Kapitel 37 ↬ Wünsch dir was
Zu behaupten, ich wäre nervös, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Zeitgleich zu meinem Stolpern in Neles Zimmer, rutscht mir das Herz in die Hose und jedes geglaubte Fünkchen Mut verabschiedet sich. Hasstiraden und Krätze-Wünsche gegenüber den Jungs fliegen durch mein Unterbewusstsein.
Es ist mein Glück, dass Neles Ohren von dicken, schwarzen Kopfhörern abgeschirmt werden. Gedämpfte Musik dröhnt mir entgegen und aufgrund der zahlreichen Schlagzeuge und Gitarren verstehe ich kein einziges Wort, was ihr dort regelrecht entgegen geschrien wird.
Für einen Moment überlege ich, mich einfach sang und klanglos zu verkrümeln, doch noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, dreht sie sich um. Den Ausdruck in ihrem Gesicht kann ich nicht definieren, die Stille im Raum allerdings schon. Ein einziges Wort kommt mir in den Sinn und es trifft den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf: Unangenehm.
Niemand scheint zu wissen, was nun zu tun oder zu sagen ist und so stehen wir einfach dort, als hätten wir spontan Wurzeln geschlagen und sehen uns an.
Nele ist schließlich die erste, die wieder in dieser Dimension anzukommen scheint. Sie räuspert sich, geht ihre drei Schritte auf mich zu und nimmt mich einfach in den Arm. Ihre Haare kitzeln mich an der Wange und während ich einfach wie eine Säule dort stehe und mich nicht rühre, liegt ihr Kopf auf meiner Schulter und ich höre sie seufzen. „Es tut mir so Leid, Thea!" Meinen Trotzkopf in Zaum zu halten, ist deutlich schwerer, als es bei meinem Hengst je gewesen ist. Es erfordert eine ganze Menge Selbstbeherrschung und das ständige Mantra: Ich brauche ihre Hilfe.
„Ich weiß. Mir auch", presse ich schließlich hervor und würde mir am liebsten stolz auf die Schulter klopfen. Ich kann mich gerade noch zurück halten. Vielleicht ist es kindisch, wie ich mich verhalte. Vielleicht ist es sogar ein klitzekleines bisschen gerechtfertigt, ich weiß es nicht. Eigentlich weiß ich gar nichts mehr. Nur kocht mein Blut und ich muss mich selbst zwingen, nicht überzukochen.
Irgendwann lässt sie mich schließlich los und schenkt mir ein knappes Lächeln bevor sie auf das Bett deutet.
Zögernd folge ich der Einladung und lasse mich ans Fußende des kleinen Bettes fallen. Mein Blick streift durch das wohlorganisierte Chaos. Weiße Wände, geschmückt von zahlreichen Fotografien. Ich erkenne Sehenswürdigkeiten rund um die Stadt, zwischendrin finde ich Felix' breites Grinsen und sogar ein Bild von Malte. Ein älterer Mann strahlt mir auf dem nächsten entgegen und zwischen all der Farbe findet sich ein kleines schwarzweiß Bild. Die Ränder sind verknickt, teils eingerissen und auch sonst wirkt das Foto ziemlich mitgenommen. Eine junge Frau schaukelt ausgelassen, neben an ein junger Mann, der sie verstohlen anlächelt. In meiner Brust bildet sich ein Gefühl von Schwere, zu sehr erinnert es mich an ein Fotoalbum im Schrank meiner Eltern. Nur selten konnte ich mir die Fotos ansehen, jedes Mal, wenn ich darüber brütete, musste ich aufpassen nicht erwischt zu werden. Andernfalls hätte mein Hintern Kirmes gehabt.
„Oma und Opa", sagt Nele schließlich und muss sich räuspern. „Magst du auch was trinken?" Im Schneidersitz sitzend beugt sie sich nach vorne in Richtung Nachttisch und öffnet ein kleines Schränkchen. Ich muss auflachen, als ich es erkenne. „Du hast einen Minikühlschrank neben dem Bett?"
„Sicher, magst du auch eine Milchschnitte?" fragt sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Wenn ich den nicht hätte, könnte ich den ganzen Schätzen hier schon nach dem Einkaufen auf Wiedersehen sagen." Mit schnellen Handgriffen hat sie ein Dose voller Süßkram parat und kippt den Inhalt vor uns aus. „Uh, Happy Hippo", sage ich und schnappe nach dem Riegel.
Noch während wir darüber sinnieren, welche Süßigkeiten es früher so zum Naschen gab, wie vollgestopft Omas Wohnzimmerschrank gerne mal war und wie unsagbar ekelhaft Gummibärchen-Schlümpfe doch waren, fällt mir auf: Das Eis zu brechen war wirklich einfach. Uns war gar nicht bewusst, wie viel wir plapperten, wir taten es einfach.
Diese Erkenntnis lässt mich schmunzeln und das selige Lächeln meinerseits bleibt nicht unbemerkt. Dummerweise lässt es aber nicht nur meine Blase platzen, es holt auch Nele wieder in die Realität zurück. Peinlich berührt räuspert sie sich zum x-ten Mal an diesem Nachmittag.
Etwas ungelenk versucht sie sich zurück an die Bettlehne zu setzen und reicht mir eine der Capri-Sonne-Päckchen, die sie vorher noch aus der letzten Ecke des Nachttischchens gezaubert hat. Mit feuchten Händen greife ich nach einer weiteren Kindheitserinnerung und pfriemle an dem Plastikstrohhalm solange herum, bis ich das Teil nicht nur durch die vorgesehene Öffnung, sondern auch astrein durch die Rückseite des Trinkpäckchens gepikst habe. Die Limonade fließt direkt über meine Finger und saut mir nicht nur das Oberteil ein. Ich sehe aus, als hätte ich meine Blase nicht unter Kontrolle aber zumindest Neles Bett bleibt verschont.
Die kleine, ungewollte Auflockerung der Stimmung nutze ich als Anstoß. Noch während ich versuche mir mit Taschentüchern Schritt und T-Shirt ein bisschen abzutrocknen, sage ich, was mir auf dem Herzen liegt - Bevor die Nervosität noch mehr Besitz ergreifen kann.
„Okay, pass auf. Es tut mir Leid, ich habe-" „Ach, alles halb so wild, das passiert den Besten", unterbricht mich Nele und lächelt. Sie tut es irgendwie nicht so richtig ehrlich, es verunsichert mich und ich schüttle vehement den Kopf. „Das meine ich nicht." Die Papiertücher in den Mülleimer werfend, beginne ich damit mir Wörter zurecht zu legen, von denen ich nicht weiß, ob ich sie wirklich ernst meine. „Ich habe völlig über reagiert. Es ist nur ein dämlicher Zettel, den ich schon längst gelesen haben sollte. Warum ich dich dafür jetzt so angefahren habe, weiß ich auch nicht" – Lüge. Den Grund kenne ich ziemlich gut. Ich will es bloß nicht zugeben.
Tief atme ich aus. „Ich weiß aber, dass ich es nicht alleine hinkriege." – Wahrheit.
„Ob ich dich lesen lassen kann, weiß ich auch nicht." Nele schweigt. Was sie denkt, kann ich mir nur ausmalen. Sie anzuschauen schaffe ich nicht, dafür sind die Rillen im dunkelbraunen Parkett viel zu interessant. „Kannst du mir trotzdem helfen, bitte? Wenn nicht, dann ist das okay. Vielleicht brauche ich einfach nur einen Schnaps oder zwei, dann-" „Ach sei leise, du Nuss", sagt Nele schließlich und lächelt mich endlich so an, wie ich es gewöhnt bin. Ein bisschen schief, mit Blick auf ihre Zähne und ehrlich. Ein Mount Everest großer Stein fällt mir vom Herzen. Zugeben würde ich auch das nicht.
An diesem Nachmittag lerne ich eine ganze Menge über Nele. Nicht nur ihre Leidenschaft für allerhand Süßkram und ihr abgrundtiefer Hass gegenüber Weingummis werden mir offenbart. Ich merke, wie nicht-nachtragend sie ist, wie schnell sie Schubladen einfach schließen und den mentalen Papierschredder anschalten kann. Es ist eine der vielen Fähigkeiten, um die ich sie beneide. Auf meine imaginäre Nele-Sachen-die-ich-auch-gern-hätte-Liste gesellt sich das gewisse Auge für Fotografien. Hätten die Jungs nicht irgendwann aus der Küche gerufen, hätte ich mich noch stundenlang in Neles Fotowand verkriechen können.
Besonders das ebenfalls abgegriffene Foto einer jungen Frau lässt mich nicht los. Sie sieht so schrecklich müde aus, lächelt dennoch in die Kamera während sie von einem kleinen Knirps erklommen wird. Die beiden sitzen auf einer Decke umrandet von Knöchelhohem Gras. Die dunkelblaue Latzhose des Jungen ist ihm viel zu groß, einer der Träger ist herunter gerutscht. Warum weiß ich nicht, doch je länger ich das Bild betrachtet habe, umso schwerer wurde es; es fühlte sich an, als hätte sich jemand auf meine Brust gesetzt. Nichtsdestotrotz ist es ein wunderschönes Foto. Auch, wenn mich das Gefühl nicht loslässt, dass ich die Augen des kleinen Mannes besser kenne.
„Mädels, dieser Mann hier ist eine absolute Behinderung, man möge ihn aus der Küche entfernen!" verkündet Nico lautstark, geschwitzt und gestresst. Das Küchentuch über die Schulter geworfen fuchtelt er wie wild mit seinem Holzlöffel und bietet ein köstliches Bild. Ich kann nicht anders, als ihn auszulachen. „Ignoriert diesen Mann, das Gejammer hier liegt nur an seinem italienischen Temperament", erklärt Konstantin und versucht wenig fachmännisch eine Karotte zu schnippeln. „Nelliiii", theatralisch wirft Nico den Kopf in den Nacken. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich ihm das Theater glatt abkaufen. Allerdings bin ich nicht die einzige, die den Armen ein bisschen auslacht und somit sehe ich lieber belustigt dabei zu, wie Konstantin die Karotte misshandelt und Nico weiter anstichelt. Ich mag definitiv keine Sterneköchin sein, ein bisschen Gemüse schnippeln werde ich aber wohl noch hinkriegen. Nico wird also endlich erlöst.
Somit wird Konstantin kurzerhand einfach von Nele an die Hand genommen und aus der Schusslinie entfernt. „Also Nico, wie hättest du es denn gerne?" frage ich ruhig, kann aber mein Grinsen nur wenig erfolgreich unterdrücken.
Während ich dem Halbitaliener, wie er noch einmal korrigiert, gespannt zu höre, schnippeln wir Zwiebeln, Knoblauch, Sellerie, neue Karotten und drei große Fleischtomaten mehr oder weniger fein. Das Rezept habe er von seiner Nonna und Konstantin wisse genau, wie sehr es ihm auf die Nerven falle, wenn er pfusche. Schwer vorstellbar.
Schließlich dauert es eine ganze Weile bis die Soße schließlich friedlich auf dem Herd vor sich hin köchelt. Wie lange, kann ich gar nicht genau sagen. Nico hat es ganz bestimmt erzählt. Gemerkt habe ich mir herzlich wenig von seinen tausenden Anweisungen und Anekdoten. Ich habe beschlossen, dass ich ihn mag. Allerdings dauerte es nicht lange, bis mir der Kopf qualmte.
In der Zwischenzeit, in der wir auf Soße und Pasta warten müssen, knurrt mir jedoch ordentlich der Magen und es fällt mir schwer mich vom Wohnzimmer nicht zurück in Richtung Neles Minikühlschrank zu schleichen. Geduld ist wirklich nicht meine Stärke.
Stattdessen lasse ich mich zwischen den Unruhestifter und meine Freundin auf die weiche Couch fallen. Wie nasse Säcke hängen wir einige Minuten einfach schweigend da, bis sich der Mann der Runde schwungvoll aufrichtet. „Ich habe eine Idee!", verkündet er in einem Ton, als habe er grade eine neue Spezies in Mitten des Amazonas entdeckt. „Och ne", zischt es darauf hin neben mir und mindestens genau so begeistert, wie Nele klingt, sieht Nico aus, als er am Arm ins Wohnzimmer geführt wird.
„Wartet hier!" Gespannt aber dennoch ein bisschen verwirrt schaue ich in die Runde, doch die zwei scheinen gedanklich schon einen Fluchtplan auszutüfteln und schenken mir daher keine Aufmerksamkeit. Nico lässt sich in den Sessel uns gegenüber fallen und faltet die Hände auf dem Schoss. Betet er?
Im Hopserlauf kommt Konstantin schließlich zurück ins Wohnzimmer und das kindliche Strahlen in seinem Gesicht vertreibt jeden negativen Gedanken. Stattdessen freue ich mich mit ihm, noch bevor ich weiß, was er vor hat.
„Spieleabend!" verkündet er schließlich stolz, ein bisschen zu laut aber glücklich und legt das Monopoly auf den Wohnzimmertisch. Nele und Nico scheinen von der Idee deutlich weniger angetan und als das Grinsen in dem Gesicht des niedlichen Riesen zu schwinden droht, sehe ich mich gezwungen ihm bei zu stehen. „Au ja, die Idee ist super!" Könnten Blicke töten, bräuchte Nele nun einen fantastischen Anwalt.
„Na was denn? Die Soße dauert noch gute drei Jahre, in der Zeit können wir auch ein bisschen spielen. Ich nehme den Reiter." „Wer hätt's gedacht", nuschelt Nele böse in ihren nicht vorhandenen Bart, ist aber eindeutig alles andere als das. Ihr Grinsen kann sie nur schwer unterdrücken.
Noch während er das Spielfeld auslegt, Karten und Figuren platziert, ändert sich die kindliche Miene des herzlichen Riesen in eine kühle Businessman-Variante. „Bevor wir hier eine völlig Fremde in die Kreise unserer"- „Mach mal halblang" fährt ihm Nico direkt dazwischen und ich weiß schon jetzt, der Halbitalienier ist ein furchtbarer Verlierer.
„Fahren Sie fort," bedeute ich Konstantin und lasse mich zu Nele auf den Boden vor der Couch fallen. Während sich Nico und Nele zeitgleich die flache Hand knallend gegen die Stirn donnern, beginnt Konstantin wieder zu grinsen. „Found my match, huh?" feixt er und ich nicke.
„Also, bevor wir hier eine völlig Fremde, aber doch ganz Coole in unsere Runde aufnehmen, sollten wir ein paar Regeln abklären. Wenn du über los kommst, gibt's nur 100€. Wir sind Studenten, wir müssen sparen." Mir ein Grinsen zu verkneifen fällt mir wirklich äußert schwer. Seine Tonlage ist derart überspitzt, er klingt, als wolle er mir einen Bausparvertrag aufschwatzen. „Des weiteren, Fräulein"- „Ziegler", kommt ihm Nele zu Hilfe. „Des weiteren, Fräulein Ziegler, Zahlen Sie der Bank den Hauspreis der Besitzrecht- karte und stellen Sie ein Haus auf die Straße. Sie müssen aber gleichmäßig bauen, d.h. es muss auf jeder Straße der Gruppe ein Haus stehen, bevor Sie auf einer der Straßen ein zweites Haus bauen. Auf jeder Straße dürfen höchstens 4 Häuser stehen. Verstanden?" Nein aber das wird sich doch sicher im Laufe des Abends ergeben, denke ich mir und nicke eifrig.
„Haben wir dann langsam mal genug gequatscht?" „Ich mag die Kleine", kommt es flink von Nico und obwohl Konstantin ein klein wenig beleidigt wirkt, weil ich seinem Regelvortrag ein frühzeitiges Ende setzen möchte, beginnt er grinsend die Würfel zu verteilen.
Der Hut und der Reiter finden ihren Weg an den Startpunkt, während die Jungs sich noch darüber streiten, wer von ihnen nun das Schiff nutzen darf, hören wir die Tür ins Schloss fallen. „Wohnzimmer", blökt Nele mit einem Mal und eine gertenschlanke, wunderschöne Frau streckt ihren Kopf durch die Tür. Was bitte ist mit Neles Umfeld los? Jeder Mensch scheint hier aus einem Katalog entsprungen zu sein. Und dann gibt es noch mich. Eine verdammte Kartoffel.
Ihre schokobraunen Haare sind zu einem hohen Zopf gebunden, der sich schwungvoll über ihre Schulter legt. Nicht einmal Augenringe sind in ihrem Gesicht zu erkennen. Pfui.
„Sagt mal, gibt's endlich was zu spachteln? Es ist Pasta-Tag, mir kracht der Magen, Nico."
Okay, vielleicht ist sie mir doch sympathisch. „Hey, ich bin Thea", rutscht es mir über die Lippen und ich bin nicht die einzige, die überrascht ist. Ich und der erste Schritt? Seltsam. „Hey, ich bin Sina und brauche dringend eine Dusche." Gegensätzlich zu ihrer Aussage macht sie drei große Schritte in unsere Richtung und nimmt den zankenden Jungs flink das Schiff ab. „Und das hier, nehme ich. Sucht euch was anderes aus, Boys." Nele und mir zwinkert sie flink zu. Bevor die nächste Tür ins Schloss fällt, ruft sie durch den Flur: „Mach schon mal das Knoblauchbrot fertig, mein Hase."
„Tja. Und das war Konsti's reizende Cousine, Sina Kowalczyk", flötet Nico süßlich, während der angesprochen vermutlich nicht nur wegen des Spitznamens die Augen rollt. „Alles klar", antworte ich nur tief durchatmend. Das kann was werden.
„Ey, wir haben nur ein bisschen Brot gegessen und schon fängst du an zu schummeln" – „Überhaupt nicht! Nele, sag was"- „Jetzt hol dir doch nicht wieder Verstärkung, du kleines Mama-Söhnchen" – „Ey, lass meine Mama da raus" – „Baby, baby- Aua!" –„Du hast doch angefangen!"
„Himmel nochmal", seufzt Nele und schließt die Balkontür hinter sich. Mittlerweile dämmert es nicht nur draußen. Auch im Wohnzimmer wird es immer finsterer.
Inzwischen habe ich nicht nur den Rest der WG – Birte und Dorothea – kennengelernt, nein. Auch die, nennen wir es eher komplizierten Eigenschaften der Jungs kommen langsam zum Vorschein. Während die Streithähne drinnen versuchen sich nicht das Spielfeld gegenseitig um die Ohren zu hauen, sitze ich mit den Mädels draußen und wir teilen eher umständlich eine Zigarette.
„Eigentlich rauche ich gar nicht", lässt Dorothea leise verlauten und nimmt einen Zug. „Ach, erzähl nicht", winkte Birte unterdessen trocken ab und klaut ihr den Glimmstängel. „Wenn ich gewusst hätte, dass das hier eine längere Aktion wird, hätte ich nochmal Zigaretten geholt", werfe ich entschuldigend in die Runde, doch Sina kommt mir direkt zuvor. „Ach Quatsch. Sobald die Affen da drinnen fertig sind, schicken wir den Verlierer kurz zum Späti." „Uh, die Idee gefällt mir." „Ja, aber was-"
Still verfolge ich die Diskussion, die daraus entfacht und beobachte einfach, wie sich die jungen Frauen ebenfalls anfangen zu streiten. Deutlich ruhiger und gesitteter, als die Herren der Schöpfung geht es dennoch zu. Das Ende vom Lied: Sie sind sich einig, niemand der Sturköpfe wird nachgeben.
„Ich habe eine Idee", verkündet Sina schließlich und drückt mir den Rest meiner Zigarette in die Hand. Mit ihrem Becher, in dem sich nur noch ein kleiner Rest ihres Cocktails und dafür eine große Menge an Crushed Ice befindet, geht sie zurück in die Wohnung.
Zuerst trifft es Nico, danach kippt sie auch Konstantin etwas Eis den Rücken hinab. Beide kreischen deutlich höher als erwartet auf und knallen ihr sämtliche Schimpfwörter an den Kopf, die ihnen in dem Moment einfallen. Während wir vier das Spektakel durch die Scheibe beobachten, klärt Sina selbstbewusst den unnötigen Disput. „So und zur Strafe drückt jeder von euch einen 50er an uns ab, Nico besorgt Chips im Späti und Konsti kauft Kippen. Klar?" „Aber"- versucht es der Riese und ist durch nur einen mahnenden Blick der Powerfrau vor seiner Nase, mit einmal Male winzig klein mit Hut. Wenn auch nicht ganz freiwillig aber dennoch zackig rücken die Jungs einen lilafarbenen Schein für jede von uns heraus. Ob das im echten Leben auch so einfach ist?
„Ich liebe sie", verkündet Nele trocken und tritt ins Zimmer, sobald die Jungs geknickt davon getrottet sind. „Und ich habe Nele schon für eine Furie gehalten", sage ich eine Spur lauter, als geplant. „Samma!" faucht diese direkt und stemmt die Hände empört in die Hüfte. Dem Rest der Runde gefällt mein Kommentar da schon deutlich besser.
Zufrieden mit ihrer Aktion lässt sich Sina schließlich auf die Couch fallen und schaut einmal durch die Runde. „Also wenn ich ehrlich bin, habe ich gar keine Lust mehr zu spielen. Ich hätte da eine bessere Idee." Anzüglich beginnt sie mit den Augenbrauen zu wackeln. Eine Aktion, die Birte und Dorothea dazu veranlasst genervt aufzuseufzen. „Ne Freunde, ich schreibe Morgen Klausur", verkündet letztere und auch Birte steht geschwind auf. „Gute Nacht", flöten beide und erwecken den Eindruck, als würden sie flüchten. Sollte ich Angst haben?
„Spielverderber", kommentiert Nele die Situation nur trocken, rutscht an Sina heran und zwinkert mir zu. „Merke dir eins Thea: Sina hat immer die besten Idee." Simultan nicken sie. Meine Angst steigt.
Und keine fünfzehn Minuten später wird meine Angst bestätigt. Irgendwie zumindest. Die Jungs sind wieder da und Nico hat sich wirklich nicht lumpen lassen. Zwei Flaschen Wein, rot und weiß, stehen auf dem kleinen runden Tisch, im Kühlschrank hat er zwei 6er Träger Mischbier platziert und der Vodka liegt im Gefrierfach. Mich auszuknipsen war nicht mein Plan gewesen aber vielleicht ist es genau das, was ich brauche?
Ein junger Mann rappt und singt abwechselnd auf deutsch aus den Lautsprecher, es wird sich angeregt unterhalten und während die vier Menschen vor meiner Nase den Abend entspannt ausklingen lassen, erwische ich mich dabei, wie ich gedanklich immer wieder zu dem Zettel in meiner Hosentasche wandere.
„Lass mich mal ziehen bitte", sage ich schließlich an Sina gewandt. Ihre schokobraunen Augen sind rot unterlaufen. Es ist das selig ruhige, entspannte Lächeln auf ihren Lippen, das mich überzeugt hat. „Bist du dir sicher?" fragt Nele, deutlich ernster und ruhiger, als ich es bisher gewohnt bin. „Du musst nicht", schiebt Sina hinterher. Es ist süß von ihnen, ehrlich.
Aber wenn ich die volle Erfahrung mitnehmen will, dann gehört sowas doch auch dazu und es ist ja nicht so, als würde ich mir auf der Toilette mal eben eine Spritze setzen. Halb so wild alles.
Zögernd reicht mir die brünette Mediendesign-Studentin den Joint. Es überrascht mich, als ich den Rauch einatme. Der leicht süßlich Geruch stimmt mit dem Geschmack überein. Ich bin definitiv keine Feinschmeckerin, aber ich habe das Gefühl, als würde mich etwas erdig, fruchtiges erfüllen. Seltsam. Ich habe keine Ahnung, wie sich sowas auswirkt und ich weiß auch nicht, was ich erwartet habe. Nach dem ersten Zug kann man eigentlich noch gar nichts merken und so inhaliere ich noch zwei weitere Male. Ein bisschen zu tief, wie ich schnell feststelle. Hustend reiche ich den Joint weiter und treffe auf besorgte dunkle Augen. Trotz der Dunkelheit sehe ich das Funkeln. Es sieht schön aus und so schenke ich Nico ein Lächeln, bevor ich mich auf die Unterhaltungen der Mädels konzentriere. – Oder es zumindest versuche.
Der Brief meiner Mutter scheint jedoch immer schwerer zu werden. Als würde er mich an den Stuhl tackern.
„Ach Scheiße", zische ich schließlich und nehme die Zettel heraus. Nele erwischt mich dabei, sieht mich besorgt an und greift nach meiner Hand. Sie ist warm. „Brauchst du Hilfe?"
Kurz überlege ich, bevor ich vehement den Kopf schüttle. „Ich muss das alleine machen."
Schwungvoll stehe ich auf und stolpere beinahe über meine eigenen Füße. „Nico, ich klaue mir ein Bier", nuschle ich noch, bevor ich tatsächlich über die Türschwelle stolpere. Vodka ist einfach nicht mein Ding. „Nix passiert", verkünde ich und bleibe einfach auf dem Teppich liegen. Mein Rücken lehnt gegen den der Couch, als ich endlich, endlich den Brief öffne.
Schon bei Zeile eins bin ich eigentlich wirklich bedient.
»Weißt du Schatz, das Leben ist einfach kein Wunschkonzert.«
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