Kapitel 30 ↬ Mit blauem Auge.
Sorry, ihr Lieben :3
Bevor ihr anfangt zu lesen: Die Triggerwarnung aus dem letzten Kapitel habe ich entfernt, sie folgt nach dem aktuellen hier. Das liegt daran, dass ich mit Hilfe meines kleinen Genies ALBE167 (gut "mit Hilfe" ist noch nett ausgedrückt, das, was hier folgt ist zu 99% ihr Werk, ich habe es nur geschrieben ;)) den Plot noch mal ein bisschen umgebaut habe. Das - nennen wir es mal - emotionale Flashback Kapitel, folgt hier nach. ^^
Und jetzt viel Spaß ♥
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„Felix, was war dein größter Fehler?"
Zu gerne hätte ich Felix' Antwort darauf gehört. Doch, wenn ich mir den fahlen Ausdruck in seinem Gesicht so ansehe, dann wird mir ganz anders zumute. In seinen Augen strahlt nichts mehr. Nicht der schelmische Funke, der mich sonst zur Weißglut bringt und auch nicht das Ruhige, was er nur dann ausstrahlt, wenn er ehrlich ist. Zu gerne würde ich seinen Zustand weiter ausnutzen, doch mein schlechtes Gewissen dahingehend ist nicht das Einzige, was mich davon abhält meine weiteren Fragen zu stellen.
Nele erhebt sich und ist mit drei schnellen Schritten bei uns angekommen. Bestimmt schaut sie auf ihren immer noch leicht weggetretenen Bruder und reicht ihm die Hände. „Los, komm hoch. Wir müssen uns um deine Verletzungen kümmern, Flix." Der Spitzname ist niedlich. Felix' Aufschrei, als sie ihn versucht hochzuziehen, allerdings gar nicht. Hustend sackt er zurück auf meine Beine und verzieht das Gesicht. „Fuck", grummelt er leise und ich weiß nicht, wie, aber irgendwann schaffen wir es gemeinsam ihn auf die Beine zu kriegen.
Wie ein Häufchen Elend klammert er sich an seiner Schwester fest, die es nur mit Mühe und Not schafft, ihn aufrecht zu halten. Wie bestellt und nicht abgeholt, laufe ich einen Schritt hinter den Geschwistern, aus Angst Felix irgendwo zu berühren und ihm nur noch mehr weh zu tun.
Als er jedoch immer schwerer atmet, kann ich mich nicht mehr zurückhalten.
„Danke", murmelt er leise und hängt nun wortwörtlich an Nele und mir. Vorsichtig verschränken sich unsere Finger, sein rechter Arm liegt über meiner Schulter, der linke über Neles. Während ich meinen linken Arm auf seine rechte Hüfte lege, stützt seine Schwester ihn von der gegenüberliegenden Seite. Den ‚Armsalat' kann man schwer beschreiben und ich hoffe wirklich, dass wenigstens ein bisschen hilft.
Immer wieder müssen wir stehen bleiben, damit Felix durchschnaufen kann. Somit zieht sich der recht kurze Weg eine halbe Ewigkeit. „Scheiße", murmelt Nele, sobald wir vor einem Wohnhaus zum Stehen kommen. „Ich habe dir gleich gesagt, nimm nicht die Dachgeschosswohnung." Was das zu bedeuten hat, erfahre ich keine Minute später. „Wie viele Stockwerke hat das Haus?" Eine Frage, deren Antwort ich eigentlich gar nicht wissen will.
Geschlagene zwanzig Minuten später weiß ich, es sind vier. Vier Stockwerke, die wir Stufe für Stufe erklimmen. Mit jedem Schritt verzieht sich Felix' Gesicht. Mittlerweile kleben ihm die aschblonden Haare klitschnass auf der Stirn und ich erwähne zum dritten Mal einen Krankenwagen. Doch der Sturkopf wimmelt mich immer wieder ab. „Ist nicht das erste Mal, dass ich auf die Schnauze kriege." Er zwingt sich zu einem Lächeln, schafft es jedoch nicht einmal ansatzweise mich zu beruhigen.
In seiner Wohnung angekommen, sackt er ächzend auf dem Küchenstuhl zusammen und hält sich die Rippen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da definitiv etwas nicht in Ordnung ist. Irgendwas hängt dort, wo es nicht hingehört. Aber mehr, als die Frage, ob ich ihm eine Packung Erbsen aus dem Gefrierschrank geben könne, kommt nicht aus seinem Mund.
Unterdessen höre ich Nele durch die Wohnung wuseln, bis sie schließlich mit einem Verbandskasten zurück kommt.
Statt sich aber ordentlich helfen zu lassen, greift Felix mit der freien Hand nach dem blauen Kasten und versucht verzweifelt ihn aufzubekommen. Das Gefummel kann ich mir jedoch nicht lange ansehen. „Jetzt lass dir halt helfen, mein Gott, nochmal!" zicke ich. Mir reicht's wirklich. Dass dieser Vollidiot einfach keine Hilfe akzeptieren kann, macht mich rasend vor Wut und so kann ich mir das kurze, selbstgefällige Grinsen auch nicht verkneifen, als er mir zu müde, um sich zu wehren, ein paar Kompressen und Desinfektionsalkohol zu schiebt. Eigentlich sollte ich es genießen, dass ich ihn ein bisschen quälen kann, schließlich bin ich mit dieser Motivation in den Abend gestartet. Dummerweise muss ich mir aber selbst eingestehen, dass es mir unwahrscheinlich wehtut, ihn so leiden zu sehen.
An seiner Lippe angekommen, versuche ich es zuerst mit ein wenig kaltem Wasser. Mit zittrigen Fingern hebe ich sein Kinn an und sehe direkt in seine Augen. „Du machst das gut", flüstert er leise, während ich die Platzwunde an seiner Lippe reinige. „Ich habe dir ja doch was beigebracht." Zum ersten Mal seit dem Vorfall im Park lächelt er ehrlich. Nur kurz und bei weitem nicht so breit, wie ich es gewohnt bin aber es genügt, um mich ein ganz klein wenig zu beruhigen.
Trotz diesem Kompliment lässt er mich nicht unter sein T-Shirt. Ein Satz, der unter anderen Umständen, sicher witzig wäre, doch mich lässt das Gefühl nicht los, dass da mehr ist, als ein blauer Fleck.
In der Zeit, in der ich ihren Bruder weitestgehend versorgt habe, habe ich Nele gänzlich ausgeblendet und nicht bemerkt, wie sie die Couch im Wohnzimmer aus – und bezogen, Felix' Bett komfortabler gemacht und T-Shirts ihres Bruders zurecht gelegt hat. Erst, als sie sich laut ausatmend auf den gegenüberliegenden Stuhl fallen lässt, nehme ich sie wieder wahr.
„Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich muss jetzt schlafen. Ich kann nicht mehr." Und das meint sie ernst. Beinahe schläft sie im Sitzen ein, doch vorerst müssen wir Felix ins Schlafzimmer bugsieren. Erst, als der junge Mann halbwegs bequem liegt, sie eine Wasserflasche auf den Nachttisch gestellt und gleich eine ganze Palette Schmerztabletten daneben gelegt hat, komme auch ich langsam wieder in der Realität an.
„Kann ich euch jetzt alleine lassen?" frage ich unsicher in den Raum und werde aus zwei verwirrten Augenpaaren angesehen. Auf Felix' schwache Worte, wo hin ich gehen wolle, antworte ich schlicht mit „Nach Hause." „Kommt gar nicht in Frage. Du schläfst mit mir auf der Couch." Ende der Diskussion. Dass ich kurz nach Zustimmung von Felix Seite aus suche, interessiert sie nicht. Somit lassen wir den lädierten Mann in seinem Bett liegen, nachdem er uns wortwörtlich verbannt und bahnen uns unseren Weg durch die dunkle Wohnung ins Wohnzimmer.
Erst jetzt kann ich mir ein Bild darüber machen, wie Felix eigentlich lebt. Mein Blick bleibt sofort an einem interessanten Gemälde hängen. Eine akkurate Mona Lisa Kopie, beschmiert mit pinkem Graffiti. ‚Bitch betta have my money'. Die Bitch, die völlig zerschreddert im Schlafzimmer hängt, hat definitiv Money, denke ich mir und muss schmunzeln. Nach müde kommt dumm und jetzt, wo das Adrenalin in meinem Körper langsam nachlässt, merke ich auch die Dusseligkeit, die der Alkohol hervorruft.
„Das ist von Rene Turrek", holt mich Neles müde Stimme wieder zurück aus meinen Gedanken und erst beim Umdrehen bemerke ich, dass sie nur noch ein viel zu großes, weißes Shirt mit einem klitzekleinen Gucci – Logo trägt. Was das gekostet hat, will ich gar nicht wissen. „Wenn du dich dafür interessierst, kann ich dir eins von seiner Tante Ela zeigen?" In meinem Kopf tauchen sofort zwei verschiedene Gedanken auf. Warum ‚seine' Tante und wie sage ich ihr, dass ich für Kunst mehr übrig habe, als vielleicht cool ist? „Klar!" meine Stimme schnellt eine Oktave zu weit nach oben und ich merke, wie meine Wangen rot werden. Nele lächelt es jedoch einfach cool weg und führt mich zuerst in den Flur. Nur mit der Handytaschenlampe leuchtet sie auf ein Gemälde, welches ich mir einen Moment länger ansehe. Das waldgrün harmoniert unheimlich gut mit dem dunklen lila, dem hellen grau und dem zarten Magenta. Eigentlich sind es nur verschieden große Rechtecke, umrandet von zwei schwarzen Balken. Trotzdem fängt mein Hirn an zu spinnen. Was, wenn die Rechtecke für ihre Familie stehen? Ihr Vater steht für das grau, die Geschwister in Lila entstammen dem Grau. Das Schwarz könnte Felix' Mutter verkörpern, die die Familie zusammenhält?
„Ich bin definitiv müde", rutscht es mir kopfschüttelnd über die Lippen und trotzdem zeigt mir Nele, ohne meinen Worten zu viel Bedeutung beizumessen, ein weiteres Gemälde, welches ich im Wohnzimmer durch die auffällige Mona Lisa übersehen habe. „Ist das ein Puma?" „Ich glaube schon", spricht sie ruhig, lässt sich auf die Couch fallen und deckt sich zu.
Um auch mir ein Shirt zu geben, muss sie sich wahnsinnig unhandlich verrenken und ich muss mir das Lachen verkneifen. Das ich durchaus in der Lage gewesen wäre, selbst die paar Schritte zu gehen, scheint nicht zu zählen. Mit Felix' schwarzem Shirt mache ich mich schließlich auf den Weg ins Badezimmer. Nele erzähle ich, ich müsse auf Toilette, einfach, weil es mir zu peinlich ist, zuzugeben, wie unangenehm ich es finde, mich vor einem so schönen Mädchen auszuziehen. Nicht die Bohne würde es sie interessieren, da bin ich mir sicher. Aber mein nicht vorhandenes Ego macht das nicht mit.
Auf dem Weg dorthin muss ich unweigerlich an Felix' Schlafzimmer vorbei. Meiner angeborenen Neugier verdanke ich, dass ich kurz innehalte und mein Ohr gegen das weiße Holz presse. Ich höre ihn röcheln und bin mir sicher, er versucht krampfhaft nicht zu brechen. Ob ich einfach so in sein Zimmer poltern kann? Wohl eher nicht. Also mache ich auf dem Absatz kehrt und muss ernüchtert feststellen, dass bei Nele sämtliche Lichter innerhalb kürzester Zeit ausgeknipst wurden. Niedlich schnarchend hat sie sich auf komplizierte Art und Weise in die Decke gekuschelt und lässt mich mit meinem Gewissen alleine.
Allerdings muss ich mir gar keine Sorgen machen, dass ich unangebracht in Felix' Zimmer stürmen könnte. Noch während ich darüber nachdenke, Nele zu wecken, höre ich, wie die Schlafzimmertür geöffnet wird. Hustend stolpert er gegen die nächste Tür und keine zwanzig Sekunden später, schreit er die Kloschüssel an. Mir selbst kommt es hoch, doch das komische Gefühl in meiner Magengegend kommt nicht nur von den röhrenden Tönen.
„Ich kenne mich ja nicht wirklich aus mit Schlägereien aber du kannst mir nicht sagen, dass das normal ist", sage ich schließlich und hocke mich besorgt neben den auf dem Boden kauernden, jungen Mann. Noch bevor ich ihm gefolgt bin, habe ich mich doch noch umgezogen und bereue es. Unsicher zupfe ich am Shirt und versuche mich so hinzusetzen, dass er das breite Spongebob Grinsen auf meinem Schlüpper nicht sieht. Mit letzter Kraft betätigt er die Spülung, bevor er sich mit dem Kopf gegen die kalten Fliesen fallen lässt. „Fuck ey", nuschelt er und wischt sich mit dem Handrücken ein wenig Blut von der Unterlippe. „Komm mal her." Versuche ich es auf die ruhige Art. „Du scheiß Sturkopf, jetzt guck mich doch mal an", fahre ich ihn an, als ich mir eingestehen muss, dass die nette Tour wohl nicht funktionieren wird.
Mit ein paar Blättern Toilettenpapier tupfe ich letztendlich über die Wunde. Wenn seine Lippe nicht wieder aufgegangen ist, wo kommt das Blut her?
Doch statt mir darum Gedanken zu machen, bin ich schon im nächsten Moment gezwungen, meine Kinnlade nicht auf den Fußboden klatschen zu lassen. „Stell mir weitere Fragen", verlangt er und wirkt dabei keineswegs spaßend. Mein Blick muss Bände sprechen, denn er fügt hinzu: „Lenk mich ab, bevor ich mir doch die Seele aus dem Leib reiere."
Äußerst verwirrt sehe ich ihn an. „Meinst du das ernst?" Müde nickt er mir zu und ich muss nachdenken. Wenn ich gleich mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus falle, wird er abblocken, also spreche ich das erste, völlig banale aus, was mir durch den Kopf schießt. „Lieblingsfarbe?" „Langweilig", kontert er direkt und nennt schließlich rot und schwarz. Das letzteres keine Farbe ist, verkneife ich mir und gehe weiter in diese Richtung. „Lieblingssong?" Ich kann dabei zu sehen, wie er überlegt, leicht beginnt zu schmunzeln und schon ist mir klar, egal was kommt, es wird nicht die Wahrheit sein. „Ich liebe Carless Whisper von George Michael und You spin me round von Dead or Alive." „Bullshit." Ich muss mir ein Lachen wirklich verkneifen, doch sein Blick ändert sich. „Ich mag das echt", nuschelt er nur noch. Wird er etwa rot?
Die Situation ist auf einmal unangenehm für alle Beteiligten und ich weiß wirklich nicht, was mich dazu bewegt, doch die Fragen zu stellen, die mir zuerst in den Kopf gekommen ist. „Warum hat Nele gesagt, deine Mutter sei gestorben?" Wieder herrscht eine kurze Stille, bevor er schulterzuckend, beinahe schon gleichgültig sagt: „Weil's so ist?" „Du weißt, was ich meine."
„Nele ist nur meine Halbschwester", antwortet er nun doch und irgendwie macht es nichts mit mir. Ich verstehe nicht, warum die beiden daraus fast schon ein Geheimnis gemacht haben. Es ist doch nichts Schlimmes? Oder liegt das geheimnisvolle doch eher im Thema ‚Felix' größter Fehler'? Jetzt ist eindeutig der falsche Zeitpunkt, um neugierig zu sein aber ich kann es nicht abstellen.
„Okay und was-" „Ick hab ne Frage." Felix schluckt und für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob es an seinen Gedanken liegt oder an der Tatsache, wo wir uns befinden. Auch, als er sich kurz wieder über die Schüssel lehnt und spuckt, kann ich ersteres nicht ausschließen. „Wat is deine Lieblingssexstellung?" Mit großen Augen sehe ich ihn an und es muss lächerlich aussehen, denn Felix beginnt sofort zu Lachen. Würde sich das Lachen nicht in einen krächzenden Huster verwandeln, hätte ich sicherlich mitgezogen. „War nur Spaß", presst er gequält hervor, kann sich aber letztlich doch nicht zusammenreißen.
Schnell zieht er sich selbst am Klo nach oben und bricht. Beinahe schon automatisch findet meine Hand ihren Weg auf seinen Rücken. Langsam streiche ich darüber, versuche ihn zu beruhigen, habe jedoch keinen wirklichen Erfolg. Also versuche ich es weiter mit der Ablenkung. „Schade eigentlich, dass du kein Mädchen bist. Sonst könnte ich dir jetzt ganz filmreif die Haare zurückhalten und sagen: Er ist es nicht wert." Mit einem Lächeln, welches eigentlich irgendeine Art von Beruhigung ausstrahlen soll, reiche ich ihm einen feuchten Waschlappen vom Badewannenrand und bekomme sogar, so was Ähnliches, wie ein Lächeln zurück. „So hast du dir den Abend nicht vorgestellt, wa?" „Naja, ich sage mal so: Mein Zeitgefühl ist im Arsch, also könnte das hier auch ein ganz normaler Morgen auf Arbeit sein."
Dieses Mal grinst er tatsächlich, denn ich habe Recht. Wenn er mich eines zu Genüge hat machen lassen, dann sämtliche Flüssigkeiten, die den menschlichen Körper verlassen können, aufwischen. Überraschenderweise hat sich meine Hemmschwelle dahingehend drastisch gesenkt.
Ebenso, wie meine eigene Kraft, als ich kurz darauf versuche, ihn hoch zu ziehen. „Scheiße", flucht er unter Schmerzen und alleine der Ausdruck in seinem Gesicht, lässt meine Augen feucht werden. „Es tut mir so leid", flüstere ich leise und muss selbst schwer schlucken. „Du hast doch nicht zugehauen", tut er das Ganze als Nichtigkeit ab und ich muss zusehen, wie er sich zurück ins Schlafzimmer schleppt. Helfen lässt er sich nicht mehr, doch spätestens, als es darum geht, sich tatsächlich hinzulegen, schaut er mich bedröppelt an. Ohne, dass er darum bitten muss, hebe ich seine Beine auf die Matratze und versuche die Decke unter seinem Oberkörper hervorzuziehen. Wie genau ich es schaffe, weiß ich nicht, doch ich muss irgendwie an seine Hüfte gekommen sein. „Fuck!" schreit er, viel zu laut, als dass Nele es nicht gehört haben kann und ich verfluche mich selbst. „Scheiße, das tut mir leid!"
Bei seinem Versuch sich selbst in eine einigermaßen bequeme Position zu hieven, rutscht mir das Herz in die Hose. Sein Shirt rutscht ein Stück nach oben und ich glaube, jetzt ist mir schlecht. „Heilige Scheiße, Felix..." Mehr verlässt meinen Mund nicht. Es ist schon fast verwunderlich, dass er meine kalten, zittrigen Finger gewähren lässt und ich keine Kopfnuss bekomme, als ich den Stoff noch mal ein Stück nach oben schiebe. Unter anderen Umständen hätte er sicherlich ein Kompliment für sein Sixpack bekommen. Jetzt bekommt er eine ordentliche Standpauke, eine ganze Menge Voltaren und eine neue, wirklich große Packung Erbsen.
„Warum hast du denn nichts gesagt?" schließe ich meinen Vortrag ab und möchte ihm am liebsten den Hals umdrehen. „Ist nicht so wild", versucht er es wieder klein zu reden und ich muss mich schwer beherrschen, ihm das gefrorene Gemüse nicht um die Ohren zu hauen. Schließlich ist das das einzige an seinem Kopf, was noch einiger Maßen zu funktionieren scheint. Glaube ich. „Ich bin echt nicht so bewandert im Thema Medizin aber ich bin mir ziemlich sicher, dieses blau-lila ist keine natürliche Hautfarbe." Stumm winkt er ab und lässt sich die Erbsen zurück geben.
Einen Moment lang bleibe ich einfach am Rande seines Bettes sitzen und sehe hilflos dabei zu, wie er sich irgendwie versucht endlich ordentlich hinzulegen. Tief muss er durchatmen, als die Aufgabe letztlich bewältigt ist. Den mitleidigen Blick kann ich mir nicht verkneifen und nur die Dunkelheit, die uns einhüllt, spielt mir in die Karten, sonst wäre er bestimmt nicht so ruhig.
„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet", sagt er schließlich in die Stille hinein und ich muss überlegen. „Deine Lieblings-" „Ganz normal", bin ich dieses Mal diejenige, die sich abwehrend verhält. „Langweilig", befindet er und klopft neben sich. „Lege dich hin, ich bin dran mit Storytime." Stumm sehe ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Es dauert, bis ich mich daran erinnere, dass er mein Gesicht nicht sieht. „Sicher?"
„Du hast doch nach meinem größten Fehler gefragt oder nicht? Ich will das rumkriegen, bevor ich wieder kotzen muss." Statt dieser Reaktion, antwortet sein Körper aber mit feuchtem Husten und ich reiche ihm ein Taschentuch. „Kannst du das Fenster aufmachen, kurz?" Wieder helfe ich, ohne Worte. Was gäbe es da auch schon groß zu sagen? Möglichst leise, ohne irgendwo gegen zu rennen, komme ich seiner Bitte nach. Die laue Berliner Luft schießt mir direkt entgegen und ich muss selbst einmal tief durchatmen, während ich den hellen Mond betrachte. Kurz lasse ich meine Gedanken schweifen und stelle fest: Was mir in den letzten Wochen passiert ist, gleicht einem beschissenen ARD-Film und das leise Gefühl beschleicht mich, dass es wohl nicht besser werden wird.
Woher das plötzliche gegenseitige Vertrauen kommt, kann ich mir nicht erklären, doch als er noch einmal wortlos auf die linke Bettseite klopft, lege ich mich neben ihn und schaue an die spärlich beleuchtete Zimmerdecke.
Dieses Mal räuspert er sich nur, bevor er die Arme auf seinem Bauch verschränkt ablegt. Immer bedacht darauf, mich auf keinen Fall zu sehr zu bewegen, um ihm nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, kopiere ich seine Pose und horche in die Stille. Mittlerweile ist Nele durch die Zimmertür zu hören, wenn ich mich konzentriere und es bringt mich zum schmunzeln. Dass so ein zierliches Wesen, zu solchen Geräuschen fähig ist?
Irgendwann ergreift Felix das Wort und beginnt leise zu flüstern: „Mein größter Fehler heißt Alila. Sie war meine Freundin und ist wegen mir gestorben." Seine Stimme vermittelt fast schon den Eindruck, als wäre es eine gleichgültige Anekdote, doch als ich meinen Blick von der weißen Decke nehme, werde ich eines Besseren belehrt.
Der Mond bietet weiß Gott nicht viel Licht, doch es reicht, um zu sehen, dass er sich verstohlen eine Träne von der Wange wischt.
Vorsichtig greife ich nach seiner Hand und streiche über den Rücken dieser. Nur ganz kurz, nur ganz vorsichtig. Es genügt aber, um mir eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. „Du musst mir das nicht erzählen. Ich war zu neugierig, das gehört sich nicht", versuche ich ihn davon abzuhalten etwas zu tun, was er im Endeffekt bereuen könnte.
Von seinem Vorhaben bringt ihn das jedoch nicht ab. „Wir kannten uns einige Jahre, bevor ihre Familie sie zwangsverheiratet hat. Der Arsch hat sie geschlagen und sie ist aus Istanbul geflohen. Nachdem ihre Brüder sie zusammengeschlagen haben, habe ich sie bei mir versteckt. Das muss irgendwie rausgekommen sein. Eigentlich wollten wir zusammen abhauen, weißt du?"
Mit jedem Wort wird seine Stimme brüchiger und es ist nicht das einzige, was in diesem Moment bricht. Was ich darauf sagen soll, weiß ich beim besten Willen nicht. Nichts auf dieser Welt wäre das Richtige und so sage ich gar nichts. Ich warte stumm ab und kämpfe – vergebens – gegen meine eigenen Tränen. Ihn anzusehen schaffe ich nicht.
„Ihre Brüder haben mich am Tag unserer geplanten Abreise aufs Feld gelotst, außerhalb der Stadt und da-" wieder bricht er ab. Dieses Mal nicht aufgrund der Schwere in seinem Herzen. Er will sich räuspern, doch kein Ton kommt aus seinem Hals. Hustend versucht er sich auf zu richten, japst kläglich nach Luft und jagt mir einen riesigen Schrecken ein. Instinktiv gebe ich einen Fick auf die Tatsache, dass ich irgendwen wachmachen könnte und schalte nach kurzer Suche das Licht an.
Das Taschentuch, was ich ihm als erstes gereicht habe ist klitschnass. Nicht, weil er gespuckt hat. Es ist an viel zu vielen Stellen Feuerrot. Vorsichtig richte ich ihn auf, aus Angst er könnte an seinem Husten ersticken. Die Erbsen klatschen auf den Boden und dass ich dabei besonders sanft vorgehe, wage ich zu bezweifeln. Dieser Fakt ist mir dabei aber erschreckend egal. Genau, wie die Tatsache, dass er mir in diesem Moment auf das Shirt spuckt und mein Gesicht nur knapp verfehlt. „Geht schon", krächzt er und schiebt mich einen Zentimeter von sich weg. „Vergiss es." Er ist käseweich, sämtliche Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen und ich bin mir nicht sicher, ob die glasigen Augen nur von seiner Geschichte herrühren.
Ohne, dass er möchte, dass ich es mitkriege, hält er sich die Seite beim Atmen und verzehrt nur für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht. Mir reicht es, spätestens jetzt reicht es mir.
„Ist mir egal, was du sagst, ich hole jetzt einen Rettungswagen."
Sofort versucht er, sich dagegen zu wehren, doch das sehe ich nicht ein. Er mag mich gerne für die dümmste Person unter der Sonne halten, doch ein Hämatom dieser Größe, gespickt mit seinen massiven Atemproblemen, kann einfach nicht normal sein. Mein Bauchgefühl kann mich nicht so derbe täuschen.
Da ich aber nicht weiß, wo sich mein Handy befindet, greife ich nach seinem auf dem Nachttisch. Flink - keine Ahnung, wo die Energie herkommt - greift er nach meiner Hand. Seine ist eiskalt und schweißnass.
„Thea. Bitte nicht", wimmert er und für den Bruchteil einer Sekunde halte ich inne. Der glasige Ausdruck seiner Augen kommt sicherlich nicht nur vom Alkohol oder seiner Geschichte und ich muss mir selbst eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. „Bitte. Ich kann dich hier nicht so liegen lassen", flüstere ich und erschrecke mich vor mir selbst. Meine Stimme ist brüchig, sie klingt flehend.
Statt mich aber aus seinem Griff zu winden, nehme ich bewusst seine Hand in meine, während ich mit der anderen sein Handy nehme und den Notruf wähle. Nur widerwillig verrät er mir die Adresse. Ob es ein gutes Zeichen ist, dass er endlich nachgibt, kann ich nicht definieren.
„In zehn Minuten sind sie da."
Unendlich lange zehn Minuten in denen ich schweigend bei ihm sitze und wir uns keinen Millimeter rühren.
Bis es klingelt, bleibe ich an seiner Seite, lasse seine Hand nicht los und höre ihm nur zu. Immer wieder wird er selbst von seinem Husten unterbrochen, doch er will die Alila-Geschichte unbedingt erzählen. Fast schon, als wäre das Letzte, was er auf dieser Welt tun möchte. Vielleicht bin ich auch zu dramatisch, zu emotional unterwegs und ein bisschen zu alkoholisiert, doch der Gedanke lässt sich einfach nicht abschütteln.
Erst die schweren Schritte der Sanitäter wecken Nele auf und während sich die Männer um Felix kümmern, versuche ich sie im Wohnzimmer aufzuklären. Schon beim Wort „Blut" kommen der jungen Frau die Tränen. Instinktiv nehme ich sie in den Arm und halte sie einfach fest. So lange, bis die Sanitäter zu uns in den Raum kommen.
„Wir müssen Herrn Wagner dringend in die Klinik bringen. Er will uns zwar nicht sagen, wie es zu seinen Verletzungen gekommen ist, aber es deutet alles auf innere Blutungen, beziehungsweise eine Verletzung der Lunge hin."
Spätestens jetzt setzt mein Herzschlag gänzlich aus und der Autopilot schaltet sich ein.
„Wir kommen mit", sage ich bestimmend und deute dem jungen Mann an, sich umzudrehen. Nele schlüpft in eine graue Jogginghose und ich kriege ihre Jeans. Es macht keinen Sinn, aber in der Situation ist es auch egal.
„Sie können nicht beide mitfahren", erklärt der zweite junge Mann, als Felix endlich im Krankenwagen liegt. „Ich lasse meinen Freund nicht alleine und seine Schwester bleibt bestimmt nicht hier. Sie haben gesagt, die Zeit drängt, also bitte."
Ohne darauf zu achten, was der Typ als Nächstes zu sagen hat, ziehe ich Nele zu mir in die enge Ruckelkiste.
„Freund, huh?" fragt Felix zwinkernd, greift aber mit seiner Hand nach der seiner Schwester. „Ach halt die Klappe", nuschle ich, kann mir aber ein Grinsen nicht verkneifen.
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Hey meine Lieben, ich muss mich mal wieder bei euch zu Wort melden. Bevor wir zum eigentlichen Grund kommen, möchte ich einfach noch mal Danke sagen, ihr seid einfach der Hammer und ohne euch, würden hier so einige Kapitel nicht stehen♥
Let's get down to business: Vor dem nächsten Kapitel möchte ich eine Art Trigger - Warnung aussprechen. Ich weiß, auch hier das Kapitel hat evtl. Trigger Punkte durch die Schlägerei. Wenn sich dadurch jemand getriggert gefühlt hat, dann tut mir das aufrichtig Leid! Vor dem nächsten Kapitel (von dem ich leider noch nicht genau sagen, wie schnell das geht und wie weit es ausarten wird) möchte ich jedoch "warnen".
Es wird sich um ein Special Kapitel, ähnlich dem "Träum weiter, Prinzessin" - Kapitel handeln, in dem ihr erklärt bekommt, was es mit Alila auf sich hat. Also mit dem Mädchen, dessen Grab Felix besucht hat, bevor er gekifft hat. Es wird um Kriminalität und Tod gehen, die für den ein oder anderen triggernd sein könnte.
Es ist schwierig das zu Formulieren, ohne zu spoilern. Nur so viel: Es ist nicht tragisch, wenn ihr das Kapitel überspringen solltet, es ist lediglich ein Special, um euch Felix ein bisschen zu erklären. - Das klingt jetzt schon wieder, als wär es ein unnötiges Kapitel; ist es nicht.
Ihr merkt, es ist schwierig. Dennoch wollte ich das gesagt haben. Habt noch einen schönen Tag, ok? ♥
[Hier müsste ein GIF oder Video sein. Aktualisiere jetzt die App, um es zu sehen.]
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