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Die Sonne glänzte an diesem Sommertag über dem Münchner Tollwood-Festival, während ich zwischen den Marktständen flanierte, neugierig auf der Suche nach einem besonderen Fund. Der Duft von exotischen Gewürzen und Räucherstäbchen hing in der Luft, und die Geräusche von Musik und fröhlichem Geschnatter erfüllten meine Ohren.

Mein Blick blieb an einem kleinen, aber auffälligen Stand hängen. Ein alter, chinesischer Kunsthändler mit entgegenkommendem Lächeln und langen dürren Barthaaren hatte eine erstaunliche Sammlung von Antiquitäten und Kunsthandwerk ausgebreitet. Perlmuttfarbene Schachbretter, Pergamente mit asiatischen Sternzeichen, Dutzende Tiegel und Gläschen mit unleserlicher Beschriftung, antik erscheinende Ming-Vasen, goldene Winke-Katzen, verchromte faustgroße Kugeln, vergilbte Bücher und Glasgefäße, in deren milchiger Flüssigkeit Schlangen, Eidechsen und weiteres totes Getier schwebten. Inmitten der Kuriositäten lag eine Taschenuhr, die wie aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Ihr glänzendes Messinggehäuse schimmerte in der Sonne, und das Spinnendesign auf dem Deckel ließ diese beinahe lebendig erscheinen.

Der Händler erkannte sofort, auf welches Kleinod ich es abgesehen hatte. Er ergriff die Uhr behutsam und öffnete sie, um das filigrane Uhrwerk zu zeigen. »Diese Taschenuhr ist ein wahres Meisterwerk, mein Freund. Ein Geschenk Fortunas – für dich. Sie wurde zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Japan gefertigt und erzählt eine Geschichte von Glück und Abenteuer.«

Fasziniert wog ich das kleine Kunstwerk in meiner Handfläche und wusste, dass ich dieses Artefakt besitzen musste. Nach einer kurzen Verhandlung legte ich mit klopfendem Herzen zu viel Geld auf den Tisch und nahm die Taschenuhr in die Hand. Kühl und schwer lag sie dort, ohne, dass sich die Zeiger bewegten. Neugierig drückte ich den linken von zwei Knöpfen, die herausragten wie bei einer Stoppuhr ...

《✩》

Nasse Blätter klatschten mir ins Gesicht, und die zugehörige Bananenpflanze verteilte ihren kühlen Morgentau in einem Sprühnebel über mich. Aus dem feuchten Erdreich erhoben sich Wurzeln und schickten meinen strauchelnden Körper mit einem erstickten Schrei ins vermodernde Laub.

»Was zum Teufel ...?«, entfuhr es mir, während ich Blätter ausspuckte, mich aufrappelte und meinen flachen Strohhut zurechtrückte. Strohhut ...?! Was war passiert? Hatte ich nicht eben eine hübsche Taschenuhr auf dem Tollwood gekauft?

Als ich an mir herabsah, setzte mein Herz einen Schlag aus. Oder auch zwei. Hellbraune verdreckte Leinenkleidung, Strohsandalen sowie knochige Finger, die ich nicht kannte. Fuck! Ich steckte in einem fremden Körper! Wie der eines klein gewachsenen Asiaten. Wie war das möglich? War es eine Halluzination? Hatte mir der Chinese irgendeine Droge verabreicht?

Erneut schaute ich mich um, betastete mein Gesicht, meine Gliedmaßen und den Stoff der grob gewebten Kleidung, die mich bedeckte. Irrsinn. Das wirkte alles zu Einhundertprozent real. Nicht wie ein schwammiger Traum oder flirrendes Trugbild. Wie war das möglich?

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, mir selbst in einem unbekannten Dschungel das Unerklärliche zu erklären. Auch Kneifen und Backpfeifen halfen nichts. Dieser Traum war verdammt realistisch. Am Ende akzeptierte ich die Situation, in die man mich geworfen hatte und bloß, das Beste aus diesem Erlebnis zu machen.

Als Erstes musste ich herausfinden, wo ich mich befand. Alles Weitere würde sich ergeben, bestimmt hätte irgendwer ein Handy, mit dem ich telefonieren konnte. Ach, Quatsch. Realismus hin oder her: Das hier war ein Traum. Punkt. Es musste ein Traum sein. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Auf das Geratewohl wollte ich losmarschieren, da blitzte auf dem Boden eine Lichtreflexion. Die Spinnenuhr! Das angebliche Geschenk Fortunas lag halb im Laub vergraben. Vorsichtig hob ich sie auf und betrachtete das Artefakt. War es doch kein Traum, sondern ... was? Magie? Hatte mich die Uhr wirklich in einen anderen Körper an einem anderen Ort in der Welt geschickt? Nein. Unmöglich. Daher hielt ich mich weiterhin an meine Traumthese.

Während ich mich nochmals umschaute, bemerkte ich, dass die Zeiger der Uhr nicht fest verankert waren. Sie lagen beide übereinander und schwangen wie bei einem Kompass immer in eine bestimmte Richtung. Ein Blick auf die Sonne, deren Strahlen durch das Blätterdach brachen, machte jedoch klar, dass es nicht Norden war. Eher Südwesten.

Und da gab es noch den zweiten Knopf. Der erste hatte mich in diesen komischen Traum hineingestoßen. Würde mich der andere wieder herausholen? Vielleicht. Aber im Grunde war das Erlebnis viel zu spannend, um es sofort zu beenden. Außerdem hatte ich zumindest einen Anhaltspunkt, wohin ich mich wenden sollte in dieser verrückten Fantasie. Schulterzuckend bahnte ich mir meinen Weg durch die dichte Vegetation und warf immer wieder einen Blick auf die Uhr.

Einige Minuten später trat ich auf eine Lichtung am Hang. Vor mir breitete sich in der aufgehenden Sonne ein Meer aus verwinkelten Holzdächern aus, die sich in wilden Winkeln aneinander stapelten. Überall stiegen kleine Rauchfähnchen aus den Öfen auf. In der diesigen Ferne waren eckige Fabrikgebäude mit rauchenden Schornsteinen zu erkennen. In weit entfernten Hafenanlagen reckten sich Kräne wie gichtkranke Finger aus dem Morgennebel. Trotz der Distanz mischte sich der beißende Geruch verbrannter Kohle und von Dieselabgasen in die frische Waldluft. Eine asiatische Hafenstadt, wie es schien. Alles Weitere würde ich dort unten in Erfahrung bringen müssen. Damit verlor ich keine Zeit und rannte in langen Schritten den Hang hinab in Richtung der äußersten Häuserreihen.

《✩》

Dürre Fahrräder und vollbepackte Handkarren prägten das Straßenbild. Fasziniert beobachtete ich, wie sich hin und wieder trötende schwarze Autos mit ausladenden Kotflügeln und rußende Militärtransporter durch die Menge drängelten, während ich mich der Uhr folgend in Richtung Zentrum vorarbeitete. Die zeltartig geschwungenen Dächer mit ihren hölzernen braunen Schindeln erinnerten an asiatische Tempel, nur dass hier praktisch jedes Haus auf diese Weise gebaut war. Was von oben nach Wildwuchs aussah, waren hier unten breite, von Holzhäusern und Geschäften gesäumte Straßen. Soldaten, Bauern und Arbeiter, aber auch Männer in feinen Anzügen mit Hut und weiten Hosenbeinen wie aus einem Schwarz-Weiß-Film, drängelten sich über die Gehsteige.

Dir Autos und die Kleidung – das war definitiv keine moderne Stadt. Vom Stil der Häuser und der Passanten erschien es am ehesten wie in Japan, auch wenn ich noch nie dort gewesen bin. Zeitlich eher irgendwann im vorigen Jahrhundert. Niemand besaß Smartphones oder Ähnliches und die Fahrzeuge ordnete ich in die Zeit des Zweiten Weltkriegs ein. Dazu passten die in Schwarz-Weiß gedruckten Plakate an den Häuserwänden, die ich erstaunlicherweise entziffern konnte. Sie zeigten heroische, japanische Soldaten im Kampf, schimpften auf die Chinesen und Amerikaner und lobten die eigene Regierung über den Klee. Hinzu kamen öffentliche Verordnungen, die die Rationierung von Lebensmitteln, Kleidung und Kohle anordneten.

Es war an der Zeit mir Klarheit zu verschaffen.

»Entschuldigung«, wandte ich mich an einen der gut gekleideten Herren und war dankbar, dass Fortuna mir auch die Sprachfähigkeiten meines Traumkörpers überließ. »Welches Datum haben wir heute?«

Verdutzt schaute er mich an, dachte jedoch wohl, dass ein armer Bauer vom Land nicht unbedingt den Kalender kennen musste. Zumindest antwortete er: »Es ist der sechste August.«

»Vielen Dank, und wie spät ist es?«

Er rollte mit den Augen, erwiderte jedoch: »Kurz nach sechs.«

Damit wandte er sich ab und verschwand in der Menschenmenge. Auch sonst schenkte mir niemand Beachtung. Als einheimischer Bauer oder Arbeiter fiel ich hier nicht auf.

Hm, ... der sechste August. Da klingelte etwas. Dem Äußeren der Passanten, dem vielen Militär und der Propaganda auf den Plakaten nach zu urteilen, befand ich mich wirklich mitten im Zweiten Weltkrieg in Japan. Und das Datum ... oh, Scheiße. Die Erkenntnis verwandelte sprichwörtlich meine Knie in Pudding und ich musste mich an der nächsten Hauswand abstützen. Diesen Tag kannte jedes Kind aus der Schule: Der 6. August 1945. Hiroshima. Der Abwurf der ersten Atombombe. Das war sicherlich hier und heute. Verdammt. Warum hatte mich mein Traum hierhergeschickt? Meine Gedanken rasten. Wann genau hatte man die Bombe abgeworfen? Am frühen Vormittag. Irgendwas mit acht Uhr. Mir blieben maximal zwei Stunden. Verflucht.

Und jetzt? Verschwinden oder dem komischen Uhr-Kompass folgen? Mein erster Reflex war: Renn! Renn so weit weg und solange es geht. Wobei es dafür vermutlich eh zu spät war. Aber andererseits – das hier war nur ein Traum. Was sollte schon passieren? Eile war in jedem Fall angesagt. Ich wollte es nicht darauf anlegen, im Zentrum einer atomaren Explosion zu verweilen. Nochmals warf ich einen Blick auf die Uhr, um die Richtung zu bestimmen.

»Was hast du da?«, riss mich die quäkende Stimme eines Mädchens aus meiner Konzentration.

Ohne, dass ich es bemerkt hatte, war eine maximal Achtjährige neben mich getreten. Ihr schmutzigblauer Kittel, fettige Haare und ein Rußstreifen auf der Wange zeigten, dass sie möglicherweise in einer der Fabriken arbeitete. Sie deutete auf die Uhr, die ich prüfend von links nach rechts schwenkte. Für einen einfachen Bauern wie mich war der Besitz eines kostbaren Kleinods im eigenwilligen Design zumindest mal ungewöhnlich. Ihre Augen leuchteten neugierig, wie die jedes unschuldigen Kindes in diesem Alter, das versuchte, ein kleines Geheimnis zu ergründen.

»Nichts«, beschied ich dennoch knapp und schob die Uhr zurück in die Hosentasche. »Ein Erbstück.«

Brüsk drehte ich mich weg und lief die Straße hinab, ohne mich nochmals umzusehen. Ich musste besser aufpassen. Nicht auszudenken, falls das ein Polizist oder Soldat gewesen wäre. Diese hätten mich hier womöglich festgesetzt und damit mein Todesurteil gesprochen. Oder zumindest das meines Traumkörpers. Langsam wurde mir mulmig.

Eine Weile folgte ich dem Flussufer nahe dem Stadtzentrum. Dutzende Segelboote und einige Lastkähne, auf denen sich Holzkisten stapelten, schwammen über den Fluss. In der schlammigen nach Fäulnis stinkenden Brühe trieb Abfall in Richtung Meer. Vor mit tauchte ein überdimensionaler, dreistöckiger Steinbau auf, den ein gepflegter Park mit altem Baumbestand einrahmte. Die Kuppel, die das ausladende Gebäude krönte, war unverkennbar. Später würde dessen Gerippe als »Friedensdenkmal« bekannt werden. Das zukünftige Wahrzeichen Hiroshimas in unmittelbarer Nähe zum »Nullpunkt«. Dem Punkt, der dem Explosionszentrum am nächsten lag. Na super. Es war nur noch maximal eine Stunde, bis die Feuerwalze es aushöhlen würde. 

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