Kapitel 26 ↬ Letzte offene Fragen

Der Arbeitstag verläuft definitiv nicht so, wie ich mir das erhofft habe, aber Gott sei Dank auch nicht so schlimm, wie erwartet.

Felix hält weitestgehend Abstand und verhält sich ruhig. Nach dem ätzenden Morgen ist das vermutlich auch besser so. Für mich bedeutet das, ganz normale Arbeiten, wie Mittagessen verteilen, Kaffee kochen, Medikamente ausgeben und mich zwischendurch um Al kümmern.

Zusammen sitzen wir viel länger am Klavier, als erwartet und ich kann mich nicht dran erinnern, wann ich ihn das letzte Mal so habe strahlen sehen. Wann ich das letzte Mal so zufrieden und ruhig war, weiß ich ebenfalls nicht. „Das macht ihr großartig!" schwärmt Regina zum vierten Mal in kürzester Zeit und schließt genießerisch die Augen. Klavierspielen kann ich selbst leider nicht, einfach, weil mein Vater immer gesagt hatte: „Wir haben Trommeln zuhause. Wenn du was spielen willst, nimm das." Also tat ich das auch. Während Al sachte die Tasten spielt, trommle ich leise mit ein paar Buntstiften, die ich im Personalraum gefunden habe. „Tina spielt toll, oder?" sagt Al und lehnt sich zu Regina, abwartend, dass er einen Kuss auf die Wange bekommt. „Auf jeden Fall", antwortet diese schmunzelnd, zwinkert mir zu und ‚bezahlt' den alten Mann neben mir dafür, dass er ihr Lieblingslied gespielt hat. „Bei Elvis geht ihr immer das Herz auf", wendet sich Albert an mich und grinst breit. Dass er mir auch das schon einmal erzählt hat, ignoriere ich gekonnt.

Der schöne Moment wird allerdings jäh unterbrochen, als mein Name forsch in den Raum gerufen wird. Frau Heidenkamp steht im Türrahmen des Aufenthaltsraums und sieht mich mit einem undefinierbaren Blick an. „Was kann ich für Sie tun?" frage ich vorsichtig, traue mich aber nicht aufzustehen. Auch Regina und Albert wirken mit einem Mal gar nicht mehr so unbeschwert, wie zuvor.

„Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten."

Prompt rutscht mein Herz in die Hose und meine Gesichtsfarbe macht der einer Tomate ernsthafte Konkurrenz. In Lichtgeschwindigkeit spielen sich die letzten Tage vor meinem inneren Auge ab und ich überlege fieberhaft, was ich verbrochen haben könnte, dass die Heimleitung so plötzlich mit mir sprechen will. Ob es gut oder schlecht ist, dass mir auf Anhieb nichts einfällt, weiß ich nicht. Somit stehe ich auf, lächle den beiden Senioren zu und folge der jungen Frau nach draußen.

Nach unerträglich langen Sekunden der Stille nehme ich all meinen Mut zusammen und frage: „Worum geht es denn?" Sie anzusehen, traue ich mich aber nicht. Stattdessen schaue ich betreten auf meine schwarzen Chucks, die auch schon deutlich bessere Tage gesehen haben.

„Ich habe mich einmal kurz mit Herrn Wagner unterhalten", antwortet sie und da ich ihren Ton nicht zuordnen kann, setzt mein Herz eine Sekunde aus. Das kann doch nicht sein Ernst sein oder? Hätte ich ihn einfach mal in seinem beschissenen Auto pennen lassen, denke ich und bereue mein Gedankenspiel eines um die nächste Leitplanke gewickelten Felix keine Sekunde später. „Er hat mir von Ihren Ideen erzählt." Moment mal, was? Woher weiß Felix davon? Und wieso spricht er mit der Chefin darüber? Mein Blick scheint meine Gedanken eins zu eins wieder zu spiegeln, denn ich werde prompt angelächelt. „Felix sagte mir, Sie haben sich in der Mittagpause über ein paar Nachmittagsprogramme unterhalten und wenn Sie möchten, dann würde ich gerne einen Termin mit Ihnen ausmachen, an dem wir darüber sprechen können." Kurz schweigt sie und gibt mir Zeit, das Gesagte zu verarbeiten. Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, wann Felix mein Notizbuch in die Finger bekommen hat. Abgesehen davon waren es keine wirklich guten Ideen, lediglich ein paar Stichpunkte, mehr oder minder geklaute Spiele, die ich online gefunden habe, als ich meine freien Minuten einmal sinnvoll nutzte.

„Wie ich eben gesehen habe, haben Sie schon einen super Draht zu den Bewohnern aufgebaut. Ein Grund mehr, mir Ihre Vorschläge anzuhören." Die junge Frau streicht mir kurz über den Arm, während sie mich freundlich anlächelt. „Junges, engagiertes Personal wird Hände ringend gesucht."

Inzwischen stehen wir vor dem Haupteingang und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Felix den Gang runter steht und wieder einmal mit Wrietz diskutiert.

„Wenn Sie möchten, dann bringe ich Ihnen am Montag eine ausgearbeitete Liste mit", schließe ich das Gespräch ab und werde mit einem „Ich freue mich", verabschiedet.

Ob sich Felix gleich genauso freuen wird, wage ich zu bezweifeln. Angefressen und mit vor der Brust verschränkten Armen laufe ich auf die beiden Männer zu.  „Jetz kriegste uffs Maul", höre ich Wrietz gehässig lachen, bevor sich der Angesprochene zu mir umdreht. In Sekundenschnelle verabschiedet sich sein typisch breites Grinsen. „...Hey", begrüßt er mich vorsichtig und zieht fragend eine Augenbraue in die Höhe, als er mein Gesicht mustert. Schneller, als wir beide reagieren können, rutscht mir die Hand aus.

Erschrocken von mir selbst und der ungewöhnlichen Übersprunghandlung, halte ich mir den Mund zu und unterdrücke einen kleinen Schrei. Völlig verdattert sieht er mich an, doch ich schieße einfach los. „Wieso wühlst du in meinen Sachen und warum zur Hölle sprichst du da mit Heidenkamp drüber?" Mein Puls steigt schon wieder ins Unermessliche und Felix muss gar nicht viel dafür tun. Sein aufgesetzter, planloser Blick reicht da schon völlig. „Ey komm, verarschen kann ich mich alleine. Woher soll die denn sonst von meiner Liste wissen?" Statt zu antworten, reibt er sich bedröppelt über die Wange und blickt mich an, wie ein angeschossenes Reh. „Man stell dich nicht so an, jetzt sind beide Seiten eben gut durchblutet", rutscht es mir kühl über die Lippen, weil mir erst jetzt auffällt, dass er auch heute Morgen schon eine Schelle kassiert hat. Es tut mir Leid aber Himmel nochmal, mir steht's Oberkante-Unterlippe.

Wieder sieht er mich nur an, als spreche ich über Linde, Birke und Buche und nicht von einer wahnsinnigen Verletzung meiner Privatsphäre. Von meinem Stolz ganz zu schweigen, auch, wenn es eine Ohrfeige vielleicht nicht hundertprozentig rechtfertigt. „Ich hab echt keine Ahnung wovon du redest", versichert er mir und der fehlende Glanz in seinen Augen verrät ihn. Jedes Mal, wenn er mich bisher verarscht hat, haben seine Augen verräterisch geglänzt, die stählerne Farbe wandelte sich in etwas fast schon zartgrünes. Jetzt wirkt er ehrlich ahnungslos und ich merke, wie die Temperatur in meinem Gesicht ansteigt. „Wie kommt sie dann an mein Zeug?"

„Wann hat sie dich denn angesprochen?" fragt er mich und gestikuliert in Richtung Personalraum. Langsam laufe ich neben ihm her und berichte von den letzten zwanzig Minuten. „Also muss sie heute davon erfahren haben?" erkundigt er sich zum zweiten Mal. Der Blick in seinem Gesicht macht mir ein wenig Angst, trotzdem nicke ich vorsichtig. „Wie hat deine Mama über Luca geredet?"

Mehr muss er nicht sagen, es fällt mir wie Schuppen von den Augen. „Ich bringe sie um." „Und ich sage Bescheid, dass du Pause machst", sind Felix letzte Worte, die ich gerade noch mitbekomme, bevor ich aus der Tür renne. Das gehässige Grinsen behalte ich ihm Hinterkopf, als ich die zwei Stufen auf einmal nehmend zu meinem Zimmer laufe.

Die hölzerne Tür ist nur angelehnt und schon an der Lautstärke erkenne ich, dass die blöde Ziege sich gerade schleimig an meine Mama ranzeckt.

„Du kleines Miststück", platze ich in mein eigenes Zimmer und sehe, wie Mama mit ihr auf dem Bett sitzt und Handyfotos durchsieht. „Theresa?!" empört sich meine Mutter, doch es könnte mir nicht egaler sein. „Verpiss dich", zische ich stattdessen an die aufgesetzt lieblich grinsende Fotze und deute mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Ausgangs. Nach der heutigen Aktion ist meine Geduld definitiv am Ende. „Los jetzt, da hat der Schreiner das Loch gelassen." Aber auch dieser Spruch interessiert sie nicht. Stattdessen besitzt sie die Dreistigkeit lächelnd neben sich zu klopfen: „Komm doch her, deine Mama zeigt mir grade alte Bilder. Dein Bruder ist ja wirklich niedlich. Und dein Pferd? Super schön."

Und mir reißt der Geduldsfaden nun wirklich endgültig. Ohne großartig darüber nachzudenken, packe ich sie unsanft am Arm, kann den Impuls, sie an den Haaren bei zu zerren gerade noch unterdrücken und zwinge sie, mir wenigstens in den Flur zu folgen. „Bist du eigentlich komplett behindert? Wenn du meiner Mutter noch einmal zu nahe kommst, fängst du dir eine, ist das klar?"

Ihr schadenfrohes Grinsen macht mich rasend vor Wut und ich vergesse beinahe, weshalb ich überhaupt hier hergekommen bin. „Was fällt dir eigentlich ein in meinen Sachen rumzuwühlen?"

Genau wie Felix zuvor, sieht sie mich für eine Sekunde planlos an. Ich kann den Groschen beinahe schon fallen sehen. Bei der nicht vorhandenen Intelligenz wundert es mich schon fast, das da überhaupt was fällt. „Ach weißt du, ich dachte es wäre zu einfach, mir deine Ideen zu klauen." Wieder steigt mein Puls ins Unermessliche und ich merke, wie sich meine Hand zu einer Faust ballt. Ich muss mich wahnsinnig beherrschen, doch schon mit ihrem nächsten Satz, werfe ich sämtliche meiner Prinzipien über Board. „Ich wusste einfach, es trifft dich mehr, wenn ich sage, es kommt von Felix." Wieder knallt mir eine Sicherung durch und ich kann mich nicht beherrschen. Keine Ahnung, was diese Stadt aus mir gemacht hat, aber es ist einfach ein unsagbar befriedigendes Gefühl, als meine flache Hand gegen ihre Wange klatscht. Mit einem roten Abdruck auf der linken Seite habe ich nicht gerechnet, doch es fühlt sich wahnsinnig gut an.

Abgesehen davon, wollte ich einfach schon immer mal eine Filmreife Ohrfeige verteilen. Felix war wohl bloß die Generalprobe für den Oscarreifen Moment in genau dieser Sekunde.

„Wow, krass!" fiept sie so hoch, dass vermutlich nur Wale sie hören können und hält sich die Wange, während sie mich ansieht, als wäre ich ein Geist. Zwanghaft versuche ich mein Grinsen und den brennenden Schmerz zu unterdrücken. Es gelingt mir nicht. „Du hast mir grade echt eine geknallt?!"

„Sei froh, dass es nicht die Faust war", höre ich eine markante Stimme. Ich stelle gar nicht erst in Frage, was er hier macht und wann er hier aufgetaucht ist. Stattdessen drehe ich mich um und halte ihm breit grinsend meine Hand hin. Es dauert und ich kann auch bei ihm sehen, wie es hinter den Augen mächtig rattert, bis der Groschen fällt. Aber irgendwann kriege ich mein High Five.

Absolut glücklich lasse ich daraufhin alles und jeden einfach stehen und laufe grinsend, fast schon hüpfend die Treppe nach unten. Wann ich mich das letzte Mal so frei gefühlt habe, so voller Adrenalin, kann ich wirklich nicht sagen aber es tut gut. Viel früher hätte ich das schon machen sollen, nur leider hilft es mir nicht, wenn ich daran denke, dass ich mir nun richtige Gedanken über mögliche Freizeitgestaltungen machen muss. Sicher, ich könnte der Leitung einfach nur mein Gekritzel überreichen, nur ob es so gut ankommt, weiß ich nicht. Ich zweifle sogar wirklich stark daran, dass meine ‚Ideen' gut ankommen, wenn ich sie nicht ausarbeite.

Nichtsdestotrotz muss ich über meine eigenen Gedanken schmunzeln und habe beim Betreten des Treppenhauses sofort einen Ohrwurm. „Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt der Igel zu dem Stachelschwein." Wäre mein Leben einer dieser überzogen romantischen Heimatfilme, würde genau dieses Schlagerlied nun im Hintergrund spielen, während ich grinsend, wie ein Honigkuchenpferd, beinahe über meine eigenen Füße stolpere.

Erst, als ich die Haustür zum Wohnheim erreicht habe, bemerke ich, dass Felix direkt hinter mir läuft. „Junge, das war so unsagbar cool! Hätte nie gedacht, dass ich das mal zu dir sage." Breit grinst er mich an und stößt mich kumpelhaft gegen die Schulter. „Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich das mal dulde, ohne dir im nächsten Moment ein Bein zu stellen." „Wow, sie kann auch schlagfertig", feixt er weiter und so peitschen wir uns hoch, bis wir im Altenheim angekommen sind. Dass ich tatsächlich mal mit Felix Wagner lachen würde, hätte ich in diesem Leben auch nicht mehr für möglich gehalten.

Ebenso wenig, die Tatsache, dass der restliche Teil meiner Schicht wirklich toll verläuft. Also so wirklich. Unerwarteter Weise scheint das heute wirklich ein guter Tag zu werden. Mittelschwere Katastrophen lassen auf sich warten und auch sonst passiert nichts Nennenswertes. 

Nur leider sehen das mit dem guten Tag wohl nicht alle so. Das stelle ich fest, als ich zusammen mit Felix die Einrichtung verlasse. Dr. Stahl und seine Frau lösten uns ab, schickten uns in den Feierabend und Felix hörte seitdem nicht auf zu plappern. Die Tatsache, dass ich ihn vor nicht einmal zwei Tagen zusammen mit Luca unter der Dusche erwischt habe, bleibt unausgesprochen und das ist wohl das Beste, was mir passieren kann. Auch ich würde liebend gerne so tun, als hätte es diesen Vorfall nie gegeben. Stattdessen muss ich aufpassen, nicht an meinem eigenen Lachen zu ersticken. „Ohne Mist, ich schwöre dir, ich hätte filmen sollen, die Ohrfeige war legendär!"

Kurz bevor ich wortwörtlich in meine Mutter renne, bleibe ich glücklicherweise stehen. Wirklich wahrgenommen habe ich sie nicht, doch ein Blick in ihr Gesicht reicht, um zu wissen, ich sollte besser die Klappe halten. „Frau Ziegler", Felix nickt Mama lediglich höflich aber betreten zu, bevor er sich mir zu wendet. „Nele schreibt dir, wegen heute Abend, ja?" Es ist immer noch komisch, sich ganz normal mit ihm zu unterhalten, doch ich fordere mein Glück lieber nicht heraus.

Die vor der Brust verschränkten Arme meiner Mama sagen schon ordentliches Gewitter voraus, da will ich nicht auch den Berliner Proll am Arsch haben.

„Hey Mama", versuche ich es auf die liebe ‚nix ist passiert - Art und Weise', beiße aber knallhart auf Granit. Schmollend steht sie mir gegenüber, funkelt mich aus dunklen Augen an und geht einige Schritte wortlos voraus. Bis zu meinem Zimmer wechselt sie kein Wort mit mir, denn sie weiß, die Stille macht mich noch viel fertiger, als auf offener Straße angebrüllt zu werden.

Aber auch mein kurzes Frisch – machen verläuft in absoluter Stille. Ich ziehe mich um, dusche mit Deo, schnappe mir meine Handtasche und wechsle von weißen Sneakers, in meine schwarzen, leicht lädierten Chucks.

Erst, als ich den Türgriff meiner Zimmertür in der Hand halte, räuspert sie sich endlich.

„Kannst du mir mal bitte erklären, was das für eine Aktion war? So haben wir dich nicht erzogen, Fräulein." Kurz muss ich leider die Augenrollen. Über das ‚Fräulein-Stadium' sind wir eigentlich hinaus. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich im Strahl reiern könnte, wenn ich dran denke, was meine Mutter über Luca denkt.

„Du verstehst das nicht", lautet meine simple Antwort, einfach, weil ich keine Lust habe zu diskutieren. Einen Moment lang überlege ich, mir die Kopfhörer reinzustecken, nur würde das wohl weder für mein Handy, noch für mich sonderlich gut enden. Also laufe ich dieses Mal schweigend voraus und lasse mich einfach von ihrer Moralpredigt, zwecks meiner guten Erziehung und den eingetrichterten Manieren berieseln. „Och Mama", rutscht es mir letztendlich über die Lippen, doch mein Satz versandet in einem kurzen, erschrockenen Schrei, als ich beinahe in meinen Onkel renne. „Was machst du denn hier?" Ertappt sieht er mich an und die komische Stimmung verdeutlicht sich in seinem Gesicht. Tomatenrot sieht er beinahe schon durch mich hindurch. „Claudia, du hast deinen Geldbeutel liegen lassen", sagt er leise und beantwortet meine Frage damit kein Stück. Stattdessen tauchen noch eine ganze Menge mehr auf. Angefangen mit dem allseits beliebten, hessischen Fragewort: „Hä?"

Dummerweise entschließen sich die Erwachsenen einfach dazu, mich zu ignorieren. Dankbar lächelt sie Guido an, nimmt ihr Portemonnaie und drückt ihn kurz. „Was zur Hölle?" frage ich noch einmal, nur für den Fall, dass meine Verwirrung noch nicht deutlich genug wurde.

„Ich bin dann auch schon wieder weg", verabschiedet sich Guido direkt und läuft zu seinem Wagen, als würden dreißig homophobe Schläger hinter ihm her sein. Mit weit offen stehendem Mund und hochgezogenen Augenbrauen sehe ich Mama an, zeige auf meinen Onkel und frage ein drittes Mal. Hab ich was nicht mitgekriegt? Bin ich spontan aus Glas und hab nicht ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, die mir herzlich Schnuppe sind?

„Lass uns etwas Essen gehen. Dann erkläre ich dir alles." „Dieses Alles hat besser keine Beschränkungen", nuschle ich in meinen nicht vorhandenen Bart und folge ihr widerwillig. Widerwillig und gutgläubig, denn für den Moment glaube ich wirklich, endlich Antworten zu bekommen. 

Da ich noch nicht wirklich viel von der Stadt gesehen habe und mich meine Mutter ziemlich gut kennt, ist unser erster Halt ein kleiner Spätkauf. Mit einer Stadtkarte in der Hand kommt sie wieder nach draußen und ich muss schmunzeln. „Was? Ich habe mein Handy in deinem Zimmer am Ladekabel gelassen", rechtfertigt sie sich lachend und ich kann nicht anders, als kichernd den Kopf zu schütteln. Da schmiss sie also lieber drei Euro sinnlos aus dem Fenster, als mir zu vertrauen? Kluge Entscheidung.

„Oh, lass uns unbedingt mal zum Kurfürsten Damm fahren", sagt sie mit leuchtenden Augen und ich bin mir sicher, Felix würde uns lynchen. Wirklich viel habe ich tatsächlich nicht mitbekommen. Aber aus ein paar Gesprächen in den Pausen ging deutlich hervor: Echte Berliner sind kein Fan von Touristen.

Uns ist das egal und ich freue mich einfach darüber, dass ich meine Mutter von meinem eigenen Gehalt zum Essen einladen kann. Auch, wenn es nur eine Hawaii-Pizza im Vapiano ist.

Keinen Bissen habe ich genommen, das Essen steht noch keine zwei Sekunden vor uns und es platzt aus mir heraus: „Was zur Hölle hast du gemacht, als ich arbeiten war?" Ohne auf meine Frage zu antworten, nimmt sie einen Bissen ihrer Pizza und schließt kurz genießerisch die Augen. „Großartig! Viel besser, als bei Bruno", findet sie und so sehr, mich auch freut, dass es ihr schmeckt: Ich habe die Schnauze voll. „Könntest du mir bitte endlich mal antworten?"

Sie schluckt schwer und ich bin mir nicht sicher, ob es an ihrem Mittagessen – oder viel mehr frühen Abendbrot – liegt oder an der Thematik. Irgendwie hinterlässt es bei mir aber ein komisches Gefühl in der Magengegend. Überrascht muss ich mich jedoch zuerst grillen lassen und beichten, warum ich Luca so gar nicht leiden kann. Am Ende meiner langen Ausführungen, was sie für eine widerliche Person ist, schluckt Mama erneut. Mehr, als ein betretenes „Oh", fällt ihr dazu nicht ein. „Du weißt, es ist nicht meine Art. Aber sie hat die Ohrfeige verdient", flüstere ich leise und bekomme sogar ein kurzes Ja. Auch, wenn sie Gewalt natürlich nicht toleriert.

Zu gerne würde ich die recht ausgelassene Stimmung ausnutzen und einfachen Smalltalk betreiben. Wie es Nero geht, was Papa so macht, wie die Dorffeste verlaufen sind und ob die Hitze zu Hause genauso drückend ist wie hier. Vielleicht hat es wenigstens geregnet und die Weiden sind nicht zu trocken. Ob Mama nach all den Jahren mal wieder ausgeritten ist? Nero braucht schließlich seinen Auslauf.

Allerdings habe ich eine Mission und frage ein letztes Mal nach Guido.

Verhalten sieht sie auf ihren inzwischen leeren Teller, während ich vermutlich eine kalte Rucola-Pizza essen werde. Dass sie mich nicht einmal ansieht, während sie erzählt, macht mir Sorgen, doch ich höre aufmerksam zu und kann nicht so richtig glauben, was ich da höre:

„Papa denkt, ich bin auf einer Fortbildung. Aber ich habe dich vermisst und wollte dich sehen, deshalb bin ich hier. Mir hat nicht gefallen, wie wir auseinander gegangen sind und auch, wenn Papa recht hatte und du langsam mal aus dem Arsch kommen musst, es war nicht richtig. Ich habe bereits ein Kind ziehen lassen, das passiert mir kein zweites Mal." Zum Ende des Satzes klingt sie immer heiserer und ihre Stimme senkt sich. Während ihre Augen verdächtig glänzen, versuche ich mich mit allem, was ich an Selbstbeherrschung bewahren konnte, zusammenzureißen. Vorsichtig greife ich nach ihrer Hand und bitte sie mich anzusehen. „Ich habe dich lieb, ja?"

„Ich weiß, ich dich doch auch. Deshalb will ich dir auch deine Fragen beantworten. Wo fangen wir an?" „Guido", lautet meine erste, offensichtlichste Antwort. „Die Streitereien zwischen ihm und Friedrich sind genau da. Zwischen den beiden. Ich habe damit nichts zu tun und wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, warum sich die Hammel immer noch streiten. Das geht schon so lange, ich glaube die beiden kennen den Grund selbst nicht mehr."

Die Frage, die mir als nächstes auf der Seele brennt, hinterlässt einen dicken Kloß in meinem Hals. Zur Hälfte habe ich sie mir selbst beantwortet, einen Teil verdanke ich Felix. Doch der Rest muss von meiner Mama kommen. „Warum sind Oma und Opa hier in Berlin gelandet und nicht zuhause? Lottes Oma war doch auch dort. Ederaue, oder wie das heißt."

Ich weiß nicht warum aber das kurze Lächeln meiner Mutter beruhigt mich ungemein und ich nehme den ersten Bissen der tatsächlich kalten Pizza. „Deine Uroma ist aus Kreuzberg. Als sie mit meiner Mama schwanger war, ist sie nach Pankow gezogen. Dein Opa kam als Grenzsoldat in 61 nach Berlin und hat sich verliebt. Simple und einfach. Deshalb hat Oma auch immer gesagt, wenn sie mal stirbt, dann zuhause." Die Erklärung ist tatsächlich simple und einfach. Sie lässt mich schmunzeln und ich spreche das erste aus, was mir durch den Kopf schießt. „Ich schätze, es sind nicht nur viele Wege, die nach Rom führen."

Dummerweise eröffnen sich dadurch aber noch viel mehr Fragen. Warum hat mir niemand erzählt, dass Oma und Opa noch länger gelebt haben, als ich damals angenommen habe? Warum haben wir sie nie besucht, keine Briefe geschrieben oder wenigstens telefoniert. „Das sind alles Antworten, die dir nur dein Vater geben kann, leider. Er hat sich damals mit deinem Opa zerstritten und auch da, weiß ich beim besten Willen nicht, warum. Über schlechte Dinge spricht Friedrich nicht gerne."

„Habt ihr Tommi deshalb aus eurem Leben gestrichen", rutscht mir auch dieser Gedanke ungefiltert über die Lippen und ich bereue es sofort. Die Augen meiner Mutter sind nun nicht mehr glasig. Verstohlen wischt sie sich eine Träne von der Wange, bevor sie in ihrer Handtasche kramt. Eigentlich gehe ich davon aus, dass sie Geld auf den Tisch knallt und geht. Doch stattdessen schiebt sie mir ein zerfleddertes Blatt über den Tisch.

„Ich habe morgen einen Besuchstermin. Hältst du mich wirklich für so herzlos?" Mama nicht, Papa schon. Aber das kann ich nun wirklich nicht sagen. Stattdessen ringe auch ich nun mit den Tränen und gestehe, dass auch ich Kontakt zu ihm gesucht habe.

 

Entgegen meiner Erwartung fängt sie einfach an zu lachen. „Ich habe mich schon gewundert, wann du endlich auf die Idee kommst. Das hat ganz schön lange gedauert."

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