Kapitel 9 ↬ Lauf Forrest, lauf!
Während ich also wieder im Personalraum hocke und mir Theorie in den Kopf hämmere, von der ich niemals geglaubt habe, sie zu brauchen, fiebere ich meiner Mittagspause entgegen.
Dass ich Lotte noch einmal ans Telefon bekommen würde, hätte ich in diesem Jahrhundert nicht mehr für möglich gehalten. Doch ich freue mich wirklich. Gerade nach dem letzten Zwischenfall erhoffe ich mir zumindest so etwas ähnliches wie eine Erklärung. Ihr Verhalten war wirklich dumm und ich weiß, dass es eigentlich so gar nicht ihre Art ist.
Aber fürs erste bleibt mir nichts anders übrig, als mich mit den Aufgaben, die Felix mir heute tatsächlich mitgebracht hat, zu beschäftigen. Kurz nachdem er Al zurück in sein Zimmer gebracht hat, kam er zu mir, grinste schadenfroh und gab mir einen DinA4 Zettel. „Bis zur Mittagspause biste bestimmt durch, dann kommt Gaby." Und schon war er auch wieder weg. Weiß der Teufel, wo sich der Depp herumtreibt und wieso ich wieder einfach am Seitenstreifen geparkt werde. Wird ihm dieses pseudo-coole Bestrafen nicht irgendwann mal zu langweilig?
Jetzt sitze ich also hier und fühle mich zurück versetzt in die Mittelstufe, denn er hat es tatsächlich gewagt, mich zum Aufschreiben meiner Ergebnisse zu zwingen. Nur um mich zu nerven, soll ich mein bearbeitetes Skript bei der Heimleitung vorlegen und ich bin mir ziemlich sicher verarscht zu werden. Trotzdem mache ich mir ein paar Notizen, nur um etwas Festes in der Hand zu haben, sobald Gaby ihre Schicht antritt. Im gesamten Team scheint sie die einzig vernünftige zu sein, weshalb ich es überhaupt nicht einsehe, Felix als mehr, als einen hirnlosen Proleten zu betrachten. Insgeheim hege ich die Hoffnung, dass sich die quirlige Dame meiner annimmt und mich vor noch mehr sinnlosen Kram rettet.
Dieses Praktikum war sicherlich nicht mein Wunsch und zu meinem Traumberuf wird sich die Altenpflege ganz bestimmt nicht entwickeln aber ich sehe es absolut nicht ein, drei Monate nur irgendwelchen Quatsch erledigen zu müssen, ohne wirklich was zu erleben. Dafür habe ich viel zu viel zurückgelassen.
„Während bei Diabetes Typ I die Bauchspeicheldrüse kein Insulin produziert, wird beim Diabetes Typ II Insulin zwar produziert, jedoch sind die Körperzellen für Insulin vermehrt unempfindlich", nuschle ich während dem Schreiben. Auch, wenn ich mir diesen Tick immer abgewöhnen wollte, habe ich es bisher nicht geschafft. Bevor ich etwas aufschreibe, muss ich es hören: „In beiden Fällen kann der Zucker nicht mehr in die Körperzellen aufgenommen werden und der Zuckerspiegel im Blut steigt." Mehr schreibe ich mir zu seiner doofen Frage nicht auf. Zur Not könnte ich auch so erklären, dass dieses die Aufnahme von Glucose aus den Blutbahnen in die Zellen fördern soll, wo der Zucker zur Energiegewinnung dient. Warum genau die chemischen Teile des Biologie-Unterrichts bei mir hängen geblieben sind, kann ich aber leider bis heute nicht erklären. Vermutlich liegt es einfach daran, dass im Chemie Unterricht immer die klitzekleine Chance bestand, dass es knallt oder leuchtet und somit blieb die Spannung ein bisschen erhalten. Im Gegensatz zu Biologie. Liebe machen führt zu Kindern und Kinder zu Stress, mehr muss man doch nun wirklich nicht wissen.
Und weil dieser Insulin - Quatsch, genau wie der typische Ablauf einer Pflegekraft, mich so gar nicht interessieren, lasse ich nebenbei das Radio laufen und höre den Menschen vom RBB Fritz zu, wie sie von 11.400 Fällen berichten, in denen Kammerjäger wegen Ratten in Berliner Straßen ausrücken durften.
Der Spannungsbogen meines Vormittags hat also die Geradengleichung m=0.
Und ich hasse mich selbst dafür, dass ausgerechnet dieser Mathe - Witz von Ricci in meinem Gedächtnis geblieben ist. Wie man sich so sehr für Zahlen begeistern kann, ist mir ein Rätsel.
Aber egal, wie weit ich gedanklich abschweife, es lässt die Zeit nicht schneller voranschreiten und es treibt mich in den Wahnsinn.
Irgendwann schmeiße ich den Kugelschreiber einfach frustriert gegen die Wand und raufe mir die Haare. Das Gespräch mit meiner Mutter geht mir irgendwie nicht aus dem Kopf, genau wie das dumpfe Gefühl, dass auch der Trick nichts nützen wird. Tommi wird den Brief sicherlich nicht öffnen. Diese ganzen verschiedenen Gefühle, gepaart mit dem frustrierenden Morgen lassen mich meinen Kopf einfach auf die Tischplatte fallen lassen. Ich muss endlich meinen Scheiß regeln.
Also tue ich das erste, was mir in den Sinn kommt und suche Dr. Stahl auf. Er ist schließlich einfacher aufzufinden, als seine Frau und ich hoffe wirklich, dass er ein paar Minuten frei räumen kann, um mir mit dem Antrag für ein Zimmer zu helfen. Wenn ich noch länger bei Sebastian und Guido bleibe, werde ich sicher durchdrehen. Ihr Ordnungs-Fimmel ist unerträglich.
„Dr. Stahl!" rufe ich, als ich ihn nach einer ewig langen Suche endlich in der Nähe des Treppenhauses stehen sehe. Mit freundlicher Miene spricht er mit Al, der ihm gebannt zu hört. Es erfüllt mich irgendwie mit wohliger Wärme den alten Herren so friedlich lächeln zu sehen. Manchmal scheint er einfach nur ein offenes Ohr zu brauchen und ich habe mir vorgenommen, ihm zu meiner morgigen Schicht eine Kleinigkeit mitzubringen. Ob es ein Stückchen Schokolade oder ein einfacher Kaffee wird, weiß ich selbst noch nicht, doch mir fällt auf dem Heimweg sicher noch etwas ein.
Bevor ich aber die Chance habe, mich mit Dr. Stahl zu unterhalten, bleibe ich stehen. Zu interessant ist das Gespräch, welches ich zufällig belauschen kann.
Felix scheint ein noch größerer Vollidiot zu sein, als ich zuerst gedacht habe. Das Mädchen, in dessen Armen er hier liegt, ist definitiv nicht die Barbie von heute Morgen, die er beinahe auf der Motorhaube genagelt hätte. Dass er mit der jungen Dame hier viel, viel zärtlicher umgeht, macht das Ganze nicht unbedingt besser. Und auch, wenn es völlig irrelevant ist, ist mir dieses kleine Dummchen hier wesentlich sympathischer, als Ms. Perfect. Ihr Shirt hat Löcher, ob es beabsichtigt ist, weiß ich nicht; ihre Haare liegen alles aber nicht perfekt und auch die zwei unterschiedlichen Chucks, die sie trägt, haben irgendwie einen gewissen Charme. Trotzdem tut sie mir Leid, denn sie wird offensichtlich verarscht.
Das soll aber nicht mein Problem sein, schließlich möchte ich mich näher informieren, was es mit dem Zimmer auf sich hat, welches mir an meinem ersten Tag angeboten wurde. Wenn ich mich endlich sortieren will, dann muss ich ausziehen. Sonst werde ich wahnsinnig.
Zu meinem Gespräch mit Dr. Stahl soll es aber nicht kommen, zumindest noch nicht jetzt.
Meine eigene Dummheit kommt mir dazwischen. Wie sich herausstellt bin ich nicht multitaskingfähig, was zur Folge hat, dass ich Felix und seine Freundin/Affäre angestarrte, während ich nachgedacht habe. Einzig der Sabberfaden im Gesicht fehlt mir, um meinen ersten Eindruck abzurunden.
„Haste zu viel am Putzmittel jeschnüffelt oder wat is' los?" fragt er abwertend, nimmt seine Hand aber nicht von der Hüfte des jungen Mädchens, welches schätzungsweise in meinem Alter ist.
Ich hätte jetzt sicher ganz cool reagieren können, ihm einen der Sprüche drücken können, die mir gestern vorm Einschlafen eingefallen waren.
Spoiler Alert: Habe ich nicht.
Stattdessen blinzle ich geistesabwesend und sage ganz cool, mindestens eine Oktave zu hoch: „Äh nein? Ich warte auf Dr. Stahl."
Trotz meiner furchtbaren Blamage, ist das Schicksal auf meiner Seite, denn das hübsche Mädchen öffnet ihren Mund: „Und ich auf den Autoschlüssel, Foxi. Also rück' raus. Ulli wird sonst sauer und das wollen wir beide nicht." In diesem Moment hätte ich unwahrscheinlich gerne einfach mein Handy gezückt und Fotos gemacht. Aus jedem möglichen Winkel.
Felix' Visage ist ein Bild für die Götter und ich kann nicht anders, als zu lachen. Nicht laut, nicht lange aber ich tue es, denn es ist einfach unbezahlbar, wie sehr er sich für diesen Spitznamen schämt. So schnell wird er diesen Moment nicht vergessen, dafür werde ich schon sorgen!
Mich beachtet er nicht, stattdessen zückt er ein klimperndes Schlüsselbund aus seiner weißen Hose und reicht es dem Mädchen. „Nele, noch ein Wort und ich bringe dich um", zischt er leise aber nicht leise genug. „Mein Gott, entspann dich mal", antwortet diese Nele völlig gelassen, winkt mir beiläufig zu und macht auf dem Absatz kehrt.
„Hast du nichts Besseres zu tun, Tabea?" zischt er wieder. Dieses Mal nicht leise, sondern ziemlich sauer. Glaubt er wirklich, es würde mich ärgern, dass er den Namen für mich benutzt, den Albert mir verpasst hat? Warum er so angepisst ist, verstehe ich gar nicht. Dabei habe ich keinen peinlichen Kosenamen ausgepackt, sondern lediglich gefragt ob Foxi nicht eine andere Aufgabe für mich hat, jetzt wo ich eines seiner Geheimnisse kenne.
Zu einer Eskalation kann es aber nicht kommen, denn auch, wenn mir Felix eindeutig einen Schritt zu nahekommt, während er versucht mich böse nieder zu starren, ist das Glück auf meiner Seite.
Bevor er Mist bauen, mich bestrafen oder gar völlig an die Decke gehen kann, wird er abgelenkt. „Jo, Dicker, ick bin da." Ein weiterer Bilderbuch-Proll tritt aus dem Fahrstuhl, direkt neben dem Treppenhaus und bietet mir den idealen Moment, mich zu verkrümeln und meine Mittagspause kurzerhand ein wenig vorzuziehen. Bei einem kurzen Blick auf Felix' sündhaft teure Uhr stellte ich nämlich fest, dass ich ohnehin nur noch zehn Minuten warten müsste, bis ich offiziell für eine Stunde in die Freiheit entlassen werden kann. Somit beschließe ich, ein letztes Mal Lotte zu schreiben, um unser Telefondate abzuklären.
Vorher schnappe ich mir meine Jacke aus dem Personalraum und nutze die Feuertreppe am anderen Ende von Felix' Standpunkt um mich zu verpissen.
Wie jeden Mittag führt mich mein erster Gang zu dem kleinen türkischen Café auf der gegenüber liegenden Seite. Wann ich jemals in meinem Leben einen so guten Latte Macchiato getrunken habe, weiß ich nicht. Doch alleine der Klang der Siebträgermaschine lässt mein Herz höher schlagen. Der Schaum steht perfekt, der Kaffee ist nicht zu heiß, wird nicht schnell kalt; kurz um – ich bin im Himmel! Mit jedem Schluck ein Stückchen mehr.
Typisch deutsch atme ich genießerisch aus, sobald der erste Tropfen meinen Hals hinab rinnt und ich schließe die Augen einen Moment.
Die Sonne brennt noch immer vom Himmel und das einzige, was ich in dieser Sekunde vermisse, ist der Geruch von Heu, Gras oder irgendetwas anderem, als überhitztem Asphalt.
Genau in diesem Moment realisiere ich, woher meine schlechte Laune wirklich kommt. Also abgesehen von Felix' hässlicher Art, dem stetigen Gemecker meines Onkels, Sebastians Pingeligkeit oder der täglichen Realisation, dass Beton echt nicht mein Ding ist. Ich realisiere, was mir wirklich fehlt: Der Geruch von Wiese und der Rücken meines Pferdes.
Berlin hat laut sämtlichen Erzählungen und den Reiseführern, die ich in einem schwachen Moment durch geblättert habe, wohl unglaublich viele Dinge zu bieten. Wie schwer wird es also sein einen Reiterstall oder zumindest einen Park zu finden, indem ich nicht von einer Gruppe skurriler Gestalten nach Drogen gefragt werde oder Angst haben muss mit einem Messer im Rücken nach Hause zu laufen.
Bevor ich mir darüber aber weiter den Kopf zerbrechen kann, klingelt mein Handy und ich lasse das warm gemachte Sandwich, welches ich mir heute zusätzlich gekauft habe, neben mir auf der Parkbank liegen, ohne die Tüte richtig zu schließen.
»Hallo Tessa.« spricht meine beste Freundin leise in den Hörer und mir fällt ein wirklich großer Stein vom Herzen. Nicht nur, dass sie überhaupt mit mir redet, nein, Lotte benutzt auch noch meinen Spitznamen und diese Kombination ist ein wirklich gutes Zeichen. Deshalb beginne ich unser Telefonat auch mit einer ausschweifenden Entschuldigung, nicht realisierend, dass auch ihre ersten Worte ein ‚Es tut mir Leid' sind. So absurd und eigentlich witzig die Situation auch ist, nach ihrer Erklärung wünsche ich mir nichts lieber, als mich sofort in einen Zug nach Marburg zu setzen.
»Ich hatte einfach Angst, dass wieder so eine Emil Kacke bei rumkommt.« Zum Ende des Satzes wird sie immer leiser. Mir bricht es das Herz, denn diese Emil-Kacke, war zum Teil meine Schuld. Meine Absicht war es, ihn auszuhorchen, eine Art Background-Check durchzuführen, worum sie mich gebeten hat, um heraus zu finden, ob er gut genug für meine beste Freundin ist. Getarnt haben wir das Ganze als Deutsch-Nachhilfe, damit er in seinem Grundkurs nicht abschmiert. Dass ich herausfinden würde, dass er nebenbei mit Emily aus dem Chemie LK schrieb, konnte ich nicht ahnen. Dumm, wie ich wahr hatte ich es Lotte direkt erzählt und sie war die Decke hochgegangen. Was wiederum dazu führte, dass Emil ihren guten Ruf zunichtemachte machte, in dem er behauptete Lotte gäbe die schlechtesten Blowjobs der Geschichte. Bilder machten die Runde.
Alles in allem war es völlig bescheuertes High – School – Film – Drama. Drama, welches ihr das Herz brach.
Und ich schien sie irgendwie daran erinnert zu haben.
Statt aber an diesem Mist hängen zu bleiben, schaffe ich es auf mehr oder weniger brillante Weise sie abzulenken. Ich berichte einfach von meinem Felix – Drama und amüsiere sie damit blendend.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man glatt meinen, du stehst auf ihn. Was sich liebt das neckt sich.« Verführerisch zwinkert sie mich zu und ich hasse mich dafür, dass wir inzwischen zu Face Time gewechselt haben. Hätte ich es mal lieber nicht vorgeschlagen, jetzt möchte ich nur noch reiern. Alleine der Gedanke daran treibt mir die Galle hoch. „Muskeln sind nicht alles, meine Liebe", antworte ich also und ernte einen vielsagenden Blick. »Du hast ihn also abgecheckt, alles klar.«
„Also jetzt ist mir wirklich schlecht", brabble ich mit vollem Mund und tue, als würde ich die letzten Bissen meines Sandwiches ausspucken. „Das waren nur sehr, sehr unglückliche Zufälle."
»Hm. Ist klar.« Ist alles, was sie antwortet. Bah.
Zum wiederholten Mal ist das Glück an diesem Tag auf meiner Seite und ich bin froh, dass sich mein Handywecker meldet. In fünf Minuten ist meine Pause rum und genau das erzähle ich Lotte, um mich so aus diesem unangenehmen Gespräch verziehen zu können. Ob sie es mir glaubt oder nicht, bleibt ihr Geheimnis. Aber immerhin macht sie gleich ein neues Telefondate aus, erinnert mich daran mein Handy aufzuladen und verabschiedet sich wesentlich glücklicher, als bei unserem letzten Telefonat. Dummerweise fällt mir erst viel zu spät ein, dass ich nun immer noch nichts über ihren neuen Typen weiß, nehme mir aber vor, dass am Freitag bei unserem nächsten Date nachzuholen.
Ein letztes Mal atme ich tief ein und genieße die Sonne in meinem Gesicht, bevor ich das Heim wieder betrete. Nach der kurzen Zeit draußen, ist mein Bock-Level ins unterirdische gesunken. Ich möchte wirklich, wirklich einfach nach Hause und deshalb vermeide ich den Blick auf die Uhr.
Die freundliche Begrüßung durch Fr. Kaltenbach und Hr. Cobalt nehmen mir meine Unlust ein wenig. „Hallo Tabea, schön dich mal wieder zu sehen", spricht Al freundlich und zieht wortwörtlich seinen Hut, während Frau Kaltenbach ihn nur Augenrollend dabei anschaut. „Grüß dich, Kindchen. Wie geht's dir?" fragt sie, den alten Herren ignorierend, wartet aber keine Antwort meinerseits ab. „Kannst du mir vielleicht noch mal einen Tee bringen und das Memory-Spiel gleich mit?"
Ich kann es mir nicht verkneifen ein wenig scharf zu lachen. „Meinen Sie nicht, dass das ein bisschen gemein ist, gerade gegen Al Memory zu spielen?" „Ach warum? Das ist gut für mein Selbstwertgefühl", zwinkert sie frech und scheucht mich los. Auch, wenn ich nicht weiß, was so toll daran ist, gegen einen schwer dementen Patienten Memory zu spielen, erledige ich die Aufgabe. Alles ist besser, als der Theorie-Scheiß.
Leider komme ich auch nicht dazu.
Der Gang zum Gemeinschaftsraum ist lang, viele Türen, viele Nischen. Kurz um: Perfekte Versteck-Orte, die mich glauben, den Verstand zu verlieren. Ständig habe ich entweder das Gefühl beobachtet zu werden, oder etwas im Haar zu haben. Nur verstehe ich nicht, was vor sich geht, schüttle den Kopf und versuche in dem großen Regal, das kleine Kartenspiel zu finden. So lange, bis ich kichern vernehme.
„Perle, kann et sein, dass du da wat im Haar hast?" fragt der komische Proll, der zu Beginn meiner Pause zu Felix kam. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht", keife ich zurück und versuche zu ignorieren, wie nah er mir kommt. Dummerweise ist er um einiges Größer, als ich und somit ist es ein leichtes für ihn, mir zuvor zu kommen.
Mit dem Rücken steht er am Regal, grinst mich frech an und macht keine Anstalten mir das blöde Spiel einfach zu geben, egal, wie genervt ich ihn ansehe. Seine Arme bleiben hinter dem Rücken verschränkt, das überlegene Grinsen auf seine Lippen getackert und meine Laune unterirdisch. „Gib doch einfach das blöde Ding her", zicke ich schließlich, kurz davor ihn zu treten. Zu Tode genervt mache ich einen großen Schritt auf ihn zu und werde dabei aus dem Nichts in seine Richtung geschubst. Leider ist der dunkelhaarige Mann nicht nur um einiges größer als ich, sondern auch deutlich schneller. Das Ende vom Lied? Meine Stirn prallt gegen einen Regalboden und Felix amüsiert sich prächtig.
„Du beschissener Vollidiot", fluche ich und bin wirklich versucht, ihn einfach zu boxen. Aber es ist wohl besser, ich verkrümle mich einfach und bringe Fr. Kaltenbach einfach ihr blödes Spiel. Schließlich hat sich Felix Kumpel so wunderbar gekrümmt vor Lachen, dass ich ihm das Ding aus der Hand nehmen konnte.
Doch es ist egal, was ich an diesem Nachmittag mache, die beiden Proleten sind überall. Ich leide inzwischen an heftigem Verfolgungswahn, nachdem Frischkäse in meinem Kaffee gelandet ist, Brandlöcher von Zigaretten in meinem Arbeitsshirt und kleine Farbkügelchen in meinen Haaren. Ich warte nur drauf, ein Körperteil zu verlieren oder von einem Klavier erschlagen zu werden. Wie alt sind die zwei bitte? 13?
Denn auch, wenn sich Gaby tatsächlich meiner annimmt und mich beim Zuckermessen vereinzelter Patienten eben so zu schauen lässt, wie beim Waschen jener, die mich nicht hassen, Felix und Amir finden einen weg, mich zu drangsalieren und es treibt mich in den Wahnsinn.
Dass meine Grundschulzeit genau so abgelaufen ist, wie dieser Arbeitstag können sie nicht wissen, doch es reißt alte Wunden auf. Und das nervt mich noch viel, viel mehr.
Ich finde meinen Kugelschreiber nicht mehr, die Bücher sind weg und auch Portemonnaie. Mein Handy habe ich in eine Tüte eingepackt im Spülkasten des Herrenklos gefunden und auch meine Tampons, die sie schrecklich erwachsen kichernd nach mir geworfen haben, habe ich zum Nachmittag hin alle wieder eingesammelt und entsorgt. Was die beiden in den Fingern hatten, würde ich sicherlich nicht Untenrum benutzen.
Egal, wie sehr ich versuche ihnen aus dem Weg zu gehen, die beiden scheinen mich immer wieder zu finden, doch das Fass läuft über, als im Gemeinschaftsraum bin, Teegeschirr einsammle und anschließend anfange Tische, Stühle und Fensterbänke abzuwischen.
Zuerst fliegen nur Papierkügelchen – nichts, was man nicht einsaugen kann – doch mein Siedepunkt ist erreicht, als ich feststelle, dass sie nicht nur mein Handy versteckt haben. Ich brauche dringend einen Sicherungscode!
„Und Püppi, wer fickt wen?" fragt Amir genüsslich Papierflieger bastelnd. Ich will ihn wirklich ignorieren. Tue es aber nicht. „Was willst du?"
„Na, wer ist der Arschficker? Sebastian oder Guido?" beantwortet Felix meine Frage, die ich eigentlich seinem zurückgebliebenen Freund gestellt habe.
Beide grinsen sich nur vielsagend an, bevor sie anfangen mich dreckig auszulachen. Meine Leitung ist lang, es dauert, bis ich realisiere, was es zu bedeuten hat. „Ihr wart an meinem Handy?!" Panisch zücke ich das Gerät, stelle nicht nur fest, dass es bereits im automatischen Stromsparmodus ist, sondern auch, dass ich nun einen Sicherungscode habe. Eine Zahlenfolge, die ich nicht kenne und egal, was ich versuche, mein Handy lässt sich nicht entsperren. „Seid ihr völlig bescheuert?"
„Das is Ansichtssache, Schnegge", Amir grinst dreckig, wirft mir erst einen Kussmund und dann den Flieger zu. Mitten ins Gesicht.
„Gib mir sofort den Code, du Arsch!" verlange ich und werfe den Lappen in seine Richtung. Allerdings nur in seine Richtung, denn ich kann nicht einmal halb so gut zielen, wie er.
„Hm, ich denke nicht", antwortet Felix wieder und langsam raste ich wirklich aus.
„Ist dein behindert Freund zu dumm, um selber zu antworten oder was mischt du dich schon wieder ein?"
Eigentlich bin ich ziemlich Stolz auf meinen Konter und insgeheim möchte ich mir auf die Schulter klopfen. Nur bedenke ich nicht, wie flink Amir ist.
Mit einem unglaublich schnellen Sprung seinerseits stehe er vor mir und drängt mich gegen die Wand, seine Hände stemmen sich neben meinem Kopf ab und ich warte praktisch nur darauf, seine Faust im Gesicht zu haben. Stocksauer starrt er mich nieder, die Ader an seinem Hals pocht gefährlich und noch bevor er irgendetwas sagen kann, kicken meine Instinkte. Oder viel mehr mein Knie. In seinen Schritt.
Vor Schmerzen jammernd geht er zu Boden und ich tue das einzig richtige.
Noch im Laufen werfe ich den Eimer Putzwasser um, treffe glücklicherweise Felix, der seinem Kumpel zu Hilfe geeilt kam und renne das Treppenhaus nach unten.
Zwar höre ich, wie Felix mir irgendetwas aus dem Fenster, aus welchem ich ihn am Morgen noch beobachtet habe, zuruft, verstehe es jedoch nicht. Gerade habe ich einfach nur wirklich Angst, dass er mir folgen wird.
Ich fühle mich mit einem Male in die Grundschule zurück versetzt, mein Herz pocht und mein Atem rast, während ich einfach laufe.
Es ist so schrecklich bescheuert aber ich habe wirklich einfach nur Angst.
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