Kapitel 35 ↬ Wie lange noch?



Wann ich mich das letzte Mal derart und bis auf die Knochen blamiert habe? Ich weiß es wirklich nicht. Realistisch betrachtet kann es wirklich nicht all zu lange her sein.

Doch der Moment in dem mich Thomas Wagner anschaut, als sei ich soeben der Psychiatrie entlaufen, geht definitiv in meine Geschichte der schlimmsten Momente ein. Platz eins gerät heftig ins Wanken.

Perplex, wie festgefroren, erstarrt, sprachlos – all diese Worte könnte man nutzen, um meine Situation und meine geistige Verfassung zu beschreiben. Nichts käme dem nahe, was in mir vorgeht. Verdammt.

„Hallo." Meine Stimme klingt viel zu hoch, mein Hals ist trocken und ich muss husten. Die Wärme in meinem Kopf bringt diesen beinahe zum Platzen. Eine Symphonie an Schimpfworten voller Selbsthass schießt mir durch das Unterbewusstsein. Aber egal, was ich denke, wen ich anbete und was ich mir aus tiefster Seele wünsche: Der Erdboden tut sich nicht auf.

Nichts ist jedoch so verwirrend, wie die Reaktion des älteren Mannes auf den Zirkus, der sich ihm hier bietet. „Na ist doch schön dich auch mal kennenzulernen. Felix hat schon viel von dir erzählt. Ich bin der Thomas." Freundlich lächelnd kommt er auf mich zu und streckt mir seine Hand entgegen. „Bitte was?" kommt es zeitgleich aus meinem und aus Felix' Mund. Statt mich also höflich meinem Gegenüber vorzustellen, schüttle ich seine Hand einen Moment zu lange, sehe an ihm vorbei in Richtung Proll und durchlöchere ihn mit fragenden Blicken. „Ja ehrlich, der Kleine ist ganz hin und weg von dir." Es benötigt bloß ein paar Schritte und Thomas steht neben Felix, wuschelt ihm durch die ohnehin schon zerzauste Friese. Wenn er ihm jetzt noch in die Wange kneift, vergesse ich mich.

„Papa, sag ma' spinnst du?" Flink, aber nicht flink genug entzieht sich der junge Mann den väterlichen Berührungen. Thomas hat ihn schneller am Schlafittchen gepackt, als ihm lieb ist. Mit dem Daumen wischt er ihm imaginären Dreck vom Mundwinkel. Zu Felix Glück wird der Finger nicht vorher angeleckt.

Mir bleibt nichts Anderes übrig, als die Situation mit offenem Mund zu beobachten. Eigentlich. Das Schauspiel, was sich mir hier bietet ist zu absurd, als dass ich mir ein Kichern verkneifen könnte.

Blicke treffen mich, durchbohren mich, wie tausend Nadeln und wünschen mir alles schlechte dieses Universums an den Hals. Ich kann letztlich nicht anders, als zu lachen.

„Entschuldigen Sie Herr Wagner, ich wusste nicht, dass Felix so lieb sein kann. Sonst ist er ja doch eher von der aufgeregten, wilden Sorte, der kleine Racker." Er wird mich direkt in die Hölle befördern, das weiß ich genau. In diesem Moment kann er jedoch nichts tun. Aufspringen kann er nicht, sein Körper und dessen Blessuren würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Morden vor dem eigenen Paps? Das traue ich nun wirklich nicht einmal ihm zu.

Die Bedeutung von Thomas Wagners Aussage ist mir in diesem Moment gar nicht bewusst, ich nehme ihn nicht für voll und glaube zu durchschauen, was der nette Mann vor hat. Er will seinen Sohn bis auf die Knochen blamieren und es gelingt ihm großartig!

„Oh ja, da sagst du was. Aber ehrlich, Thea. Sag Thomas zu mir. So alt, sehe ich doch gar nicht aus oder?" Kess zwinkert er mir zu und streicht mir flink freundschaftlich über den Oberarm.

„Ich find's ja wirklich prima, wie supi ihr euch versteht aber könnte ich vielleicht einen Moment mit Theresa sprechen?" Die Tatsache, dass er mich nicht bei meinem Spitznamen nennt, hinterlässt ein seltsames Gefühl in meiner Brust. Zuerst habe ich es gehasst, dass er mich so genannt hat. Jetzt habe ich einen Moment lang das Gefühl, als wären Thomas und ich zu weit gegangen. Statt der gewohnten Egal-Haltung ist das Gefühl hier...neu. „Na aber sicher lasse ich euch kurz alleine." Der Unterton in seiner Stimme lässt keine andere Deutung zu und schon schüttelt es mich. Mit einem frechen „Bleibt anständig", zieht Thomas die Tür hinter sich zu. Pfui. „Also dein Paps hat echt eine blühende Fantasie, wenn er denkt-" Abrupt unterbreche ich mich selbst, als meine Augen Felix' treffen. Während ich eben noch grinsend seinem Vater hinterher gesehen habe, schaue ich nun ihn dezent verwirrt an.

Trotzig hat er die Arme vor der Brust verschränkt und ich bin mir nicht sicher, ob er diese Pose nur hält, um seinen Punkt zu verdeutlichen. Für den Bruchteil einer Sekunde lässt er den Schmerz seine Mimik durchkreuzen.

Die vorherige Situation gänzlich ignorierend, versucht er sich neu zu platzieren und rutscht mehr schlecht als recht umher. Den Impuls zu helfen ignorierend lasse ich mich auf den Stuhl fallen, auf dem heute früh noch seine Schwester gesessen hat. „Also erstmal: Wo warst du solange? Ich dachte echt, du hast dich im Krankenhaus verlaufen." Noch bevor mir eine geeignete Ausrede einfallen kann, ertappe ich mich selbst dabei die Wahrheit zu sagen. „Ich bin bei Nils eingepennt. Wir haben irgendeinen von den sinnlosen Fast an Furious Filmen geschaut und ich war echt richtig im Eimer. Zuhause konnte ich ja auch nicht pennen-" „Also bist du zu deinem Freund, Okay."  Völlig perplex sehe ich ihn an. „Ey, ich habe zwei Stunden gepennt und lande hier in einem Paralelluniversum, in dem der große Felix Wagner eifersüchtig ist?" Woher das Feuer kommt, ich weiß es nicht. Vergessen ist das kürzlich angeflogene schlechte Gewissen. Stattdessen würde ich ihm zu gerne das viel zu große Kissen ins Gesicht drücken.

Eine nur wenige Sekunden andauernde Stille tritt ein, in der ich ihn fassungslos ansehe und er mich sturr nieder zu starren versucht. Es sind die längsten vier Sekunden meines Lebens, bis dieser absolute Vollidiot schließlich anfängt aus vollem Halse zu lachen. Wo nimmt er bitte diese Energie her? Hatte er nicht irgendwas an oder in der Lunge?

„Du müsstest mal dein Gesicht gesehen alter!" Er japst nach Luft und beginnt zu Husten. Es klingt jämmerlich, freut mich aber zumindest für einen Moment. Karma existiert also doch noch. „Entspann dich mal, Thea. Ich wollte nur, dass Papa aufhört irgendwelche Kacke zu erzählen. Ich habe den Mann schon länger nicht gesehen und das einzige, worüber wir gesprochen haben in der letzten Stunde, ist meine grenzenlose Dummheit und die Tatsache, dass er krass enttäuscht ist von mir." Klingt plausibel und ich entspanne mich ein bisschen. Bis er hinterher schiebt: „Von dir habe ich nie geredet." Es verschafft mir einen seltsamen Dämpfer und gibt meinem Kopfkarussell erneuten Schwung. Verdammt.

Ich zwinge mich zu einem Lachen, von dem ich mir erhoffe, dass es nicht zu falsch klingt.

Genau im richtigen Moment geht die Tür wieder auf und ich höre sie, bevor ich sie sehe. Dem Himmel sei Dank. „Sorry Flix, wir sind unten doch tatsächlich in Judith rein gerannt. Wusstest du, dass sie hier arbeitet? Ich dachte, sie tättowiert nur mit Fahri." Ihrem Bruder drückt sie einen dicken Schmatzer auf die Wange, als habe sie ihn ewig nicht gesehen. Nicht nur mein Zeitgefühl ist im Eimer. Auch Nele beschwert sich ausgelassen darüber, wie fertig sie ist, sie plaudert aufgeweckt über diese Judith und während mir viel zu viele Fragen zu dieser Barbie durch den Kopf schießen, fällt mir nicht auf, dass Felix ihr gar nicht zuhört. Er schaut an ihr vorbei und erst, als ich meinen Kopf hebe, treffen sich unsere Blicke. Das Gefühl beobachtet zu werden, hat mich aus der Spirale geholt, in die ich mich automatsich begeben habe. Wenn Nele Fahri kennt, kennt sie sicherlich auch Nils und wenn sie Nils kennt, dann – „Ich glaube es wäre besser, wenn ihr Thea mit heim nehmt. Bist du hergefahren Malte?"

Verachtend schnaubt er auf und erst jetzt nehme ich den Partner meiner Freundin bewusst wahr. Ein Blick, der ein eindeutiges ‚Hä?' aussagt schleicht sich auf Felix' Gesicht. „Um sie kannst du dich kümmern aber deine eigene Schwester aus Scheiße raushalten geht nicht?" „Malte!" wird der junge Mann direkt von Nele ermahnt. Ein erhobener Finger mehr und man könnte meinen, Mami tadelt ihren aufmüpfigen Sohn.

Nur halb so lässig, wie zuvor lehnt er immer noch an der Wand und ich kann sehen, wie er mit den Worten ringt, als müsse er erst einmal die notwendige Kraft sammeln. „Na was denn? Er sollte auf dich aufpassen und was ist? Ihr geht mitten in der Nacht in den Görli und bekommt erstmal schön aufs Maul.Was wäre denn gewesen, wenn die dich angefasst hätten, huh? Er saß gemütlich auf dem Boden und du? Boah ich kriege die Kotze, wenn ich nur dran denke, das ist ja-" „Sag mal geht's dir noch ganz gut?" Dass Nele ein temperamentvolles Wesen ist, war mir durchaus bewusst. Wie sauer sie jedoch werden kann, wenn man sie bemuttert und im selben Atemzug noch Menschen beleidigt, die sie liebte, das wollte ich nie wieder erleben. So viel schwor ich mir in diesem Moment. Binnen Sekunden geht ihr die Hutschnur hoch. „Ich kann sehr wohl auf mich alleine aufpassen. Es geht dich einen feuchten Dreck an, was ich nachts wo und mit wem mache. Führe dich nicht auf, wie mein Vater, von der Sorte habe ich schon einen, ist das klar?"

Die Hände in die Hüften gestemmt, baut sich die zierliche Frau vor ihrem Freund auf. Es hat einen Hauch von Chihuahua gegen Giraffe und ich muss mich schwer zusammenreißen.

Ich bemerke selbst gar nicht, dass ich die beiden die ganze Zeit beobachtet habe, bis ich ein leises ‚Psst' vernehme. Felix schaut erneut um seine Schwester herum in meine Richtung und winkt mich zu sich. Während die Streithähne weiter diskutieren, lasse ich mich wie selbstverständlich neben ihn auf das Bett sinken und komme ein Stück näher, damit ich ihn überhaupt richtig verstehe. „Ich glaube es ist besser, wenn du Nele einfach an der Hand nimmst und ihr heimfahrt. Du siehst fertig aus, Nele ist offensichtlich absolut übermüdet und ich glaube ich muss mir den Schosshund meiner Schwester mal zur Brust nehmen." Er grinst frech, zwinkert mir zu und reicht mir die Hand. „Was wird das, ein geheimer Handschlag?" „Ein High Five, du Nuss. Willst du einen Handkuss und einer Verbeugung oder was?" Felix gackert, wie ein verrücktes Huhn, ich schäme mich ein bisschen zu sehr und Thomas Wagner meldet sich erneut zu Wort. Wann ist der bitte wieder aufgetaucht?

„Geht's euch beiden eigentlich noch gut? Das ist ein Krankenhaus, verflucht nochmal." Sofort ist Ruhe, eigentlich fehlt nur noch ein flache Hand auf der Tischplatte und eine Reihe an Backpfeifen und ich bin wieder fünf Jahre alt und auf der Trauerfeier von Tante Gerda; einer Frau, mit der ich in den ersten fünf Jahren meines Lebens so absolut nichts zu tun hatte. Meinen Bruder sehe ich förmlich mit den bloßen Händen im Kartoffelsalat spielen.

Ein leichter Stoß in die Hüfte holt mich wieder zurück und ich spüre, wie Neles Hand in meine gleitet. „Auf geht's, ich brauche einen Drink."

„Meinst du nicht, ihr hattet dieses Wochenende schon genug, junge Dame?" ist das letzte, was ich vorerst aus Thomas Wagners Mund höre. Seine Tochter kontert mit einem ‚Ja, ja' und zerrt mich aus dem Zimmer. Auf dem Weg nach unten wettert sie los, lässt einen erstaunlichen Schimpfwörter-Cocktail ab und schnappt erst vor der Tür des Krankenhauses so richtig Luft.

„Hach das tat gut", stellt sie schließlich seelenruhig fest und sieht mich an, als wäre nie etwas gewesen. „So, was fangen wir jetzt mit der Zeit an?" Mir fällt nur eines ein: „Ich bin müde." „Schlafen kannst du, wenn du tot bist", bestimmt sie, greift erneut nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her. In all dem Trubel habe ich meinen Kram bei Felix gelassen, fühle nach meinem Handy und finde es glücklicherweise in der hinteren Hosentasche. Alles andere ist erst einmal unwichtig, in meinem Zimmer finden sich bestimmt noch ein paar Kröten, denn auch, wenn ich Nele nicht wirklich folgen kann, mit einer fünf Minuten Terrine werde ich den Wirbelwind nicht abspeisen können.

„Taxi oder Spaziergang?" Ich bekomme keine Chance ihr zu antworten, sie legt selbst fest: „Ach, wenn wir laufen, wirst du wieder ein bisschen wacher. Wir kommen hier sowieso an einer kleinen Bäckerei vorbei, dann können wir uns ein Weg-Käffchen holen."

Mehr schlecht als recht, trotte ich hinter ihr her und fühle mich nicht zum ersten Mal an diesem Tag in meine Kindheit zurück versetzt. Ohne aktiven Einfluss darauf nehmen zu können, verzieht sich mein Mund in eine Klein-Mädchen-Schnute und die freie Hand ballt sich zu einer Faust. Bockig bleibe ich abrupt stehen, stemme die Hand in die Hüfte und sehe Nele aus verengten Augen an. „Ich habe keinen Bock den ganzen Weg zu laufen, ich bin absolut fertig, habe Hunger, muss mal und verstehe kein Wort von dem, was du da vor dich hinbrabbelst. Atme mal durch, Mädchen und erkläre mir mal, was du genommen hast, dass du so viele Hummeln im Arsch hast." Jetzt ist mein Moment ohne Punkt und Komma loszupoltern. Ich kann nicht mehr, diese ganzen Erlebnisse prasseln wie eine Flut auf mich nieder und lange kann ich dem Tsunami nicht mehr standhalten. „Ist dir eigentlich klar, was in den letzten Tagen passiert ist? Nein? Prima, mir nämlich auch nicht. Für euch scheint diese ganze Scheiße absolut normal zu sein aber mein Kopf explodiert gleich! Wir haben damals wirklich viel Mist gebaut aber ich habe nie mit Drogendealern zu tun gehabt, war nie bei einer Schlägerei dabei und musste dabei zu sehen, wie ein Freund halb ins Koma geprügelt wurde. Die ganza Alila Geschichte ist mir eine Nummer zu hoch, das klingt alles wie ein beschissener ARD-Streifen und jetzt läufst du hier rum, als wäre nix gewesen und willst ein Käffchen trinken, weil sich dein Freund ernsthafte Sorgen um dich gemacht hat? Ey, sei froh, dass sich überhaupt jemand für dich interessiert! Meine Mum hat sich nach einem Streit einfach verpisst, mir einen lausigen Brief hinterlassen und denkt jetzt, ich komme ihr mit kahlrasiertem Kopf und volltättowiert als Drogensüchtige Nutte zurück nach Hause, nur, weil ich mit euch unterwegs war!"

Aktiv und bewusst durchzuatmen hilft mir dabei, dass ich nicht ohnmächtig den Boden küsse. Allen meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, hat eine wahnsinnig befreiende Wirkung. Ob das, was ich da von mir gegeben habe Sinn macht, ich weiß es nicht. Sicherlich habe ich mich mitten im Satz verloren, Nele wird denken, ich sei bescheuert und mich postwendend zum Krankenhaus zurück führen, doch es ist mir egal. Die letzten Tage – ich weiß nicht einmal wie viele es letztendlich waren – fühlen sich an, wie ein wirklich, wirklich schlechter Film. Die Bilder in meinem Kopf sind vernebelt, nichts ist klar, nichts macht mehr einen Sinn.

„Ich hatte keine Ahnung", spricht Nele sichtlich betroffen. Ihre Stimme klingt rau und ich sehe, sie muss schlucken. Ich habe ihr jeglichen Wind aus den Segeln genommen und sofort ein schlechtes Gewissen. Sie war auf verquere Weise glücklich und ich habe es kaputt gemacht, nur, weil ich mich nicht im Griff hatte. Als ich ihr genau das sage, ihre Hände in meine nehme und mich beinahe buchstäblich fünfhundert Mal pro Sekunde entschuldige, sieht sie mich mit einem seligen Lächeln an und schüttelt den Kopf. „Ach halt die Klappe, du emotionaler Krüppel." Mit einer ordentlichen Wucht drückt sie mich an sich und hält mich solange, bis ich meine Anspannung förmlich davon fließen sehe. Es tut unsagbar gut.

„Ich fühle mich direkt fünf Kilo leichter", versuche ich das ungewohnte Gefühl in mir mit sowas ähnlichem wie Humor zu vertreiben. Es ist die Wahrheit, das wissen wir beide. Aber ohne es auszusprechen, ist uns beiden sicher auch klar, dass sie recht hat.

Doch Nele, wäre nicht Nele, wenn sie auf meinen dummen Spruch nicht noch eine dümmere Antwort hätte: „Man sieht's dir direkt an, Sis, damn, lass shoppen gehen!" Wie die eine dieser unangenehmen Tussis klimpert sie mit den Nägeln vor meiner Nase herum und kaut ein imaginäres Kaugummi. „Alles klar."

Den gesamten, doch recht langen Heimweg über plaudern wir eingehackt über alles und nichts.Weder der Streit mit Malte, noch die Gespräche mit Felix und schon gar nicht die Alila-Geschichte finden ihren Weg in unser Gespräch. Was ich mir jedoch nicht verkneifen kann ist das Thema Judith.

Während wir uns die Stufen zu meinem Zimmer nach oben schleppen, nehme ich den letzten Rest Mut zusammen, den ich noch zusammen kratzen kann. Mut deshalb, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich die Antworten auf meine Fragen hören will. Und auch ein bisschen deshalb, weil ich weiß, dass sich Nele nicht mit einem simplen ‚Einfach so' abwimmeln lassen wird.

„Diese Judith, woher kennst du die?" Es ist nicht einmal ansatztsweise die Frage, die mir wirklich auf der Zunge brennt aber irgendwie muss ich in das Thema einleiten. Indes ich versuche die dämliche Tür mit meinen zittrigen Fingern zu öffnen, beginnt Nele zu kichern.

„Sagen wir mal so: Felix hat eine ganze Reihe von unangenehmen Fehltritten zu verbuchen, die in die Luca Kategorie fallen." Ich muss aufpassen, dass meine Kinnlade nicht bis auf den Boden fällt. Hat er mir nicht erzählt, dass es nach Alila irgendwie nie so richtig...naja klappen wollte oder habe ich mir das eingebildet, selbst dazugedichtet? „Na gut okay, genau genommen sind Luca, Gina und Judith die einzigen aber hey, Fahri hat erzählt, da hat jemand einen Crush auf dich?"

„Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht weißt?" frage ich frustiert, während sich Nele, wie ein kleines Trüffelschwein durch sämtliche der nicht wirklich zahlreichen Schränke schnüffelt. Vor einer Packung meiner Lieblingschips macht sie Halt, sieht mich an, wartet aber selbstverständlich nicht auf eine Antwort, bevor sie sich aufs Bett wirft und neben sich klopft.

„Zugegeben, es gibt wenig, was an mir vorbei geht ja. Aber ich hab's dir doch gesagt, Berlin ist eigentlich auch nur ein großes Dorf." „Hast du nicht." „Naja, dann habe ich's mir gedacht. Aber das ist auch unwichtig, der Punkt ist-" Und schon geht es wieder los. Genüsslich schaufelt sich das aufgeweckte Mädchen Chips in den Mund und plappert nebenher munter drauf los. Ich bin froh, sie wenigstens ein bisschen vom Thema Nils weggebracht zu haben. In ihrem Redefluss erfahre ich aber wenigstens ein paar Hintergrunddetails.

Judith, Fahri und Nils lernten sich im Tattoostudio kennen, Judith habe Nele das ein oder andere Mal die Nadel unter die Haut gejagt und zu einem größeren Termin hatte Felix sie begleitet. Fahri stach ihm spontan das Tattoo an seinem Handgelenk und etwas in mir war froh, dass ich beim Blick auf die 4:44 nicht an dieses wunderschöne Wesen denken musste.

„Okay, Nele, Nele"- sie zu unterbrechen war gar nicht so einfach. Wildes vor der Nase herumfuchteln und Chips klauen bewirkt schließlich, dass ich ihre Aufmerksamkeit wieder erlange.

„Ich soll mal durchatmen, was?" Ein Nicken meinerseits und sie sitzt in einer Eins-A-Buddah-Yoga-Pose vor mir, brummt ein tiefes Ohm und schnaubt einmal durch. „Du Nuss", finde ich lachend und stelle fest: Spielend leicht hat sie es geschafft, dass ich mich entspanne. Nicht eine Sekunde habe ich – bis jetzt – daran denken müssen, was eigentlich gerade alles andere als richtig läuft.


Wie lange ich wohl noch vor dem offensichtlich unvermeidbaren davon laufen kann?





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Kannst du es sehen, halt aus, wir sind bald da
Wie lange noch?
Ist nur 'ne Frage der Zeit, bevor hier alles zusammenfällt
Wie lange noch?
Aus dem dunkelsten Nichts hin ins funkelndste Licht, ey yeah
Komme mit Schutt und Holz aus dem Rauch raus
Bau mir aus Luft und Wolken ein Traumhaus, ey yeah - Teesy; "Wie lange noch"

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