↬ Mit dieser Welt alleine

Das Bundeskriminalamt hat sechs Beispiele gesammelt, die das Fehlverhalten einer Frau beschreiben...

Grund Nummer eins: Die Frau lehnt einen von der Familie ausgewählten Ehemann ab und verweigert die Zwangshochzeit. Was das anging, war ich safe.

Grund Nummer zwei: Die Frau hat die Jungfräulichkeit vor der Ehe verloren. Nein, habe ich nicht.

Was diese beiden Punkte anging, war ich also auf der sicheren Seite. Doch den schlauen Füchsen unter euch ist sicher schon aufgefallen: Vier Punkte fehlen...

◦ ◦ ◦

Das Wetter ist scheußlich an einem Spätsommertag in 2009.

Und trotzdem ist mir jeder einzelne kühle Regentropfen auf dem grauen Beton in Berlin Tegel lieber, als alles, was ich mit dem Verlassen des Flughafens hinter mir lasse. Die Rollen meines Koffers sorgen für laute Schläge auf dem nassen Kopfsteinpflaster, die einem Donnergroll gleichen. Zumindest fühlt es sich so an.

Immer wieder zucke ich zusammen, blicke mich um und versichere mich, dass Zahit mir nicht folgt. Je länger ich gehe, umso mehr merke ich die letzten Tage. Meine Atmung geht schwerer, als ich es von mir selbst gewohnt bin. An die Rückenschmerzen hingegen habe ich mich schon lange gewöhnt. Einzig das Ziehen in meinen Rippen, setzt mir ein bisschen zu.

Die Träger meines Rucksacks reiben, schneiden sich unangenehm in mein Fleisch und ich bin mir sicher, die Feuchtigkeit, die ich spüre, stammt nicht vom Regen. Doch ich ignoriere es. Zeit und einen angemessenen Ort um mich darum zu kümmern, habe beziehungsweise finde ich auf die Schnelle ohnehin nicht.

Also gehe ich weiter, steige in den 109er ein und am Jakob-Kaiser-Platz, der dritten Station, wieder aus. Dort laufe ich zur U-Bahn rüber. So lange, bis ich endlich die U7 einfahren sehe, spiele ich mit meinem leeren Handy. Ich klappe es auf und wieder zu, ohne irgendeinen Sinn. Hauptsache, ich denke nicht so viel nach. Schnell richte ich mein Kopftuch, bevor ich mir von meinem letzten Geld eine Fahrkarte kaufe und mich auf den letzten freien Platz im hinteren Abteil fallen lasse.

Ein alter Mann, bestimmt Mitte 70 steigt an der nächsten Station ein und ich erhebe mich wieder. Mehr oder minder freundlich sieht er mich an, bevor er sich an mir vorbeidrängt und auf den nun wieder freien Platz setzt. Etwas umständlich versuche ich, mich festzuhalten, als sich die U-Bahn wieder in Bewegung setzt. „Wo woll'n Se denn hin?", fragt mich der alte Mann und ich bin einen Moment lang verwirrt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er jetzt mit Smalltalk anfängt. Meine kurze Pause reicht ihm wohl aus, um zu vermuten, ich hätte ihn aufgrund der Sprache nicht verstanden. Missmutig beobachte ich, wie er die Nase rümpft und sich einfach von mir wegdreht. „Nach Hause", antworte ich und zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln. Eigentlich rechne ich mit einem spitzen Kommentar, à la ‚In die Türkei jehts da lang', doch stattdessen berichtet er von seinen Enkeln.

Beinahe schon automatisch findet meine Hand ihren Weg zu meinem Bauch. Es ist noch viel zu früh, um irgendetwas zu spüren, irgendetwas zu sehen und trotzdem erlaube ich mir kurz, zu fantasieren. Wenn es ein Mädchen werden würde, hätte sie wohl dieselben dunklen Locken, die ich als Kind hatte? Bekäme es die großen, fast schwarzen Kulleraugen ihres Vaters? Bekäme er seine breiten Schulter, wenn es ein Sohn werden würde? Wie würden Baba und Anne wohl reagieren? Bevor ich mich aber weiter in Zukunftsfantasien verlieren kann, höre ich die elektronische Durchsage meinen Stopp ansagen. „Hier muss ich raus", lächle ich noch immer freundlich und bekomme ein viel wärmeres Lächeln zurück. „Wiedersehen", sagt er und winkt zum Abschied.

Ich habe Berlin vermisst. So sehr mich der lange Weg zurück zu meinem Elternhaus in der Gropiusstadt auch schlaucht, dieses Gefühl lässt sich nicht abschütteln.

Neugierig, aber müde nehme ich jeden Zentimeter in mir auf und sauge die verschiedenen Gerüche ein, als ich an einem kleinen Geschäft entlang komme, dass es hier vor zwei Jahren noch nicht gab.

Ich bin endlich zuhause. Einige Tränen muss ich mir verkneifen. Trotzdem sehe ich, bevor ich in den Hauseingang trete, durch mein altes, kaputtes Klapphandy nach, ob mein Make Up noch sitzt. Mama soll nicht sehen, was er mit mir gemacht. Zumindest nicht sofort. Ich möchte zuhause ankommen, eine Umarmung der Menschen, die mich lieben und meine Ruhe. Nur ganz, ganz kurz. Mehr ist es gar nicht, was ich mir erhoffe, doch mir hätte von vorneherein klar sein müssen, dass ich diese Kleinigkeiten nicht bekommen werde.

Vor unserer Haustür angekommen, atme ich tief durch, denn erst jetzt fällt mir auf: Ich habe keinen Schlüssel. Da niemand zuhause zu sein scheint, bleibt mir nichts anderes übrig, als auf den Stufen sitzend und an die Wand gelehnt zu warten. Der Boden ist kühl und ich muss aufpassen, dass ich nicht einschlafe. Nichtsdestotrotz grinse ich breit, als ich meine Mutter die Treppe nach oben steigen sehe.

„Ane", begrüße ich sie und stehe auf. Sie hingegen sieht mich an, als hätte sie einen Geist vor sich. „Alila. Was tust du hier?"

Wenn ich nur in diesem Moment schon gewusst hätte, dass meine Mutter am freudigsten reagieren würde...

◦ ◦ ◦

Grund Nummer 3: Die Frau beabsichtigt eine Trennung vom Ehemann und/oder ihrer Familie und vollzieht diese. Die Kinder nimmt sie gegebenenfalls mit.

◦ ◦ ◦

„Das kann nicht sein, erzähle doch nicht so einen Unsinn", sagt Yassir, blickt mich streng an und verschränkt die Arme vor der Brust. Neben ihm steht Karim und pflichtet ihm bei. „Das ist mein Cousin von dem du da redest, das kann nicht sein."

„Und ich bin deine Schwester! Warum glaubst du mir nicht?" Hilfesuchend schaue ich zu meiner Mutter, die mir seit geraumer Zeit schweigend gegenübersitzt und wie hypnotisiert auf mein linkes Auge sieht. Oder viel mehr den massiven blauen Fleck drum herum.

Omar steht hinter mir. Dass er von einer Marihuana-Fahne begleitet wird, scheint niemandem aufzufallen. Oder zumindest versuchen sie es zu ignorieren.

„Du wirst ihm schon einen Grund gegeben haben", spielt er die Situation herunter und mir reicht es. „Bist du dir da sicher?" Meine Stimme ist lauter, als ich es mir erlauben sollte, das sehe ich an seinem Blick. Trotzdem springe ich auf, ziehe mein Shirt nach oben und entblöße die blauen Rippen, die Kratzer an meiner Hüfte und kurz danach die Stichwunde in meiner rechten Schulter. Ich hatte doch Recht, nicht der Regen hat den Stoff meines schwarzen Langarm-Shirts feucht an meiner Haut kleben lassen. Irgendwann muss sich das Pflaster gelöst und die Striemen des Rucksacks an der noch frischen Wunde gerieben haben. „Bist du völlig übergeschnappt? Zieh dich wieder an!" faucht Omar und reißt an meinen Klamotten.

„Sie wollte doch heiraten, jetzt versaut sie alles", höre ich Yassir zischen und erst jetzt mischt sich meine Mutter ein. „Alila, eine Ehe ist Arbeit. Es kommt nicht immer alles so, wie man sich das wünscht." Im Gegensatz zu meinen Brüdern, ist sie nicht aufgebracht. Sie klingt nicht sauer, im Gegenteil. Ihre Stimme ist bestimmt und kühl. Abgebrüht sieht sie mir direkt in die Augen. „Egal, was passiert. Man wirft eine Ehe nicht weg." „Mama diese Ehe ist die Hölle", unternehme ich einen letzten Versuch, an ihr Gewissen zu appellieren. Sie ist doch eine Frau...Warum versteht sie mich nicht? „Alila, man trennt sich nicht von heute auf morgen von seinem Mann. Und man flüchtet auch nicht einfach ohne ein Wort."

Es hat keinen Sinn. Sie wollen mich nicht verstehen.

Auch mein jüngster Bruder, der an diesem Abend erst spät nach Hause kam, hatte vor mich zurück zu schicken.

Was sich im Endeffekt änderte, oder wer ihre Meinung änderte, erfuhr ich nie. Doch ich durfte bleiben.

Vorerst. Ich liebte meine Familie. Meine Mutter und meine Brüder. Auch, wenn sie es irgendwann nicht mehr taten.

◦ ◦ ◦

Fünf Wochen dauert es. Fünf Wochen, die ich benötige, um mir ein kleines bisschen Freiheit zu erarbeiten. Fünf Wochen, die es benötigt, damit ein dummer Zufall eintritt.

Scheitert eine Ehe, büßt die Frau. So verlangt es die Tradition meiner Eltern. Somit sitzt mein Hijab ein wenig enger, sind meine Kleider ein wenig länger und ein wenig dunkler. Ich gehe nicht mehr alleine vor die Tür, das ist der Frau verboten.

Bis zu diesem einen Tag, diesem einen dummen Zufall, der mir ermöglicht, einen großen Fehler zu begehen. Einen großen Fehler, den ich sicherlich nicht bereue.

„Eine ungewollte Schwangerschaft kann für Frauen eine seelische und körperliche Ausnahmesituation sein: Es geht um die Entscheidung für oder gegen das Leben mit einem (weiteren) Kind. Oft erscheint beides als ähnlich schwer. Entscheidet sich die Frau beziehungsweise das Paar für einen Abbruch, ist das oft mit einer spürbaren Beklommenheit verbunden. Viele haben Angst vor dem Eingriff und vor Komplikationen, vielleicht auch vor Gefühlen wie Schuld oder einem späteren Bedauern. Vielfältig sind die Gedanken und Gefühle, die verarbeitet werden wollen: Abschied, Trauer, Befreiung und der Wunsch, der Entscheidung einen überzeugenden Sinn zu geben.

Unter diesen Bedingungen einen tragfähigen Entschluss zu treffen, ist nicht leicht. Oft wünschen Frauen sich dann eine klare Entscheidung, die sie als Erleichterung und Befreiung aus der schwierigen Situation erleben."

Immer wieder fliegen meine Augen über den Artikel, als ich vom Bat-Yam-Platz in den Ullrich – von – Hassel – Weg abbiege. Dass ich mich hier unnötig lange aufhalte, indem ich einen immensen Umweg gehe, ist mir herzlich egal. Omar wird noch nicht zuhause sein, meine anderen Brüder ebenso wenig. Im besten Fall sind sie noch in der Schule – die ich aufgrund der gescheiterten Ehe nicht mehr besuchen darf – und wenn nicht, dann sind sie entweder in der Hasenheide oder im Görli. Kurz um: Weit genug weg von mir. Mama wird selbst beim Arzt sein und versuchen Babaane zu beruhigen. Dass es mir egal ist, wo sie sind und was mit ihnen ist, sollte mir Angst machen, doch das tut es nicht. Ich habe genug mit mir selbst zu tun und so lese ich den Artikel weiter. Die Fachzeitschrift ist geklaut. Nicht mit Absicht, ich habe sie im Wartezimmer eingesteckt, als man meinen Namen aufrief und sie einfach vergessen. Es war schwer genug, den Ärzten und Schwestern zu erklären, warum ich alleine da bin.

Aber auch das ist irrelevant, denn mir geht allen voran ein Absatz nicht aus dem Kopf. Vielmehr ist es nur ein einziges Wort: Schuld. Fühle ich mich schuldig? Fühle ich überhaupt irgendwas?

Wie von selbst findet meine Hand ihren Weg auf meinen Bauch. Ein unheimliches Gefühl der Leere erfüllt mich. Aber Schuld? Von Schuld spüre ich nichts. Meine Sicht beginnt zu verschwimmen, als ich darüber nachdenke, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Mit einem Male scheine ich alles wieder zu erleben, alles wieder zu spüren. Sein harter, forscher Griff. Ich höre den Stoff reißen, Türen knallen. Ich höre meine eigenen Schreie durch das Haus schallen. Spüre seine flache Hand auf meiner Wange, die glühende Hitze hinterlässt. Spüre die Haut seiner Schulter zwischen meinen Zähnen, als einen verzweifelten Versuch, ihn von mir los zu kriegen. Keine Chance.

Wieder überkommt mich in all dem nur eine einzige Emotion: Machtlosigkeit.

Immer mehr Tränen bahnen sich ihren Weg, Wut kocht in mir hoch, die ich nicht kontrollieren kann und so biege ich ab. In den Park am Vogelwäldchen, wohlwissend, dass mir hier 8/10 Testosteron-gesteuerten Brüllaffen auf die Schnauze hauen werden, wenn ich eine Sekunde nicht aufpasse.

Der Kies knirscht unter meinen Füßen, meine Tränen lassen sich nicht stoppen und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Mitten im Park halte ich es nicht mehr aus. Ich habe keine Kraft mehr, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen und so lasse ich mich, genau wie meine Tasche, einfach gegen einen Baum fallen, der keinen Meter vom Kiesweg entfernt steht. Die Beine fest an mich gezogen, weine ich. Nicht, weil ich soeben ein Leben beendet habe. Ich weine, weil ich egoistisch bin. Egoistisch, weil ich mir selbst mehr leid tue, als das, was ich gerade getan habe. Wie konnte es so weit kommen?

Immer wieder schluchze ich leise, versuche zum Atmen zu kommen und meinen kreisenden Kopf zum Stillstand zu zwingen. Nichts dergleichen passiert.

Stattdessen spüre ich mit einem Mal einen heftigen Ruck an meiner Hijab. Vor Schmerz schreie ich auf und verstehe nicht, was vor sich geht, als ich ein flache Hand in meinem Gesicht habe. „Du kleine Schlampe!" Sobald ich die Stimme erkenne, fährt mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich wusste, er versteht mich nicht. Ich wusste, sie verachten mich. Doch, wie weit er tatsächlich gehen würde, das wusste ich nicht.

Nicht einmal, als mir ein Notfallhammer die Kniescheibe zu zertrümmern versucht. Ihre Beschimpfungen prallen an mir ab. Kein Laut verlässt meine Kehle. Stattdessen schleicht sich ein einziger Gedanke in mein Bewusstsein. Vielleicht habe ich es verdient.

◦ ◦ ◦

Es ist bereits dunkel, als ich meine Augen wieder öffne. Das Gras um mich herum ist feucht, die Luft riecht dennoch angenehm nach Sommer. Der Mond scheint seicht durch die Baumkrone und für einen Moment ist es ganz ruhig. Ich atme tief durch. Zum ersten Mal seit langem, atme ich einfach nur tief durch.

Doch es dauert nicht lange, bis ich vollständig in der Realität ankomme, bis mich der Schmerz einholt und sich Panik einstellt.

„Lila!?" höre ich eine panische Stimme laut rufen und sehe den kleinen Lichtkegel einer Taschenlampe auf dem Boden hin und her schwenken. „Er hat mich gefunden", flüstere ich leise zu mir selbst. Meine Stimme zu erheben, schaffe ich nicht. Es ist ein Wunder, dass er mich findet. Ein dummer Zufall, der mir vielleicht mein Leben rettet. Wer weiß das schon.

„Ach du Scheiße", ist alles, was er mir zur Begrüßung sagt. Ich möchte mich wirklich zu einem Lächeln zwingen, nur leider schaffe ich es nicht. Stattdessen lasse ich meinen Tränen einfach freien Lauf und es kostet mich wahnsinnige Kraft, es zuzulassen, dass er mich aufhebt. Wie der Dreck, zu dem sie mich gemacht haben, sammelt er mich vom Boden auf.

Beinahe schon automatisch finden meine Arme ihren Weg um seinen Hals. Mit dem letzten Rest meiner Kraft halte ich mich fest und weine leise in seine Schulter.

„Was haben sie mit dir gemacht?", fragt er mich, als wir an einer Ampel stehen. Wie er mich in sein Auto bekommt, ist uns beiden ein Rätsel. „Nichts", ist das erste, was mir geistesabwesend in den Sinn kommt und ich danke Allah, dass Felix nicht nachfragt. Zumindest fürs Erste. Ich bin zu erschöpft, um ihn anzulügen und das weiß er auch, da bin ich mir sicher. Somit lässt er mich schlafen, bis wir anhalten. Wo wir sind, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal. Hauptsache, ich bin nicht zuhause.

◦ ◦ ◦

Kennt ihr das? Freunde, die nach langer Zeit der Funkstille Himmel und Hölle für euch in Bewegung setzen? Die sich zu euch auf den Boden setzen, euch zuhören und erst dann in den Arsch treten? Freunde, die ihr bedingungslos liebt und die euch dieselbe Liebe und denselben Respekt zurück schenken? Schätzt euch glücklich, wenn es der Fall ist. Und vor allem: Sagt es.

Im Endeffekt bin ich mir nicht sicher, ob ich es dir oft genug gesagt habe: Ne olursa olsun, seni sevdiğimi biliyorsun, Felix.

◦ ◦ ◦

Grund Nummer 4: Die Frau untergräbt die Beschützer – und Versorgerrolle des Mannes, beispielsweise durch Erwerbstätigkeit.

◦ ◦ ◦

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich aus Felix' Umarmung löse. „Du schaffst das schon, Lila." Sagt er und ich weiß, dass er es auch so meint. Ich hoffe er hat Recht und gehe unsicheren Schrittes, auch weil die letzte Knieoperation noch nicht all zu lange her ist, die Stufen nach oben. Mein erstes Vorstellungsgespräch steht mir bevor und ich weiß gerade nicht einmal, wie man eigentlich atmet.

Die Nachrichtenagentur ist riesig, ich werde einwandfrei untergehen können. Mit jedem Schritt, dem ich meiner bevorstehenden Zukunft näher komme, löst sich der Knoten in meinem Hals ein Stückchen mehr. Zumindest solange, bis sich mein Handy meldet. »Unbekannte Nummer«. Eigentlich muss ich nicht einmal abnehmen, um zu wissen, wer es ist. Eigentlich müsste ich mein Handy nur ausschalten. Eine neue Nummer, würde mein Problem nicht lösen. Sie würden mich finden, wenn sie nur wollten und so nehme ich den Telefonterror einfach hin. Wenn sie mich anrufen, suchen sie immer hin nicht nach Felix' Wohnung. In Friedrichshain wird mich niemand suchen.

Also gehe ich ran. „Du miese kleine Schlampe..." Mit jeder Stufe, die ich nach oben gehe, bekomme ich mehr Schimpfwörter an den Kopf geknallt. Ob es traurig ist, dass ich mich inzwischen schon daran gewöhnt habe, kann ich gar nicht mehr einschätzen. Froh darüber, dass Felix mich nicht aus seinen traurigen Augen ansehen kann, warte ich ab, bis Yassir das Telefonat beendet und öffne die große Glastür.

„Meine Name ist Hamady, ich habe einen Termin mit Frau Schreiner", melde ich mich an der Rezeption.

Wenn ich die nächste Stunde nicht verkacke, dann kann ich Felix unterstützen. Vielleicht kann er seinen Job bei diesem Ausbeuter an den Nagel hängen und muss keine Eishockeysammelkarten mehr sortieren. Vielleicht kann er von nun an weniger Schichten in der Bar übernehmen? Ich darf es nur nicht versauen.

Wisst ihr, wie das ist, wenn man all seine Hoffnungen an einen einzigen Moment hängt? Wenn man sich von einem Misserfolg nach unten ziehen lässt?

Gut gemeinter Rat: Tut es nicht.

Wie heißt es so schön: Hope breeds eternal misery.

◦ ◦ ◦

Grund Nummer 5: Die Frau wendet sich von den Sitten und Traditionen des Herkunftslandes ab und orientiert sich am westlichen Lebensstil

◦ ◦ ◦

Mitten in der Nacht eines kühlen Herbsttages kommt Felix nach Hause.

Er torkelt von einer Wand zur nächsten, räumt erfolgreich die Garderobe ab und schlägt sich den Kopf – weiß der Himmel wie – an der Kommode an. „Lila?" wimmert er und ich habe keine andere Wahl, als ihn mitten in der Nacht zu verarzten. Am Boden sitzend lehnt er seinen leicht blutenden Kopf an meine Schulter. Immer wieder fallen ihm die Augen zu, doch er will nicht schlafen.

„Erzähl mir von deinem Tag", lallt er, während ich seine Stirn mit einem in Alkohol getauchtem Tuch abtupfe. Kurz zuckt er zusammen und greift reflexartig nach meiner freien Hand. Ich lasse es zu.

„Wo ist dein Kopftuch?" fragt er weiter, bevor ich seine erste Frage überhaupt beantworten kann. „Ich habe es abgenommen", erkläre ich kurz und knapp. Er ist nicht in der Verfassung dazu, mich zu verstehen. Warum soll ich es tragen? Ich verstehe nicht länger, was Allah gegen meine Haare hat und nehme es ab. Es hat keinen besonderen Grund und doch habe ich mich lange nicht mehr so frei gefühlt, wie am heutigen Tag.

Davon erzähle ich ihm aber erst, als er am nächsten Morgen, wieder nüchtern, vor mir steht. Den Kuss, den er mir in seinem Bett gegeben hat, verschweige ich ihm. Genau so, die Bitte um ein Date. Erinnern kann er sich sicherlich nicht. Meine Worte, hat er nicht gehört und so weiß er auch nicht, was ich für ihn fühle. Zumindest hoffe ich das, während ich ihm eine Tasse Kaffee unter die Nase halte.

„Was war denn gestern eigentlich los? Hat Arif nicht aufgepasst?" Dass ich kein großer Fan seines Kumpels bin, weiß Felix nur zu gut und ich muss schmunzeln, als ich sehe, wie er die Augen verdreht. „Es tut mir Leid, ich mag ihn einfach nicht." Sage ich und drehe mich mit dem Rücken zu ihm. „Rühr- oder Spiegelei?" frage ich stattdessen und stelle schon mal eine Pfanne auf den Herd. „Rührei bitte", antwortet er und ich lächle. Die Antwort kannte ich schon, bevor ich meine Frage laut gestellt habe. Zwar höre ich, wie er den Stuhl zurück schiebt, denke mir aber solange nichts dabei, bis sich seine Arme auf einmal um meine Hüfte schlingen und sein Kopf auf meiner Schulter platz findet.

„Deine Haare sehen wundervoll aus heute."

Vielleicht erinnert er sich doch. Eine Tatsache, die ich mir eingestehen muss, als ich mich unsicher in seiner Umarmung drehe. Direkt kann ich ihm in die Augen sehen. Kühles, dunkles Braun trifft auf warmes, strahlendes Blau. Mein Hals ist mit einem Male schrecklich trocken und ich habe einen Kloß im Hals, als ich seine Blicke beobachte. Immer wieder wandert er zu meinen Lippen.

Solange, bis ich das Gefühl, was ich so noch nie verspürt habe, nicht mehr aushalte. Vorsichtig, nur ganz kurz lege ich meine Lippen auf seine.

◦ ◦ ◦

Grund Nummer 6: Die Frau unterhält eine außereheliche oder von den Eltern nicht akzeptierte Beziehung. Dabei kann der Verdacht alleine ausreichen.

◦ ◦ ◦

Mein größter Fehler bist du Felix. Ich erlaube mir verknallt zu sein. Erlaube mir, dich zu lieben. Jede Faser deines Körpers, jede Macke. Ich liebe deinen Sturkopf. Deinen kleinen Bart, der eigentlich keiner ist, auf den du jedes Mal so stolz bist. Ich liebe deinen Humor, deinen Ehrgeiz und sogar den Perfektionismus. Ich liebe, wie du mit nur einem Blick weißt, was mit mir nicht stimmt. Ich liebe, dass du mich liebst.

Ich hätte gerne noch so viel Zeit mit dir verbracht.

Erinnerst du dich, was wir geplant haben? Urlaub in den Bergen. „Ick hab da sowat wie ne Tante" hast du gesagt und ich wusste, es ist mehr Familie, als ich jemals haben könnte.

Du wolltest mich zu meiner Freisprechung begleiten, stolz sagen „Meine Freundin ist Mechanikerin". Was ist mit der Wohnung geworden, die du mir nachts gezeigt hast, als wir tanzen waren? Zum ersten Mal waren wir tanzen, weit weg von allem. Amir und seine Freundin, Arif und seine Flamme, du und ich. Es war ein wundervoller Abend, erinnerst du dich?

Es tut mir Leid, Felix. Ehrlich. Es tut mir unendlich Leid, in was ich da rein gezogen habe...

◦ ◦ ◦

November 09

FELIX

Nervös schaue ich immer und immer wieder auf die Uhr. Die Sonne ist bereits untergegangen, erste Sterne stehen am Himmel. So ließe sich die Situation beruhigender beschreiben, als wenn ich sage, Alila ist schon zehn Minuten zu spät. Längst hätte sie bei mir sein müssen. Der kleine Kontrollfreak war immer pünktlich. Das wohl deutscheste an ihr.

Als mein Handy vibriert habe ich mir gerade eine Zigarette angesteckt und stehe auf dem Notbalkon der viel zu kleinen Wohnung. Sofort schleicht sich ein beklemmendes Gefühl in mein Bewusstsein. Alila ist nie zu spät...

Auf dem Weg zur Couch, worauf mein Handy frustriert geflogen ist, stolpere ich beinahe über unsere gepackten Taschen. Dringend muss ich sie ins Auto bringen, denke ich, bevor ich mit zittrigen, schweißnassen Händen nach dem alten Prepaid Handy greife.

Eine Nummer schickte mir einen Standort. Kein Text, kein Video. Gar nichts. Nur ein kleines rotes Kreuz auf einer alten Stadtkarte. Ich möchte schreien, laut schreien und das Handy gegen die Wand werfen. Doch ich tue nichts. Zu lange, wie sich später herausstellt, stehe ich in der dunklen Wohnung und starre auf den erhellten Bildschirm.

Was genau es ist, dass mich mich endlich rühren lässt, kann ich nicht sagen.

Als hielte eine unsichtbare Macht die Fernbedienung für meine Existenz in der Hand, steuere ich mitsamt der Taschen auf den kleinen, roten Golf zu. Ohne über irgendetwas nachzudenken, lege ich das Telefon auf den Beifahrersitz und fahre los. Jede rote Ampel ist mir nicht nur ein Dorn im Auge, sondern auch herzlich egal.

Mit jedem Meter, dem ich mich dem markierten Ort nähere, wird der Kloß in meinem Hals größer und mein Herzschlag schneller. Als hämmere es unaufhörlich gegen meine Brust, als spränge es im nächstmöglichen Moment aus meiner Brust. Meine Atmung wird immer schneller und ich muss mich schwer darauf konzentrieren, die richtige Abzweigung nicht zu verpassen.

Es sollte mir Angst einflößen, wo ich mich befinde. Zumindest dessen bin ich mir bewusst.

Ein altes Schwimmbad. Im letzten Jahr schloss man diese Scheißanlage wegen Rattenbefall, Asbest und allerlei anderer „Mängel". Die angrenzende Sauna ist noch immer in Betrieb – weiß der Teufel, warum.

Als ich den Schlüssel im Zündschloss drehe, erlischt auch meine einzige Lichtquelle, die ich habe, um mich hier irgendwie zurecht zu finden. Mein Glück ist es, dass mein Vater mir immer eintrichterte: Junge, steck dir ne Lampe ein. Weißt nie, wann du's mal brauchst.

Und ich habe es getan, einfach um ihn glücklich zu machen. Zwei Mal fällt mir das Scheißteil aus den nassen Händen in den Fußraum. Wenn ich genau darüber nachdenke, ist es ein komischer Moment, jetzt an Papa zu denken. Denn ein Gedanke zieht durch meinen Kopf, seit ich mich in den Wagen gesetzt habe: Sie wissen, was wir vor hatten, sie locken mich hier raus, setzen mir die Pistole auf die Brust und es wird wortwörtlich sehr, sehr dunkel.

Warum ich mir die Zeit nehme, weiß ich nicht. Es ist so offensichtlich, dass ich sie nicht habe und trotzdem schicke ich eine Nachricht an drei verschiedene Personen. ‚Ich liebe dich'. An Papa, an Nele und an Alila. Zumindest für die drei SMS reicht mein Guthaben noch.

Die Nacht ist kühl, pechschwarz und eine unangenehme Feuchte liegt in der Luft, als ich endlich mit der blöden Taschenlampe aus dem Handschuhfach aussteige. Der Lichtkegel ist klein, reicht aber wenigstens, damit ich mich nicht auf die Schnauze lege. Gebrochene Knochen wären jetzt ziemlich uncool. Eine kaputte Lampe wäre da noch mein kleinstes Problem.

Ich weiß nicht, was es ist, was mich in diesem Moment panisch werden lässt. Vielleicht ist es eine Mischung aus allem, doch ich fange an zu rennen. Der kleine Betonweg liegt schnell hinter mir, um das Unkraut schere ich mich nicht, denn ich sehe etwas.

Ich sehe, wie jemand am Rande des Weges liegt.

Mein Herz setzt einen Schlag aus, ohne, dass ich genau sehe, wer oder was dort liegt. Die Gestalt ist zierlich. Omar fällt raus. Auch die Zwillinge Kamir und Yassir haben deutlich an Muskeln zugelegt. Nein.

Meine Schritte werden langsamer. Mein Puls wird es nicht. Der Kloß in meinem Hals wird immer dicker und eine unheimliche Schwere liegt auf meiner Brust. Der Atem bleibt mir weg, als ich zwei Meter vor der Gestalt zum Stehen komme.

Vorsichtig und zitternd halte ich den Lichtkegel in ihre Richtung. Das erste, was mir ins Auge springt ist Rot. Überall rot. Roter Beton, rotes Gras. Dunkles rot. Und mitten drin ein zierliches Mädchen. Es ist naiv, es ist so schrecklich naiv, doch ich klammere mich an einen letzten Funken Hoffnung. Vielleicht wollen sie mir Angst machen. Vielleicht ist es ein x-beliebiges Mädchen, eine makabre Drohung, die mir sagen soll: Wir wissen, was du machst, was du vorhast.

Doch die Hoffnung ertrinkt in einer roten Blutlache, als ich mich achtsam nach unten knie und den Kopf zu mir drehe.

Wunderschöne, rehbraune Augen sehen mich an. Kein Glanz, kein Funken Leben ist in ihnen zu sehen.

Mein Leben liegt mir zu Füßen und mein Herz setzt in dieser Sekunde vollständig aus. Ich möchte schreien, ganz laut schreien, schreien um Hilfe, schreien um Gerechtigkeit, schreien um das Leben, dass sie mir genommen haben. Doch ich tue nichts, nachdem sich mein Gehirn eingeschaltet hat. Keinen Puls. Keine Atmung. Nichts als kühle Leere.

Nun bin ich mit der Welt alleine.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top