen der Verletzten kamen hier Hunderte Unverletzte an und drängten sich in Richtung des Bahnsteigs. Einige trugen Koffer und Säcke mit ihrem Hab und Gut, andere waren ähnlich wie ich nur mit den Kleidern am Leib unterwegs. Während ich mich ebenfalls nach vorne durchdrängelte, kam tatsächlich eine stampfende Dampflok mit einem langen Zug olivgrüner Waggons in Sicht. Diese musste jedoch bereits deutlich vor dem Bahnhof anhalten, da die Wartenden auf den Zug zu stürmten, um einen Platz zu ergattern. Ich bildete keine Ausnahme und war überzeugt, dass die Zeitreisende sich in dem Gedränge befand und nach einer Mitfahrgelegenheit suchte. Leider war ich hier chancenlos, an sie heranzukommen.
《✩》
Erst am nachfolgenden Morgen um zehn Uhr erreichte der Zug nach vielen Zwischenstopps und Pausen Nagasaki. Die zweite Bombe war zu einer späteren Uhrzeit abgeworfen worden. Um elf? Exakt wusste ich das ebenfalls nicht mehr. Aber Zeit blieb keine.
Diese Hafenstadt glich Hiroshima frappierend. In der anderen zerstörten Metropole war der Explosion unwissende Geschäftigkeit vorausgegangen. Hier war aufgrund der Verletzten, der Flüchtlinge und des alarmierten Militärs die aktuelle Stimmung in den Straßen das genaue Gegenteil: Überall eilten die Menschen, marschierten Soldaten und rasten Militärlaster durch die Gassen. Die Vorbereitungen auf einen möglichen Angriff waren unübersehbar. In Kürze würde jedoch auch hier gespenstische Ruhe einkehren, nachdem der zweite Atomfeuerbrand weitere 40.000 Seelen ausgelöscht hätte. So lange wollte ich hier nicht warten. Leider war die Zeitreisende schneller als ich und laut der Uhr bereits in Richtung Stadtzentrum unterwegs.
Was zum Teufel war ihr Plan? Vermutlich suchte sie erneut einen ruhigen Platz nahe dem hiesigen Nullpunkt für ihre Kugel. Was bezweckte sie damit? Die Explosion verhindert wollte sie offenbar nicht. Eventuell nahm der verchromte Ball die Energie der Atombombe in sich auf oder diente einfach wissenschaftlichen Zwecken. Aber warum floh sie vor mir und bezeichnete mich als »Spinnengläubigen«? Es half nichts, ich musste dringend mit ihr sprechen.
Um die nächste Ecke in einer schäbigen Gegend mit schmutzigen Hauswänden und blinden Fenster rennend, erwischte ich sie erneut. Dort stand sie wieder mit ihrer Brille, dem Hologramm und einer weiteren Kugel vor sich am Boden.
»Hey«, rief ich außer Atem und hob die Hände, als ich den Platz betrat. »Bitte hau nicht direkt wieder ab. Ich will nur reden und bin kein Spinnengläubiger. Versprochen.«
Dieses Mal hielt sie in ihrem Tun nicht inne und vollführte weiterhin Gesten, als wäre sie eine Darstellerin im Film »Minority Report«.
»Na dann – rede«, kam ihre kühle Antwort. »Du hast noch ungefähr ... vier Minuten.«
Oh, Shit. Dieses Mal wäre Weglaufen keine Option. Vorsichtshalber griff ich die Spinnenuhr in meiner Hosentasche und legte den Daumen auf den zweiten Knopf. Ob dieser mich zurückbrächte oder aufwachen ließe, würde sich vermutlich gleich zeigen.
»Ähm ... was tust du dort mit dieser Kugel?« Eine bessere Frage fiel mir spontan nicht ein.
Jetzt pausierte sie doch einen Augenblick und blickte mich für ein paar Sekunden schweigend an. »Du bist tatsächlich kein Spinnengläubiger. Dann sieh zu, dass du verschwindest. Aus welcher Zeit auch immer du kommst. Je weniger du weißt, desto weniger kannst du kaputtmachen.«
»Aber vielleicht kann ich helfen! Ich ...«
In diesem Moment sah ich sie: Drei schwarze Schatten, die in Dreiecksformation unmittelbar über uns am stahlblauen Himmel ihre ruhige Bahn zogen. Ein kaum wahrnehmbarer dunkler Punkt näherte sich von den Bombern exakt unserer Position. Jeden Augenblick würde der Gammablitz alle erblinden lassen, die in diesem Moment den Anblick des klaren Firmaments genossen. Nur, um sie Sekundenbruchteile später mit einer Welle ultraheißen Plasmas zu Schlacke zu verbrennen.
Mit dem Daumen presste ich den Knopf an der Uhr so fest, wie ich konnte.
《✩》
»Hallo? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Vor meinem Gesicht, über das Tränen in den staubigen Boden des Münchener Festivals tropften, schwebte das Antlitz des chinesischen Händlers. Dumpf drangen seine Worte sowie das Geschwätz und Lachen der Besucher in meinen Geist. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich auf den Knien lag und die Taschenuhr mit dem Spinnendesign, wie eine Opfergabe in den geöffneten Handflächen vor mir hochhielt. Ich war zurück. Aus dem Traum, der Zeitreise oder was auch immer. Mit zitternden, verspannten Muskeln erhob ich mich stöhnend und überragte den Chinesen locker um Haupteslänge. Mit den Ärmeln wischte ich mich trocken.
»Ich ...« Was sollte ich ihm antworten? »Ja. Danke. Diese Uhr. Woher haben Sie die?«
»Oh, die habe ich von einem Großhändler gekauft zusammen mit vielen anderen Stücken. Aber Sie können mir glauben, die ist wirklich so alt. Mit so etwas kenne ich mich aus.« Einen Moment zögerte er. »Falls Sie sie jedoch zurückgeben wollen. Kein Problem. Ich gebe Ihnen das Geld wieder.«
War das alles nur eine Halluzination gewesen? Hatte mir mein überdrehter Geist einen Streich gespielt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Nein«, antwortete ich daher, »ich denke, ich behalte sie.«
Ob ich jedoch nochmals einen Knopf an dem Kleinod drücken würde, da war ich mir nicht so sicher.
»Okay, kein Problem. Dann viel Spaß damit.« Er setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf und trat wieder hinter seinen Stand.
Während ich mich abwendete, warf ich nochmals einen Blick auf die Taschenuhr. Die beiden Zeiger befanden sich exakt übereinander. Als wäre es sechs Uhr. Jedoch schwangen sie locker wie bei einem Kompass – und deuteten unbeirrbar auf den Stand des Chinesen.
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