Kapitel 3 ↬ Nicht mein Block
Obwohl ich weiß, dass man es nicht tun sollte, steige ich wütend und ohne irgendwelche Streitigkeiten und Konflikte gelöst zu haben in den Zug.
Es ist Montagmorgen, mitten in der Nacht. Die großen Sommerferien halten nur noch eine Woche für mich bereit. Eine mickrige, verschissene Woche in der ich mich in einer völlig fremden und viel zu großen Großstadt zurechtfinden muss.
Hinzu kommt der morgendliche Kampf mit meinen Haaren, die sich einfach nicht entknoten lassen wollten, meinen Hoodie musste ich klamm vom Wäscheständer nehmen, weil ich vergessen habe, ihn über Nacht rein zu holen und meine Leggings rutscht in Gegenden, die sie eigentlich nichts angeht. Kurz gesagt: Ich bin schrecklich nervös und mindestens genauso genervt, denn zu meinen alltäglichen Problemen gesellen sich noch eine ganze Hand voll weiterer.
Mit meinem Onkel konnte ich obendrein immer noch nicht sprechen. Jedes Mal, wenn ich es probiert habe, erreichte ich nur seinen Mann; wenn überhaupt jemand den Hörer abnahm.
„Mach's gut, Große", äffe ich still murmelnd meinen Vater nach und schüre so nur selbst meine Wut. Sie hatten es nicht einmal für nötig gehalten, mich bis zum Bahnhof zu bringen, was zur Folge hatte, dass ich mich mitten in der Nacht in den Bus nach Bad Wildungen setzen musste. Diese nordhessische Stadt zählt zu einer der gefühlten Drölfzigtausend Heilbäderzentren in diesem Bundesland und abgewinnen kann ich ihr nun wirklich nichts. Außer, dass sie Ricardos Heimatstadt ist, bevor sich seine Eltern dazu entschieden die 15 Kilometer weiter zu ziehen, die mich nun vom Edersee trennen, weiß ich nichts über die Stadt im Waldecker Land.
Und wenn ich mich am Bahnhof so umsehe, will ich das auch nicht ändern.
Ein letztes Mal sehe ich aus dem Fenster, bevor ich mein Handy hervorziehe, um mein Online-Ticket ein letztes Mal zu studieren. Es ist gerade 7:05, ich sitze im Regionalexpress 23120 in Richtung Berlin. Theoretisch kann jetzt nichts mehr schiefgehen, sofern ich mich bei meiner einzigen Umsteigestation nicht verlaufe. Aber wie groß wird der Bahnhof in Kassel – Wilhelmshöhe schon sein?
Eigentlich könnte ich mich entspannt zurücklehnen, denn ich habe genau eine Folge »Suits«, inklusive Recap und Credits an Fahrzeit vor mir, bis ich umsteigen muss.
Stattdessen stöpsle ich zwar meine Kopfhörer ins Handy ein, lasse die Netflix-App aber geschlossen, denn ich habe noch eine Sprachnachricht auf WhatsApp, die auf mich wartet. Gestern Nacht habe ich mich nicht getraut sie anzuhören und bereue es, schon nach zwei Sekunden es jetzt zu tun.
»Ich weiß gar nicht so wirklich, wie ich die Memo hier anfangen soll. Ich schätze ein: Du wirst mir verdammt nochmal extrem fehlen, ist zwar angemessen aber doch irgendwie blöd.« Stille folgt. Wie lange sie den Atem anhält weiß ich nicht, aber ich erfahre sofort warum. So selbstsicher, wie sonst klingt sie nicht. Ihre Stimme ist brüchig, sie schnieft und spätestens dann ist jeglicher Groll vergessen. Meine beste Freundin schluchzt in ihr Handy und erklärt mir endlich, warum sie sich meinem Vater nicht entgegengesetzt hat und warum sie nicht zum Bahnhof kam, um sich zu verabschieden.
Traurig wische ich mir mit dem langen Ärmel meines zu großen Pullovers übers Gesicht.
»Ich wollte nicht, dass er noch mehr auf dir herumhackt, wenn er erfährt, dass ich den Studienplatz gekriegt habe, Tessa. Und wenn ich zum Bahnhof gekommen wäre, hätte ich meinen Zug nach Marburg verpasst. Ich habe eine Wohnungsbesichtigung - mehrere sogar. Bitte nimm mir nicht übel, dass ich es dir nicht gleich gesagt habe. Ich hab' dich lieb, hörst du? Und ich bin mir sicher, dass Berlin eine super schöne Zeit wird. Und sieh' es mal so: Es sind nur drei Monate.«
Zum Ende ihrer sieben Minütigen Sprachnachricht, kullern mir viel zu viele Tränen die Wangen hinab. Seltsame Blicke werden mir zugeworfen, doch es ist mir so schrecklich egal, denn ich habe das dringende Bedürfnis Lotte ganz fest in die Arme zu schließen und das Wissen, dass das mindestens die nächsten zwölf Wochen nicht möglich sein wird, beruhigt mich ganz und gar nicht. Die Beine fest an meine Brust gezogen sitze ich im Zug und offenbare der Welt meine bunten Socken. Im Gegensatz zu dem lachenden Hotdog auf ihnen, ist mir so gar nicht zum Lachen zu Mute.
Erst, als ich eine geschlagene Stunde später am Kasseler Hauptbahnhof ankomme, habe ich mich beruhigt und nutze die Möglichkeit meine beste Freundin anzurufen. Und lande prompt auf ihrem Anrufbeantworter.
»Lotte, es tut mir so leid! Ich hätte mir deine Nachricht so viel früher anhören sollen aber ich bin einfach ein ätzender Sturkopf« schieße ich direkt los und muss mich schwer beherrschen, nicht schon wieder das Heulen anzufangen. Für heute habe ich mich schließlich genug blamiert. »Ich wollte aber, dass du weißt, dass ich dich verstehe. Vermutlich hätte ich es genauso gemacht aber was noch viel wichtiger ist: Ich freue mich doch für dich! Warum hast du mir nichts von den WG-Castings erzählt? Bitte, bitte halte mich jetzt wenigstens auf dem Laufenden, ich möchte schließlich wissen wem ich meine beste Freundin anvertraue. Ich habe dich nämlich auch lieb.«
Ein lauter Piepser unterbricht mich forsch. Ihre Mailbox ist voll und ich werde gefragt, ob ich meine Nachricht so abschicken oder noch einmal aufnehmen will. Zweifelnd, dass bei Versuch Nummer Zwei etwas Besseres rauskommt, schicke ich meine Nachricht ab und verstaue mein Handy anschließend in der Bauchtasche meines Hoodies. Wobei mein Hoodie eigentlich nicht ganz richtig ist. Ohne, dass mein Vater es bemerkt hat, habe ich mich am Kleiderschrank meines Bruders bedient und werbe jetzt für Fleetwood Mac, ohne auch nur einen Song zu kennen. Tatsächlich weiß ich nur wegen der Tourdaten auf dem Rücken und den Gesichtern auf meiner Brust, dass es sich um eine Band handelt.
Somit lande ich Stimmungsmäßig innerhalb eines Wimpernschlages in einem unglaublichen Tief. Die Sorge und das aufgeregte Kribbeln wegen der riesigen Stadt verfliegt, denn es gibt etwas, wovor ich noch so viel mehr Angst habe: Das Gespräch mit meinem älteren Bruder. Sobald ich ihn offiziell gefunden und von einer Unterhaltung überzeugt habe.
Einige Briefe habe ich bereits in die JVA Plötzensee geschickt, habe mich hunderte Mal informiert, alles Mögliche 'ergoogelt', um auch wirklich sicher zu sein, dass er sie erhalten wird. Tommi hätte sogar die Möglichkeit mir zu antworten, doch getan hat er es bisher nicht. Vermutlich liegen sie einfach ungelesen in der Altpapiertonne.
Ob ich es ihm übel nehme, weiß ich nicht, ich hoffe nur inständig, dass er mich nicht mit unserem Vater in einen Topf wirft, denn ich habe ihn sicherlich niemals geleugnet und schon gar nicht abgeschrieben.
Nur eine genuschelte und stark rauschende Durchsage am Bahnsteig, holt mich aus meiner Grübelei. Mein Zug hat - sofern ich es richtig verstanden habe - zwei geschlagene Stunden Verspätung, aufgrund von irgendwelchen Notfall-Bauarbeiten. So viel sagt man mir zumindest, nachdem ich von einem Informationspunkt zum nächsten geschickt wurde.
„Und was soll ich jetzt bitte mit meiner Zeit anfangen?" nuschle ich genervt zu mir und drehe mich einmal suchend im Kreis. Automatisch fällt mein Blick auf eine kleine McDonalds Filiale und ich beschließe, mir dort zumindest einen Kaffee zu holen. Oder zumindest einen Kakao, denn Hauptsache warm und süß ist mein heutiges Motto. In der Zwischenzeit würde ich mir sicher ein oder zwei weitere Folgen »Suits« herunterladen können. Bevor ich aber irgendetwas dergleichen tue, schreibe ich Sebastian und bekomme überraschenderweise direkt eine Antwort.
„Super, dann kann ich dir die Couch noch beziehen...und vorher Bettwäsche kaufen", lese ich leise nuschelnd vor und kann nicht anders, als breit zu grinsen. Das klingt einfach Eins zu Eins nach dem niedlichen Theaterschauspieler.
So sehr er mich auch zum Schmunzeln bringt, den Ärger über die Verspätung nimmt er mir nicht.
Im Endeffekt stellt sich heraus, dass ich nicht die einzige bin, die das ‚Free-WIFI' Schild entdeckt hat. Das kleine McDonalds in der langen Bahnhofshalle ist viel zu überfüllt und selbst die Schlange vor dem McCafé besteht aus unzähligen Anzugaffen und Hipster-Girls, die einen Snap nach dem nächsten machen, um ihren Freundinnen zu zeigen, wie genervt sie doch sind, ihre wertvolle Zeit verschwenden zu müssen. Dass sie ohne die Verspätung etwas sinnvolles mit ihrem Tag anfangen würden, bezweifle ich.
Kurz um entscheide ich mich also gegen die riesige Fast-Food-Kette und mache mich stattdessen auf, eine andere Möglichkeit zu finden, mein Koffein- und Zuckerlevel aufzustocken.
Nach reiflicher Überlegung verlasse ich den Bahnhof. Reiflich deshalb, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass, ich mich verlaufen werde, wenn ich mich zu weit von dem Gebäude entferne. In meinem Kaff mag ich mich noch zurechtfinden, aber in einer fremden Stadt?
Kassel begrüßt mich mit leichten Nebel, gurrenden Tauben und unzähligen hupenden Autos, als ich durch den Ausgang trete und mir den Weg durch den überraschend großen Busbahnhof bahne. Überall nur grauer Beton und ich fühle mich sofort eingeengt. In Berlin wird es sicherlich nicht anders werden und ich würde am liebsten einfach umkehren.
Da ich aber keine Wahl habe, lasse ich meinen Blick weiter missmutig wandern und entdecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite immerhin ein tegut. ‚Wenigstens etwas, was ich kenne' schießt es mir schlechtgelaunt durch den Kopf. Nur kurz bevor sich mir das nächste Problem auftut.
Über die riesige, vierspurige Straße, die nur durch zwei S-Bahn Gleise getrennt wird, führt nur ein mickriger Zebrastreifen, statt einer Ampel, und so sehr mich mein Leben auch nervt, auf diese Art beenden möchte ich es nicht.
Somit wird auch diese Möglichkeit verworfen und in meinem Hinterkopf setzt sich ein Gedanke fest: Ich werde in Berlin keinen Tag überleben.
Frustriert und seltsam melancholisch setze ich meine Kopfhörer auf. Statt Netflix lasse ich meine Musikbibliothek auf shuffle laufen, nur um dann doch zu ‚Jet Black Heart' von 5 Seconds of Summer zu springen. Gerade jetzt bin ich einfach in der Stimmung für englische, melancholische Texte, die mich kleinkindhaft schmollen lassen. Die Australier sind weniger der englischsprachigen Musiker, die in meiner Playlist vertreten sind und helfen mir sehr, einfach abzuschalten.
Statt jedoch auf den Text zu achten, trommle ich mit meinen Fingerspitzen, passend zum Schlagzeug auf meinem Oberschenkel herum. Dass das ganz schön bescheuert aussehen muss, ist mir sowohl bewusst, als auch wirklich Schnuppe. Ich lebe streng nach dem Instagram-Influencer-Motto: Musik an, Welt aus.
Völlig in meiner eigenen Welt versunken, laufe ich einfach die Straße entlang, weg vom Bahnhof und staune nicht schlecht, als ich nach geschätzten zweihundert Metern ein Fleckchen grün entdecke. Wiese, Spielplatz, Basketballfeld, Bäume.
Einerseits freue ich mich tierisch, andererseits fühle ich mich wie der letzte Vollidiot, weil ich mich so freue.
Zerdenken hat mich aber bisher noch nicht wirklich weiter gebracht, also überquere ich die kleine Seitenstraße hinter dem Deutsche Bahn- Hotel und laufe schnurstracks auf die kleine Parkanlage zu.
‚Noch ist es früh am Morgen, vielleicht habe ich Glück', schießt es mir durch den Sinn, als ich mich umsehe. Beobachtet werde ich nicht, also schlüpfe ich flink aus den Turnschuhen, ziehe meine Socken aus und tue etwas unglaublich Dorf-Klischeehaftes, für das mich wohl jedes Stadtkind in die Zwangsjacke stecken würde: Ich laufe barfuß durch das vom Tau noch feuchte Gras.
Im Hintergrund läuft Max Giesinger leise durch meine Kopfhörer und ich komme mir vor, wie der letzte Vollidiot. Und gleichzeitig genieße ich die weichen Grashalme, die meine Zehen kitzeln, das Glück keinen Hundehaufen zu finden und den kühlen Tau auf meiner Haut.
Schon jetzt fehlt mir Nero schrecklich und das einzige, was mich aus meinem bekloppten, sentimentalen Moment holt, ist mein Handywecker. In weiser Voraussicht, dass ich den Anschlusszug sonst verpassen würde, aber ich mir eine Dreiviertelstunde eingeräumt. Wie schnell die Zeit vergangen ist, habe ich gar nicht bemerkt.
Aber mir bleibt leider nichts Anderes übrig, als missmutig und wieder mit Sneakern an den Füßen zurück zum Bahnhof zurück zu gehen. Zu gerne hätte ich mich auf die Schaukel gesetzt, hätte ein paar Körbe geworfen oder wäre barfuß durch den Sand gelaufen. Allerdings hat die ganze Sache mehrere Haken: Ich bin alleine, ich besitze keinen Basketball und direkt neben der Parkanlage ist die besagte vierspurige Straße mit den zwei S-Bahn Gleisen in der Mitte; und diese Problemchen führen die ellenlange Liste gerade einmal an.
Immerhin bekomme ich nun einen Kaffee und sogar noch ein Croissant mit Schinken und Käse, da sich die versammelte Hipsterfraktion bereits zum Gleis begeben hat.
Mit knurrendem Magen sehe ich auf das Croissant, mir läuft regelrecht der Speichel im Mund zusammen.
Und prompt verbrenne ich mir die Zunge. Der Käse ist schrecklich heiß, ich huste, pruste und spucke schließlich direkt vor mich. Zwei Zentimeter weiter und ich hätte die Schuhe eines Anzugträgers ruiniert. Beim flüchtigen Blick auf die Lasche erkenne ich, dass die Rechnung teurer gewesen wäre, als mein Leben überhaupt wert ist.
Feuerrot im Gesicht beginne ich eine Entschuldigung zu stammeln. Mehr hätte ich mich wohl nicht blamieren können. Statt mir aber mit Hasstiraden zu entgegen, plaudert der junge Mann irgendetwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Arabisch, türkisch, indisch – ich weiß es wirklich nicht. Auf jeden Fall sorgt er, trotz seines freundlichen Lächelns nur dafür, dass ich mich in Grund und Boden schäme und mich anschließend einfach leise aus dem Staub mache.
Für den Rest der Fahrt, und das sind immer hin 2 Stunden 45, verkrieche ich mich einfach in meinem Sitz und in der schimmernden Anwaltswelt von »Suits« und fiebere mit Mike mit. Ich versinke so sehr in meinem Handy, dass die Zeit nur so verfliegt. Nicht einmal aus dem Fenster sehe ich und so bemerke ich auch nicht, dass der Zug an meinem Ziel anhält.
Was mich tatsächlich davor rettet, komplett verloren zu gehen, ist der Abspann meiner Lieblingsserie und die darauffolgende Verkettung von Zufällen.
In dem Moment, in dem der Abspann anläuft, schließe ich die App geistesabwesend und bemerke, dass mir Sebastian vor zwei Minuten eine Nachricht geschrieben hat.
‚AUSSTEIGEN!'
Erst jetzt sehe ich wirklich bewusst von meinem Handy auf, komme aus der Smartphone-Welt, wieder in der Realität an und reagiere völlig hektisch und absolut überstürzt. Blind greife ich nach meinem Koffer und stolpere aus dem Zug heraus. Auf dem völlig überfüllten Bahnsteig, möchte ich eigentlich anhalten und durchatmen. Ich muss mich dringend sammeln und orientieren, denn ich weiß nur, dass ich mit der S-Bahn eine ganz schöne Strecke hinter mich bringen muss. Welche Linie mich nach Kreuzberg bringt, weiß ich allerdings nicht.
Stattdessen tritt man mir auf die Füße, rempelt mich an und ich verliere mein Handy. Ich höre es scheppern, mein Handy wird weggeschleift und ich bete zu Gott, dass es nicht im Gleisbett landet. Ohne das Ding bin ich komplett verloren.
„Scheiße!" fluche ich laut und begehe den nächsten Fehler.
Panisch gehe ich in die Hocke, klammere mich mit einer Hand an meinem Koffer fest und taste mit der anderen nach meiner einzigen Überlebenschance. Schnell bereue ich diese Übersprunghandlung, denn spitze Absätze sprengen meine Knochen gefühlt in tausend Einzelteile und ich jaule gequält auf. Niemand schert sich um mich und ich bin kurz davor mich einfach trotzig auf den Boden fallen zu lassen und anzufangen zu flennen.
Völlig überrumpelt bin ich dementsprechend, als mir eine zierliche Hand mein Handy entgegenhält. Der Bildschirm hat einige Kratzer und das Glas ist an der linken Ecke abgesplittert aber das ist fast schon Nebensache, denn ich bemerke jetzt, dass aus meinem Fast-Weinen ein tatsächliches Weinen geworden ist. Peinlich berührt wische ich mir über die Wange.
„Danke", nuschle ich und lasse mir von der Fremden aufhelfen. Warum weiß ich nicht, aber mir stechen ihre wilden, dunklen Locken sofort ins Auge und ihr freundliches Lächeln beruhigt mich ungemein.
„Ich will dir nicht zu nahetreten, aber brauchst du Hilfe?" fragt sie mich mit einem spitzen aber nicht bösen lächeln.
„Ist das so offensichtlich?" – ist das erste was meinen Mund verlässt und ich bin mir sicher, dass es absolut überheblich erscheint, wenn ich mit so einem sarkastischen Ton antworte, weshalb ich sofort nachschieße: „Bitte ja! Ich muss nach Kreuzberg kommen und ich weiß nicht wie." Dass ich mir nicht hundertprozentig sicher bin, ob ich ihr den richtigen Stadtteil genannt habe, lasse ich außen vor. Diese ganze Scheiße hier ist schon peinlich genug.
Völlig überrumpelt stolpere ich ihr hinterher, als sie mir anbietet, mich zur S-Bahn zu begleiten. Ob sie wirklich in dieselbe Richtung muss, bezweifle ich aber ich nehme ihr Angebot nur zu gerne. Die ersten zehn Sekunden in Deutschlands Hauptstadt haben mir bewiesen, dass das alte Sprichwort, absoluter Müll ist. „Stadt kann jeder. Dorf muss man wollen" heißt es und ich habe nie etwas Bescheuerteres gehört, dessen bin ich mir sicher, als ich völlig planlos neben Svenja stehe und auf die unzähligen Möglichkeiten blicke, die sich mir bieten. „Bei uns weißt du wenigstens, wann du wegkommst", murmle ich leise und kann mich kaum konzentrieren.
Zum einen liegt das an den unfassbar vielen verschiedenen S-Bahn Linien mit grausam vielen Stationen, deren Pläne ich weiß Gott nicht verstehe.
Allen voran aber an einer Gruppe Jugendlicher, die an den altgrauen Beton des Bahnhofsgebäudes lehnen, Zigaretten und eine Flasche unter sich rumreichen und lautstark etwas hören, dass sich – glaube ich – Musik schimpft. Sicher bin ich mir nicht, denn ein literarisches Meisterwerk ist es sicherlich nicht.
»Yeah du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus
Weil du denkst Du hast alles was Du brauchst
Doch im MV scheint Dir die Sonne aus'm Arsch
In meinem Block weiß es jeder, wir sind Stars!
Hier bekomm ich alles, ich muss hier nicht mal weg
Hier hab ich Drogen, Freunde und Sex
Die Bullen können kommen, doch jeder weiß hier bescheid
Aber keiner hat was geseh'n also könnt ihr wieder gehn'
Ok, ich muss gesteh'n: Hier ist es dreckig wie ne Nutte
Doch ich glaub das wird schon wieder mit'n bisschen Spucke.«
Den Kopf schüttelnd versuche ich mich krampfhaft auf Svenjas Erklärungen zu konzentrieren, verstehe jedoch akustisch nicht alles; glaube ich zumindest.
„Warte, ich schreibe es dir auf", bietet sie mir freundlich an, als ich immer noch keine Anzeichen von mir gebe, ihre Informationen tatsächlich zu verstehen. „Warte mal", entgegne ich ihr genervt und tue etwas – im Nachhinein betrachtet – wirklich lebensmüdes.
„Entschuldigung! Wäre es möglich, dass ihr die Musik ein bisschen leiser macht?"
[Hier müsste ein GIF oder Video sein. Aktualisiere jetzt die App, um es zu sehen.]
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