Kapitel 28 ↬ Irgendwie mag ich's.
Mein Abend also? Wenn es wirklich so wäre, dann säßen wir jetzt in einem verschissenen Biergarten und ich würde nicht barfuß hinter den Geschwistern herdackeln. „Alter, zieh endlich die Scheißschuhe an. Du trittst sonst nur in Scherben oder eine scheiß Heroinspritze, Junge", fährt mich Felix schließlich an, als wir auf irgendeiner Brücke über der Spree stehen.
Die Augen rollend lasse ich mich auf den Boden fallen und werde direkt böse angeguckt. „Was denn? Lieber eine Spritze im Arsch, als in den Füßen oder? Der ist eh fett genug", rutscht es mir über die Lippen und die nächste Minute hören wir nur noch Neles Schnappatmung, die nur von einem Satz unterbrochen wird: „Oh Gott, ich piss mich ein!"
Es wird also wohl kaum mein Abend werden.
„Okay, wo gehen wir hin?" fragt Nele schließlich und wischt sich einige Tränen aus dem Gesicht. Sie sieht aus, wie ein absoluter Psycho, doch das interessiert sie herzlich wenig. Stattdessen läuft sie dümmlich grinsend rückwärts ein paar Schritte voraus und beobachtet, wie mir Felix tatsächlich die Hand reicht und aufhilft. „Du bist komisch, wenn du betrunken bist", sage ich leise und ziehe eine Augenbraue in die Höhe, denn von ihm kommt nur ein stummes Schulterzucken.
Schon in der nächsten Sekunde begehe ich aber einen schweren Fehler, in dem ich vorschlage einfach den Abend zu beenden. Sie sieht mich an, als hätte ich vor ihren Augen ein Kalb geschlachtet und öffnet speerangelweit den Mund. „Nein!?" quietscht Nele eher, als das sie spricht und ich hebe sofort abwehrend die Arme. „Dann schlag halt was vor", kommt es von Felix. Wann hatte er bitte so viel getrunken, dass er jetzt schon schwächelte? Wenn ich Kopfschmerzen habe, dann lediglich von Tijans auffällig süßem Parfum und der miesen Musik.
„Also erstmal holen wir uns ein paar Kurze vorne in dem Späti und dann würde ich sagen, checken wir mal die Marabu Bar. Anna schwört drauf!" Felix Augenrollen ignoriere ich gekonnt. Stattdessen stichle ich und stimme Nele zu. Vielleicht kann man ihn ja damit aus der Reserve locken?
Bei dem kleinen Spätkauf angekommen, beschließe ich, auch Felix kann für seinen Abend arbeiten gehen und uns die kleinen Schäpse besorgen. „Meinste echt, der kriegt noch was?" fragt Nele schelmisch grinsend und klaut mir prompt die Zigarette zwischen den Fingern. Amüsiert beobachten wir durch das kleine Fenster das Geschehen.
Einmal stolpert Felix, schiebt es vor dem Verkäufer jedoch auf ein paar nicht ausgepackte Kartons, die in dem kleinen Gang herumstehen. Dass er tatsächlich ohne Mühe an Schnaps kommt, ärgert mich ein bisschen. Wenn ich überlege, wie Fritz reagiert hätte, wenn jemand so in seinen kleinen Laden vorne an der Ecke gekommen wäre – puh, er hätte ihn hochkant rausgeschmissen. Ein Bild, dass ich gerade wirklich gerne gesehen hätte. Warum ich heute so auf Krawall gebürstet bin, kann ich mir selbst aber auch nicht erklären. Eigentlich sollte man meinen, dass in meinem Leben und besonders heute, genug Drama geherrscht hat.
Er grinst, als er uns ein bisschen zu stolz die Tüte entgegen streckt. „Hab's." „Super Großer, kriegst 'nen Keks", erwidert seine Schwester trocken und reicht mir einen kleinen Jack Daniels. Für Felix bleibt wieder nur irgendeine süße, cremige Plörre und es tut mir nicht im Geringsten Leid. Stattdessen bin ich mir sicher, drei weitere und ich habe den arroganten Proll astrein unter den Tisch getrunken. Also vorausgesetzt, wir kommen heute noch in dieser komischen Bar an.
Der Weg durch die Stadt zieht sich nämlich länger als gedacht. Alles ist flach, nicht ein kleiner Hügel, den wir hinauflaufen müssen, bergab geht hier maximal nur meine Stimmung, doch trotzdem fängt Felix irgendwann an zu meckern, dabei ist er der einzige, der den Asphalt auf Sneakern entlang geht. „Och Bruderherz", flötet Nele süßlich bevor sie nachsetzt: „Halts Maul" und hackt sich anschließend bei ihm unter. Kurz legt sie ihren Kopf auf seine Schulter.
Und zum ersten Mal an diesem Abend schlägt meine Stimmung in eine ganz andere Richtung. Denn zum ersten Mal fällt mir auf, dass ich neidisch bin. So richtig neidisch, absolut grün. Und das nicht etwa, weil Nele so unsagbar schön ist oder, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass sie wesentlich intelligenter ist, als sie zunächst durchscheinen lässt. Auch nicht, weil Felix für den augenscheinlichen Bauernlohn viel zu gut angezogen ist. Nein. Ich bin neidisch auf das Verhältnis, dass die Geschwister pflegen. Oder viel mehr den Fakt, dass sie überhaupt eine Verbindung haben.
Die Worte meiner Mutter hallen in diesem Moment nach. „Ich habe mich schon gewundert, wann du endlich auf die Idee kommst. Das hat ganz schön lange gedauert."
Das hat es in der Tat und seit Tommi endlich auf meinen Brief geantwortet hat, kommt mir immer wieder ein Gedanke in den Sinn. Wenn es so ‚einfach' war, warum habe ich es nicht schon viel früher probiert? Warum gerade jetzt? Weil mein Vater sich augenscheinlich dazu entschieden hat, dass nun auch ich nicht mehr gut genug bin? Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich habe Angst. Angst, dass genau das der Grund ist. Dass ich nicht so ‚selbstlos' an die Sache heran gegangen bin, wie ich gedacht habe. Und am Schlimmsten: Was, wenn Tommi tief in sich genau das denkt und sich bloß gemeldet hat, weil sonst niemand da ist?
Aus Frust nehme ich mir einen weiteren Kurzen aus der Tüte und kippe ihn einfach achtlos nach unten. Nur das Rascheln des Plastiks holt die beiden aus ihrem viel zu perfekten Bild und die jüngere dreht sich um. „Hey, keine Zeit für Trübsal blasen", bestimmt sie und greift nun auch nach meiner Hand. Ich kann nicht anders, als verklemmt neben ihr her zu laufen und immer wieder zu ihr zu sehen. Nähe und Offenheit dieser Art bin ich einfach nicht gewohnt. Was leider auch genau das ist, was aus meinem Mund kommt, als man mich fragt, warum ich so Komplexe habe. „Awe", meint Nele und drückt mich einfach an sich. Stocksteif lasse ich es über mich ergehen, bis Felix lachend sagt: „Mein Gott, lass sie halt. Du machst sie noch kaputt."
Wieder antwortet die junge Frau nur mit einem gesäuselten Awe und ich frage mich, ob nicht eher sie die Kaputte von uns ist.
Bevor das Ganze aber noch weiter ausartet und ich mich noch mehr als Freak oute, trinke ich lieber den dritten Weg-Kurzen. Irgendwann muss schließlich auch bei mir etwas ankommen. Insgeheim wundert es mich ein bisschen, war ich doch früher zuhause immer die erste, die mit den Beinen in der Luft im Gras lag. Aber naja, was soll's.
Einige Zeit laufen wir also schweigend neben einander her, während ich mich um die Schnäpse kümmere. Von Jack Daniels, über Wodka-Feige bis zur Sauerkirsche und Sahnelikör ist alles dabei. Letzteres lasse ich eiskalt in der Tüte, sonst würde ich das weiße Plastik definitiv zweckentfremden müssen.
Diese Ruhe gibt mir aber auch Zeit meine Bleibe für die nächsten zwei Monate zu mustern. Lange schon laufen wir eine kerzengrade Straße entlang und neben ein paar dubiosen Gestalten auf der gegenüberliegenden Straßenseite, fallen mir nur zahlreiche Bäume auf, die hier gepflanzt wurden. Nichts kam mir je deplatzierter vor und trotzdem genieße ich den Anblick von etwas grün zwischen all dem grau. Auch, wenn ich es nicht zugeben möchte, zwischen dem ganzen hässlichen Grau, bei Felix und Nele – es ist ein komisches Gefühl, was ich weder in Worte fassen, noch mir selbst eingestehen kann und schon gar nicht will. Also atme ich die kühle Nachtluft tief ein.
Ein bisschen zu laut, wie es scheint, denn wieder sieht mich Nele fragend an. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, was für ein aufmerksamer Mensch sie ist. Neugierig? Auf jeden Fall. Aber vor allem aufmerksam, als würde sie aufrichtig interessieren, wie es ihrem Gegenüber geht. Es ist eine Gabe, die ich sonst eher vermisse. Schrecklich einfach kann sie mich lesen. Nur deshalb spreche ich aus, was mir durch den Kopf geht. „Irgendwie gefällt es mir hier." Ich spreche leise, beinahe schon flüsternd und trotzdem kriegt der junge Mann, der deutlich weniger Alkohol verträgt, als gedacht, genau mit, was ich da gesagt habe. Seine Lippen verziehen sich zu dem typischen Wagnerischen Grinsen. Die Sorte, die mich normalerweise direkt an die Decke katapultiert. Heute Abend ist es anders. Ich verdrehe die Augen, grinse aber zurück.
„Kannst du's nochmal sagen und ich nehme es auf?" ärgert er mich weiter und ich weiß, ich werde bereuen, was passiert ist. Trotzdem freut es mich auf eine komische Art und Weise, dass er mich doch noch aufziehen kann. Also nerve ich zurück. „Nele, wir müssen schneller laufen, ich glaube Felix wird wieder nüchtern." „Haha. Als ob du mich unter den Tisch trinken kannst, mir geht's Bestens!" Ich persönlich sehe das ein bisschen anders, aber wer fragt mich da schon.
Eine ganze Weile laufen wir noch durch die Straße und reden über allen möglichen, belanglosen Kram, bis wir endlich an Neles vorgeschlagener Location ankommen. Von außen gleicht die Bar mit ihren Efeuranken am Eingang und der weinroten Wandfarbe eher einem italienischen Café, als einer guten Bar und ich folge den beiden eher vorsichtig. Was genau ich erwartet habe, weiß ich im Endeffekt auch nicht, doch das Innere überrascht mich. Im ersten Moment glaube ich, Nele habe uns ins Wohnzimmer ihrer Oma entführt. Grüne Tapete mit fragwürdigem goldenen Blumenmuster trifft auf khakifarbene Sofagarnituren und Holzsessel. Auf einem kleinen Wandvorsprung befinden sich zahlreiche, durcheinander gewirbelte Bücher und es macht mich wahnsinnig. So chaotisch ich auch bin, am liebsten würde ich die blöden Werke einfach alphabetisch ordnen, doch Neles Abendplanung sieht anders aus.
„Thea zeigt uns hier und jetzt wie man auf dem Dorf trinkt." Eine Aussage, die mich tierisch wütend macht und dennoch eine Challenge, die ich gerne annehme. Während sich die Geschwister also einen Tisch im hinteren Eck aussuchen, begebe ich mich zur Bar.
So unauffällig wie nur irgend möglich, zücke ich mein Handy. Woher soll ich denn bitte wissen, wie sich Stadtkids, Dorfis beim Saufen vorstellen? Bis zu diesem Moment, habe ich so ziemlich jedes noch so kleine Klischee vollends bedient. Wenn ich also jetzt die Flagge wenigstens einen Zentimeter aus dem Grab heben will, dann muss mir etwas Gutes einfallen. Google hilft da herzlich wenig, also muss ich improvisieren.
„Sie haben nicht zufällig ein Kartendeck, dass man sich ausleihen kann?" frage ich deshalb vorsichtig bei der Bedienung nach und hoffe, dass die Größe meiner Bestellung ausreicht, um sie gnädig werden zu lassen. Nach diesem Abend werde ich definitiv einen Kredit aufnehmen müssen aber das ist mir egal. Mein Ego steht mir grandios im Weg, egal in welcher Situation. Da macht es heute auch keinen Unterschied mehr.
Als sich die junge Dame grinsend umsieht, zeige ich unauffällig auf unseren Tisch. „Hm ja, das ist schon ein Schnuckel", flüstert sie leise und ich kann nicht anders, als genau so vielsagend zu grinsen und zu sagen: „Oh ja, das ist sie wirklich." Girls müssen zusammenhalten oder so ähnlich war das doch oder? Wenn sie sich Felix krallen wollte, dann bitte. Ich wäre da wohl die allerletzte, die sich freiwillig in ihren Weg stellen würde.
Letztendlich bekomme ich also tatsächlich ein Kartendeck, meine bestellten Shots und sogar noch eine Serviette mit ihrer Nummer. „Hier, für dich", sage ich beiläufig, schiebe Felix den Wisch hin und widme mich dem eigentlichen Grund, warum ich heute hier bin. „Also Nele, kann's losgehen?" Felix ignoriere ich absichtlich, die Art, wie er die Bedienung mustert ist einfach eklig.
„Yes!" ruft Nele einen Schnuff zu laut und klatscht, für meinen Geschmack, zu euphorisch in die Hände.
„Sehr gut, ich habe zwei Optionen." Und damit beginnt ein langer Monolog, in den Felix schneller einsteigt, als gedacht. „Die ist mir zu Barbie", findet er kühl und steckt die Serviette auffällig unauffällig in den Aschenbecher vor uns. Was ein Arsch. Doch ich lasse mich davon nicht beirren und erkläre: „Wir können Captain Shithead spielen. Die Spieler ziehen dabei Reih' um eine Karte vom Stapel. Karten mit Zahlen sind Schlucke, die verteilt, also die schwarzen, oder selbst getrunken werden. Das wären dann die Roten. Beim Buben saufen alle Jungs, bei Dame wird eine neue x-beliebige Regel eingeführt. Bei Missachtung wird getrunken.
Nun der Clou: Wer König zieht, ist Captain Shithead. Dieser darf alles, so lange er sein Tun irgendwie begründet. Er darf Leute wegen ihrer schlecht sitzenden Frisur trinken lassen, wegen ihrer schlechten Laune, wegen dieses einen Abends vor drei Jahren, als der Kumpel ihm den Flirt versaut hat usw. Egal was, Hauptsache er nennt einen Grund.
Was der Captain sagt, ist Gesetz. Naja fast: Mit einem Ass kann man sich dem Captain entziehen."
Anhand von Felix' Gesichtsausdruck und Neles gerunzelter Stirn, bin ich mir sicher, das war ein klarer Reinfall und langsam werde ich ein bisschen nervös. „Okay, Option Nr. 2: Ping Pong Pang. Relativ easy: Einer sagt Ping, zeigt auf einen anderen, der sagt Pong, zeigt auf einen anderen, der sagt Pang, zeigt auf einen anderen, der sagt Ping, und immer so weiter. Wer verdaddelt, trinkt."
„Wow, seid ihr kompliziert", stellt Felix ziemlich richtig fest. Mir hingegen liegt auf der Zunge: „Vielleicht sind wir auch einfach intelligenter, als ihr, selbst wenn wir voll sind." Stattdessen lache ich verhalten und könnte mir selbst auf die Schulter klopfen, für den Gedanken, der mir in diesem Moment kommt.
„Wir können das auch ganz simple machen. Jeder darf abwechselnd an eine Person seiner Wahl, eine x-beliebige Frage stellen. Jeder darf alles fragen, man beantwortet, oder man trinkt. Wer lügt, kriegt einen Doppelten." Mit dem verführerischsten, teuflischsten Blick, den ich draufhabe, sehe ich die beiden abwechselnd an, doch es ist für die Katz'. Der schelmische Glanz in Neles Augen und das freche Grinsen verraten sie bereits.
„Perfekt, ich fange an", reißt sie deshalb das Kommando an sich. „Felix. Hast du in der Schule damals den Kerlen erzählt, wenn sie mich anfassen, gibt's aufs Maul?" Gleichgültig zuckt er mit den Schultern und während Nele sich lautstark darüber beschwert, er würde schummeln, bildet sich längst ein breites Grinsen auf seinen Lippen. Mein Kichern muss ich hinter meinen Händen verstecken. „Du Hund ey", flucht sie, nun endlich wieder ein bisschen ruhiger. Wirklich böse ist sie aber nicht, ihr lächelndes Kopfschütteln enttarnt sie. „Du hattest nur dumme Ficker in der Klasse, was sollte ich denn machen?" „Mich vielleicht mal in Ruhe lassen?"
Und so ziehen sich belanglose Fragen durch den Abend. Ich muss Felix gestehen, was mir meine Mutter heute erzählt hat und seine Reaktion, verläuft seltsam. „Technisch jesehen, is se jetzt ooch ne Berlinerin", versucht Nele es in grausamem Berliner Dialekt und sorgt für deutliche Lacher. Fast so sehr, wie die dreckigen Fragen, die wir uns irgendwie nicht verkneifen können, um die Stimmung aufzulockern. Fragen, die Felix regelmäßig empört mit „Junge, du bist meine kleine Schwester, ick will dit nich wissen, ja", kommentiert und einfach freiwillig Kurze kippt. Nie war es so leicht, jemanden abzufüllen.
„Ich wette dein erster Kuss war im Wald", feixt die junge Frau irgendwann und ich werde rot. „Ey, sag mal nich sie hat recht", fragt Felix spöttisch und irgendwie freue ich mich, dass er wieder da ist. Sein nerviges Ich hat mir den Abend über fast schon ein bisschen gefehlt. „Vielleicht?"
Wann die Stimmung jedoch eine Wendung nimmt, weiß ich im Nachhinein gar nicht mehr. Möglicherweise ist es auch meine Schuld, doch Felix Anblick, lässt mich nachdenklich werden. Mit der linken Hand stützt er seinen Kopf, als wäre er tonnenschwer. Mit der rechten spielt er mit dem leeren Schnapsglas vor ihm.
„Okay, Felix." Mehr abwesend, als wirklich an der Situation teilhabend hebt er kurz seinen Blick. Abwartend sieht er mich an und ich muss kurz schlucken.
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