Trotzig verschränkt sie die Arme vor der Brust. Sie hat es einfach nur noch satt! Stickige Luft, enge und überfüllte Gassen, ignorante Menschen, fehlende Freundlichkeit und mangelnder Respekt. Dass sie ihn mit ihrer Aussage, über das dreckige, nervige, asoziale Berlin zur Weißglut bringt, weiß sie. Dass es ihre viel zu akkurate Beschreibung seines Charakters nicht besser macht, ist ihr bewusst. Aber es ist ihr egal, denn sie will ihn provozieren. Einmal nur, soll er spüren, wie es sich anfühlt permanent an den Rand der Verzweiflung getrieben zu werden, sich permanent anhören zu müssen, was für ein unfähiger, beschissener Mensch man ist. Aber allen voran will sie einfach nur noch hier weg und das so schnell, wie möglich!
Und so sitzt sie auf gepackten Koffern in der Nähe des Willi Brandt Hauses, wartet auf die M41, die sie zum Berliner Hauptbahnhof bringen soll und funkelt ihn aus ihren rehbraunen Augen herausfordernd an.
Sie sieht genau, wie sich seine Wut aufstaut. Die kleine Falte auf seiner Stirn tritt hervor, genau, wie die angsteinflößende Ader an seinem Hals. Er schnaubt, gleicht einem Vulkan, kurz vor der Eruption. Die Enttäuschung in seinen Augen sieht sie nicht. Und dann holt er zum verbalen Schlag aus: „Du bist hier nich' uffjewachsen, erklär' mir nich' meine Stadt!" Sie weiß, er spricht ein fast perfektes Hochdeutsch, er Berlinert bloß, um sie noch mehr aufzuregen. Er weiß, sie findet es furchtbar. ‚Weil sie dumm ist', sagte er immer spaßeshalber; Zumindest anfangs noch.
„Ick kann dir Berlin nich' erklären. Aber du kannst es ooch nich!" Tief atmet er ein, bevor er zum finalen Tritt in ihre Magengrube ausholt: „Also halt gefälligst die Schnauze, du kleine versnobte, Dorfpomeranze! Du, mit deiner völlig beschränkten Weltanschauung weißt so eine Stadt gar nicht zu schätzen. Also los, verpiss dich!"
Sie schluckt hart, kämpft tapfer gegen die Tränen an, die sich in ihren Augenwinkeln bereits anbahnen. Wenn sie jetzt nachgibt, einknickt und Schwäche zeigt, hat sie endgültig verloren und diesen Triumph will sie ihm unter gar keinen Umständen gönnen. Zu oft hat sie vor ihm schon Schwäche gezeigt.
Stattdessen kreisen ihre Gedanken plötzlich wild um diese eine Nacht. Diese eine Nacht, in der sie glaubte, endlich hinter seine Proll-Fassade blicken zu können. Nicht viel, nur ein wenig. Aber genug, um ihr Bild von ihm ins Wanken zu bringen.
Oft hatte sie ihn beobachtet. Analysierte sein Verhalten genauestens und versuchte schlau aus ihm zu werden. Doch es war, als gäbe es ihn zwei, wenn nicht gar drei Mal.
Während er sie aus stahlblauen Augen ansieht, fast schon niederstarrt, denkt sie an den alten Herrn Jaschke. Wie er drohte die Treppe hinunter zu stürzen, weil seine Beinprothese mal wieder nachgab und wie Felix ihn blitzschnell auffing, bevor der ehemalige Grenzsoldat den Boden küsste.
Sie denkt an diesen einen Nachmittag, an dem Amir, sein bester Freund ihn besuchte und dies darin endete, dass sie sich Grießbrei aus den Haaren wusch und Shirts mit Brandflecken in die Tonne warf.
Und dann war da noch diese eine kühle, sternenklare Nacht im August, in der der sonst so harte, pseudo-coole Proll den Neuköllner Möchtegern-Gangster einfach zuhause ließ, sich auf eine Bühne stellte und mit weitem Abstand einen Poetry-Slam für sich entschied. Es sei nur so ein Hobby, einfach ganz ironisch. Dass er Talent hatte, sah er nicht. Und falls doch, gab er es ihr gegenüber nicht zu.
„Was glotzt du denn jetzt schon wieder so blöd?"
Seine Worte stören sie nicht mehr, zumindest in diesem Moment nicht. Er möchte sie beleidigen, denn nur so scheint er sich stark und groß zu fühlen. Aber sie hat anderes im Sinn. Statt darauf einzugehen, streckt sie ihre Hand aus, fährt ihm langsam, mit zittrigen Fingern über die linke Brust. Er schlägt sie nicht weg. Er weicht nicht zurück, lässt sie einfach machen. Für den Bruchteil einer Sekunde schließt er die Augen. Sie sieht es nicht. Stattdessen ist sie überrascht, muss erst einige Male blinzeln, um sich wieder zu fangen.
Und so sagt sie gerade heraus, was sie denkt: „Wenn du weißt, wer du bist, dann reden wir weiter."
Ihre Stimme klingt nicht einmal halb so zittrig, wie sie es vermutet hat. Sie klingt stärker, fester und entschlossener.
Wenn sie ihn und seine Stadt auch nicht so richtig leiden kann, sie muss sich eingestehen: Die letzten zwei Monate waren die besten ihres Lebens. Und da gehörte er nun einmal auch dazu. Egal, welche seiner Persönlichkeiten.
Alles, was er noch tun kann, ist sprachlos dabei zuzusehen, wie sie in den Bus steigt und ohne ein weiteres Wort genauso schnell aus seinem Leben verschwindet, wie sie aufgetaucht ist.
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©️die kursiv geschriebenen Sätze sind Zitate aus Felix Lobrechts' Poetry Slam Text "Berlin"
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