Kapitel 2 ↬ Paukenschläge auf Trommelwirbel



Wild klopft mein Herz gegen meine Brust. Mein Puls rast und meine Gedanken fahren Achterbahn. Vehement schüttle ich den Kopf. Der Appetit ist mir gehörig vergangen und reflexartig springe ich vom Tisch auf. Dass ich mein Glas dabei mitnehme und die Cola über das Holz fließt, ist mir herzlich egal.

„Das kannst du nicht ernst meinen, Papa!?" kreische ich fassungslos und halte mich an der Stuhllehne fest, um nicht vollkommen durchzudrehen. Als würde mir das weiße Plastik den nötigen Halt geben, um nicht direkt in den Himmel zu schießen. Doch meinen Vater interessiert das Ganze so absolut überhaupt nicht. Seelenruhig schiebt er sich ein weiteres Stück seines saftigen Steaks in den Rachen, kaut genüsslich und scheint mich völlig zu ignorieren.

Solange, bis bei mir eine Sicherung durchbrennt und ich beginne zu schreien, egal, wie kontraproduktiv es eigentlich ist: „Kannst du deine beschissene tote Kuh einfach mal links liegen lassen und mir erklären, was das soll?"

Statt auf mein Geschrei zu reagieren, lässt mein Vater einfach nur seine Gabel sachte neben den Teller fallen, wischt seinen Mund mit einer hässlichen Serviette ab und sieht mich ausdruckslos an. „Natürlich meine ich das ernst, mein liebes Kind. Und du brauchst gar nicht so zu deiner Mutter schauen" - ertappt lasse ich meinen verzweifelten, hilfesuchenden Blick von meiner Mutter weichen und erst jetzt kommt die Erkenntnis so richtig bei mir an. Schlagartig wird mir eiskalt und ich muss heftig schlucken, als mein Vater weiter ausführt: „Deine Taschen sind bereits gepackt, hast du das noch nicht bemerkt? Du wirst die Kirmes noch mitmachen, schließlich hast du Verpflichtungen. Am Montag in einer Woche geht dein Zug, Sebastian weiß Bescheid."

Und damit hat sich das Gespräch für ihn beendet. Die Art, wie gleichgültig er mich ansieht, geht mir ebenso gegen den Strich, wie die abfällige Aussprache von Sebastians Namen. Der Lebensgefährte meines Onkels hat ihm nie auch nur ein Haar gekrümmt und trotzdem tut er so, als wären die beiden fanatische NPD-Anhänger und würden jeden Montag rechte Parolen vor sich her brüllen.

Diesen Kommentar kann ich mir aber gerade noch verkneifen, schlimmer möchte ich es nicht machen. Obwohl es wohl nicht wirklich schlimmer werden könnte.

Stattdessen sehe ich ein letztes Mal zu meiner Mutter, bevor ich stumm nickend auf dem Absatz kehrtmache. Sie ist immer auf meiner Seite, fängt die oft ungerechtfertigte Wut meines Vaters ab und besänftigt ihn häufig mit bloß einem Blick. Heute nicht. Warum ausgerechnet hier und jetzt nicht?

Wie auf Autopilot steuere ich die Garage an und ohne nach zu denken, steige ich auf mein Fahrrad. Zwar höre ich noch, wie meine Mutter mir hinterherruft, doch was sie sagt, verstehe ich nicht mehr. Zu sehr rauscht das Blut in meinen Ohren, zu schnell trete ich in die Pedale.

Als würde sich der liebe Petrus über mich lustig machen, fängt es keine zehn Minuten nach meiner überstürzten Flucht auch noch an zu regnen. Wochenlange Dürre wird nun endlich bewässert und das ausgerechnet dann, wenn ich mit meinem Fahrrad und ohne Jacke draußen unterwegs bin. Darüber kann ich nur unglaublich den Kopf schütteln. Das Lachen ist mir vergangen. Nichtsdestotrotz fahre ich einige hundert Meter die Landstraße an der Eder entlang. Erst, als ich an der Seite unsere kleine Bank entdecke, komme ich zum Stehen, lasse mein Rad einfach in das hohe Gras fallen und mich auf die hölzerne, nasse Bank. Ohne mich umzusehen, raufe ich mir die Haare und befolge einen gut gemeinten Rat, den mir mein Onkel vor vielen Jahren einmal erteilt hat: Ich beginne zu schreien. Laut, kräftig, verzweifelt.

Erst, als meine Stimme krächzend den Geist aufgibt, komme ich langsam wieder in der Realität an und bemerke, dass der langersehnte Regen auch schon wieder vorübergezogen ist. Trübe Wolken wandern bereits weiter und die Sonne kämpft sich ihren Weg zurück. Nicht zum ersten Mal, fühle ich mich, wie in einem schlechten ZDF-Vorabendstreifen aber diese Wetter-Metaphern setzen dem Ganzen wirklich noch die Krone auf.

Noch immer irgendwie benommen zücke ich also mein Handy, öffne WhatsApp und hoffe darauf, dass mein Datenvolumen diese Nachricht noch herausschickt. ›44‹ lautet die simple Nachricht, die für Außenstehende wohl absolut keinen Sinn ergibt. Rici wird es verstehen und das ist die Hauptsache. Lange muss ich deshalb auch ich nicht auf die richtige Antwort warten. Erleichtert atme ich auf, als ich seine Nachricht auf meinem Sperrbildschirm auftauchen sehe. ›3086?‹

Kurz antworte ich ihm mit einem 'Ja', bevor ich mich frage, in welcher geistigen Umnachtung mir dieser Kram eigentlich eingefallen, denn die zwei Vieren haben jeweils eine unterschiedliche Bedeutung. Die erste sagt ihm: Take Your Time Fo(u)r me. Die letzte bedeutet: Bitte bringe die vier essentiell wichtigen Dinge mit, damit ich nicht die Fassung verliere und das tut er.

Wie lange ich auf ihn warte, kann ich in Zahlen nicht ausdrücken, doch ich bin froh, dass er mich nicht im Stich lässt. Seine Begrüßung ist das Überreichen eines Beutels, gefüllt mit genau diesen vier Sachen: Ich bekomme eine Jacke, er hat zwei Schüttelkaffee dabei, eine 500 Gramm Tafel Zartbitterschokolade und eine Schachtel Zigaretten.

Während ich zu den klassischen Stressrauchern gehöre, frönt Ricardo regelmäßig diesem Laster und so ist es kein Wunder, dass ich auch nach dem dritten Zug noch immer hustend neben ihm am Rande der Landstraße 3086 sitze. Was wiederum seine Nachricht erklärt.

„Erzählst du mir denn was los ist, sobald du fertig gestorben bist?" fragt er neckisch grinsend und stupst mich in die Seite.

Statt Worten, verlässt nur ein Schluchzer meine Kehle und es ist mir schrecklich peinlich. Peinlicher noch als mein Anfänger-Husten nach nur einem Zug an der Zigarette.

Glücklicherweise schafft es Ricardo mich schnell zu beruhigen. Ein kurzes Streicheln über den Oberarm reicht völlig aus, dass ich mich wieder fange. Welche Wirkung der 21-Jährige Trompetenspieler wirklich auf mich hat, weiß er gar nicht, glaube ich. Schlimm ist es aber nicht.

Lieber hört er mir geduldig zu, unterbricht nicht und fragt Gott sei Dank auch nicht unnötig nach. Dass ich Job mäßig keine Leuchte bin, weiß er schließlich. Mittlerweile dürfte das ganze Dorf Bescheid wissen und es ist mir egal.

„Und Lotte hat nichts gesagt?" ist seine einzige Rückfrage, sobald ich meine Ausführungen beendet habe.

„Nein. Sie hat einfach nur zugeguckt. Mama hat noch irgendwas hinter mir hergerufen, als ich gefahren bin aber ich habe sie nicht verstanden." Kurz halte ich inne. Er wird mir nicht antworten können aber ich frage trotzdem: „Was mache ich denn jetzt?" Schließlich ist unser eigenes Dorffest erst der Auftakt der Saison. All die unzähligen Proben wären völlig für die Katz'. „Wozu habe ich mir denn die Posaune gekauft, wenn ich jetzt doch nicht dazu komme, sie zu spielen." Diese Frage kann er mir auch nicht beantworten, doch es hält mich von einem hässlichen Gedanken ab. Ob Lotte von Anfang an in den Plan meiner Eltern eingeweiht war und deshalb nichts gesagt hat?

Wirklich hilfreich ist sein Kommentar nicht aber übel kann ich es ihm auch nicht nehmen. „Du solltest doch ohne hin nur deine Basler spielen." Gut, schön, dass ich das auch mal erfahre, denke ich, sage aber nichts, denn ich habe das Gefühl heute schon viel zu viel geredet zu haben. Schweigen erscheint mir in diesem Moment eine fantastische Tätigkeit zu sein.

Ricardo scheint nichts dagegen zu haben, denn wir gehen einfach stumm nebeneinander auf den Bootsverleih in der Randstraße zu. Oft schon standen wir hier, schauten auf das Wasser und überlegten ein ums andere Mal, ob wir uns nicht doch ein Boot leihen sollten, um über den See zu schippern. Getraut habe ich mich nie, denn eine gute Schwimmerin bin ich nicht. Während er sich eine weitere Zigarette anzündet, trinke ich meinen Kaffee und hänge mal wieder meinen Gedanken nach.

Wie konnte ich nicht bemerken, dass mein Kleiderschrank halbleer war? Das musste er doch sein, wenn mein Vater tatsächlich schon meine Koffer gepackt hatte. Wie kommt mein Vater überhaupt auf diese Schnapsidee? Ob ich meinen Onkel einmal anrufen sollte? Oder zumindest seinen Lebensgefährten?

„Es wird langsam dunkel, Tessa", sind die Worte, die mich wieder in der Realität ankommen lassen. Und Ricardo hat recht. Ich bin müde und erschöpft und das einzige, was ich jetzt noch möchte ist schlafen. Aber nach Hause möchte ich nicht.

Also radle ich ihm langsam hinterher, ganz der Gentleman bringt er mich nach Hause und hilft mir dabei, mein Fahrrad in der Scheune zu verstecken. Das Garagentor zu öffnen, würde viel zu viel Krach machen, somit beschließe ich in der Scheune zu übernachten.

„Ist das dein Ernst?" fragt er ungläubig, grinst mich dennoch frech an.

„Klar. Für Notfälle habe ich immer Decken, Kissen und eine Matratze hier." Eine Tatsache, über die ich sehr froh bin. Der alte Heuboden ist längst schon zu klein, deshalb bauten mein Vater und meine Großväter einen neuen Speicher. Somit wurde das Ding zu einer Art Abstellraum umfunktioniert, was es mir wiederum ermöglicht auf der alten, aussortierten Couch zu schlafen, wenn ich nicht möchte, dass sie mich finden und die alte Matratze auf Dauer zu unbequem wird.

„Du hast einen Knall", verkündet Ricardo lachend, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und verabschiedet sich. Nicht jedoch, ohne mir die Schokolade, seine Jacke und eine Powerbank zu überlassen. „Meld' dich morgen früh, ja?"





Das tat ich.

Doch wirklich wieder sahen wir uns erst auf dem Dorffest; meinem letzten Tag zu Hause.



Egal, was ich auch tue, die sonst so ausgelassene Stimmung, die den Körper immer von Kopf bis Fuß zum Kribbeln bringt, bleibt aus. Stattdessen schaue ich völlig apathisch auf die Noten vor mir, sauge jeden kleinen Strich, jedes kleine Päuschen in mir auf und bete, dass ich mich nicht verspiele.

Ricardo wird neben mir laufen und ich denke, es wird mich beruhigen. Sicher bin ich mir aber nicht, denn wirklich versöhnt habe ich mit Lotte noch nicht. Auch wenn wir uns eigentlich gar nicht wirklich gestritten haben, bin ich enttäuscht. Ich hätte mir schlichtweg gewünscht, dass sie etwas gegen den Befehl meines Vaters gesagt hätte. Immer hin bedeutet es auch, dass wir uns nicht mehr sehen. Den Abschied von Nero habe ich dabei noch gar nicht in mein emotionales Tief mit einberechnet.

Stattdessen flaniere ich in meiner Kapellen-Uniform den Umzug bis zu seiner Spitze entlang. Wunderschöne Schleifen, verträgliche und ungefährliche Farbe, sowie geflochtene Strohzöpfe schmücken meinen wunderschönen Hengst. „Ihr habt die Scheuklappen und die Ohrenschützer vergessen", meckere ich sofort und greife in meinen Rucksack. Neben den Notenblättern, einer Flasche Wasser und einem Paar Ersatzsticks habe ich vorausschauend beide Utensilien eingepackt und versorge mein Pferd.

„Hast du nichts Besseres zu tun, Theresa?" tadelt mein Vater und erschreckt mich beinahe zu Tode. Auch Nero wiehert nervös auf und es fällt mir schwer, Pferd und Zunge zu zügeln.

„Du weißt ganz genau, dass er die lauten Trommeln und Fanfaren nicht leiden kann", kontere ich schnippisch, doch es interessiert ihn nicht. Stattdessen nimmt er die Schutzklappen ab und setzt Nero ein viel bunteres Exemplar auf. „Wenn du nicht immer glauben würdest, dass niemand außer dir diese Tiere kennt..." Der Rest seines Satzes bleibt unausgesprochen. Ich kenne ihn ohnehin schon. Er hätte mir nur wieder vorgehalten, wie besserwisserisch ich doch bin.

Ricardo ist es, der mich davon abhält, meinem Vater doch noch die Meinung zu geigen. Es brodelt schon lange in mir aber er unterbricht mich. „Tessa, kommst du?"

Mit einem Blick auf die Uhr realisiere ich, dass er recht hat. Der Umzug geht in fünf Minuten los. Somit wird Thomas, der Dirigent unseres Spielmannszuges, eine mehr oder minder motivierende Rede halten und die Kirmes wird zum zweiten Mal feierlich eröffnet.

Bevor uns Thomas aber einschläfern kann, zieht Thorsten - Gott sei Dank - seine Runde. Verschmitzt grinsend reicht der kleine Bruder des Dirigenten jedem einen Eierlikör. Unser Nachwuchs bekommt selbstgemachten Kakao. („Willst du uns unbedingt die Formationen versauen?!" - „Entspann dich Bruder, nimm 'nen Schluck Mut, der ist gut. Ursel hat ihn selbstgemacht.")

„Okay, Jungs und Mädels: Wer ist der coolste Zug?" Kollektiv und völlig bescheuert rufen alle ein lautes „Wir" und damit hat sich unser spärliches Ritual vor jedem 'Auftritt' auch schon erledigt.

„Hast du dir die Formationen noch mal angeschaut?" ruft Ricardo mir kurz vor der Kirche zu und ich nicke. Komplett gelogen ist es nicht. Die Wahrheit allerdings auch nicht.

Tatsächlich hoffe ich nur, dass ich Glück habe und Thomas die Formationen nicht noch einmal geändert hat, denn die letzten drei Proben habe ich verpasst. Stattdessen habe ich mich lange mit der Dame am Bahnschalter herumgeärgert, bis ich ein Zugticket nach Berlin zum Schülertarif bekommen habe. Eine Vergünstigung von beinahe 50 Euro wollte ich mir sicher nicht entgehen lassen, nur, weil ich an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag in die Hauptstadt reisen würde. Noch war ich Schüler und das sollte sie gefälligst auch berücksichtigen. Hinzu kamen noch weitere Vorbereitungen, die mich mein Vater erledigen ließ, obwohl diese ganze Misere seine Idee gewesen war.

Mit meinem Onkel konnte ich bisher noch nicht sprechen.

„Tessa!" zischte mir Thomas angestrengt zu und erst jetzt, komme ich wieder in der Realität an. Um ein Haar hätte ich meinen Einsatz verpasst, kann mich aber glücklicherweise rechtzeitig noch rehabilitieren. Die Blamage ist kurze Zeit später abgewendet und erst kurz vor Ende der Dorfrunde stellt sich das tolle Gefühl wieder ein.

Lachende Gesichter, klatschende Menschen und pure Fröhlichkeit, wahrer Stolz, all das umrundet uns, während wir unsere drei Kilometer durch das Dorf laufen und ich bin nicht nur Stolz auf unseren Spielmannszug, sondern auch auf Nero.

Am Festplatz angekommen laufe ich direkt auf ihn zu. Zumindest, nachdem wir unsere Ehrenrunde im Zelt gedreht und es meisterlich geschafft haben unseren Queen Medley nicht zu versauen.

„Ich bin stolz auf dich, Großer", flüstere ich in sein Ohr und reiche ihm den Apfel, den ich extra für ihn eingesteckt habe. Besorgt streiche ich ihm über die Flanken. Nero ist klatschnass geschwitzt und als ich genau das meinem Vater mitteile, scheint es ihn nicht die Bohne zu interessieren. Lieber bleibt er bei der freiwilligen Feuerwehr sitzen, lässt sich von Matze und Rüdiger ein Bierchen ausgeben.

„Du bist unmöglich!" keife ich und mache mich noch in Tracht aus dem Staub.

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