Kapitel 17 ↬ Am liebsten blind.

Zu sagen ich fühle mich, wie durchgekaut, ausgespuckt und anschließend noch einmal durch den Fleischwolf gejagt, ist wohl die Untertreibung des Jahrtausends. Wie viel Uhr ist es eigentlich? Desorientiert fahre ich herum, die Decke liegt schon wieder am Boden aber zumindest ich selbst mache ausnahmsweise Mal keinem Schlangenmenschen ernstzunehmende Konkurrenz. Völlig ohne Gefühl von Raum und Zeit drehe ich mich im Bett.

Mit Erschrecken muss ich feststellen, dass ich lediglich fünf Stunden geschlafen habe. Zumindest, wenn ich das ‚übernachten' im Archiv außen vor lasse. Denn der Erholungsfaktor dessen, glich wohl eher einem viel zu langen Campingtrip, als gesundem Schlaf.

Völlig geledert krieche ich aus dem Bett und überlege, was mehr Sinn macht. Erst duschen und dann einen ordentlichen Kaffee trinken oder erst einen Auflöse-Kaffee-Mist, damit ich überhaupt wachsam genug duschen kann? Im Endeffekt nehme ich mir alles drei vor.

Mit einer Tasse Auflöse-Kaffee-Mist im Blut, eingewickelt in ein großes Handtuch und den Kulturbeutel unter dem Arm geklemmt, trete ich vorsichtig auf den Flur. Dieses ganze Gruppenduschen-Situation macht mich immer noch fertig. Nicht so fertig allerdings, wie die Geräusche, die ich auf dem Flur wahrnehme. Habe ich mich vorhin beim Kaffeetrinken vor dem offenen Fenster also doch nicht verhört. Nur wollte ich nicht wahrhaben, dass man in einem Schwesternwohnheim eines Altenheims (wer hier noch so wohnt, habe ich schon wieder verdrängt) tatsächlich angetörnt werden konnte. Also schleiche ich leise kichernd und ein bisschen prüde den Kopf schüttelnd in das Badezimmer.

Vor der Tür öffne ich die Spotify-App auf meinem Handy und scrolle ein wenig durch meine Bibliothek. Dummerweise sehe ich dadurch nicht sofort, wo ich eigentlich lang laufe. Doch die Geräusche werden mit Aufstoßen der Tür immer lauter und vielleicht liegt es an meiner Müdigkeit, dass ich nicht sofort schalte. Vielleicht ist es aber auch der naive, unschuldige Teil in mir, der einfach nicht glauben will, dass man, wenn man schon in einer Dusche ficken muss, nicht wenigstens abschließt.

Es ist wie ein Unfall; ich will nicht, aber ich muss einfach von meinem Handy hochblicken und oh mein Gott, wie ich es bereue. Zumindest sobald ich realisiere, wer hier wen gegen die Wand knallt. Im ersten Moment muss ich schlucken. Der Po ist heiß, die Rückenmuskeln nicht von schlechten Eltern und auch die muskulösen Arme gefallen mir.

Allerdings kommt mir mein Kaffee wieder hoch, als ich die Frau erkenne. Genießerisch ziehen ihre Lippen eine Spur von seinem Ohr bis hin zu seinem Mund und alleine der Gedanke daran, dass irgendjemand so dämlich ist, sich auf Luca einzulassen, lässt mich Mitleid haben. Der Typ muss schon echt dumm sein.

In der Realität vergehen vielleicht dreißig Sekunden, doch es fühlt sich schrecklich lange an, bis ich mich wieder sammle. Gerade, als ich die Tür wieder öffnen und einfach nach draußen schleichen will, höre ich einen schrillen Schrei. Prompt zucke ich erschrocken zusammen und muss mein Zeug vom Boden auflesen. Am besten ohne meinen Po ebenfalls zur Schau zu stellen.

„Du bist so ein notgeiler Vollidiot, ey. Kannst nich mal die Scheißtür zu machen, Spast."

Tja, fickt halt in deinem Zimmer, du Fotze – Es sind keine schönen Worte, doch sie kommen mir direkt in den Sinn. Das wahre Kotzen bekomme ich, als sich der Typ zu Wort meldet. Dass er ein Vollidiot ist, wusste ich vorher schon. Dass er tatsächlich so dumm ist, sich auf Luca einzulassen, überschreitet alles. Mit Müdigkeit kann man sich das auch nicht mehr schön reden.

„Ach komm, du wolltest auch lieber sofort, als später." Wow. Ein wahrer Poet. Richtig romantisch, ich bin beeindruckt. „Ach und Theresa?" Er wendet sich mir zu und denkt gar nicht daran, sich irgendwie zu bedecken. Warum auch? Blöderweise fahre ich herum, als ich meinen Namen höre: „Hm?". Und ich bereue es direkt. Ein Bild brennt sich in mein Unterbewusstsein, was ich wohl so schnell nicht mehr vergessen werde.

„Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber mitten drin abzubrechen ist schon echt scheiße. Ich würde dann gerne weiter machen, ja?" Er flötet süßlich in einer Tonlage, die ich bisher noch nicht von Felix kenne. Dass Verachtung und Spott mitschwingt, ist natürlich selbstverständlich.

„Ach so, ja natürlich, sorry. Viel Spaß!"

Draußen vor der Tür muss ich mich einen Moment sammeln, tief durchatmen und realisieren, was ich grade gesehen habe. Und verdrängen. Ich muss ganz dringend verdrängen. Vor allem fühle ich mich absolut bescheuert. Viel Spaß. Habe ich das wirklich gerade gesagt? Oh Shit, das wird er mir bis zu meiner letzten Sekunde in dieser blöden Stadt aufs Butterbrot schmieren.

Verwirrt und vermutlich auch ziemlich verstört, stolpere ich zurück in mein Zimmer und lasse mich nur in mein Handtuch eingewickelt aufs Bett fallen. Oh Gott ist das eklig. Das Badezimmer an sich ist schon keimig und eklig und unangenehm. Wenn ich mir jetzt noch vorstelle, wie sich Felix an die Wand entleert, weil er keine Lust auf eine zweite Luca oder einen noch kleineren Felix hat, muss ich brechen.

Erst mein vibrierendes Handy holt mich aus den Albträumen. Wieso habe ich die ganzen verpassten Anrufe und Nachrichten nicht früher gesehen?

Die erste, die mir ins Auge fällt kommt von einer unbekannten Nummer und es dauert eine ganze Weile, bis ich checke, wer es ist. War ich gestern wirklich so müde, dass ich mich bei meiner Kottbusser Tor-Bekanntschaft ausgekotzt habe?

»Ich hoffe der Tag wird besser, als gestern :) »

Oh ja, das hoffe ich auch. Antworten werde ich ihm aber später, denn mir fallen noch viel wichtigere Nachrichten auf. Mama, Papa, Sebastian und Onkel Guido. Alle schrieben mir -mehr oder minder- besorgt noch letzte Nacht, nach meinen Anrufen. Trotzdem beschließe ich nur Mama und Guido zu antworten. Der Rest wird auch ohne mich mitbekommen, dass ich noch lebe.

»Danke für die ganzen Lügen :)))» schreibe ich an meine „Familie" und beschließe mich nur so zu melden. Sie verdienen es, ignoriert zu werden. Auch, wenn ich dasselbe mit Sebastian vor hatte, schaue ich noch einmal in unseren Chat.

»Hole deinen Kram bitte. Hier ist noch Post» hat er mir, mehr als nur einmal, geschrieben und genau das werde ich tun. Zumindest sobald ich angezogen bin und die Zeit gecheckt habe. Viel habe ich nicht, aber, wenn ich Glück habe, kann ich mich bei meinem Onkel kurz frisch machen.

Und tatsächlich: Guido und Sebastian sind nicht zuhause. Mit dem versteckten Ersatzschlüssel verschaffe ich mir Zutritt und werde sofort von Stefan über den Haufen gerannt. Lachend auf dem Boden sitzend, streichle ich seinen Kopf und kann gerade noch rechtzeitig aufstehen, bevor er sich mit seinen gefühlten 100 Kilogramm auf mich pflanzt.

„Ich habe dich auch vermisst, Großer", flüstere ich und schließe meine Arme um seinen Hals. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, legt das große Kalb seinen Kopf auf meine Schulter. Und das ist wohl die beste Umarmung der Welt. Nichtsdestotrotz habe ich eine kleine Mission.

Nachdem ich Stefan ein wenig seines Lieblingsfutters in den Napf getan und es mit ein paar Knusper-Leckerlies garniert habe, gehe ich ins Badezimmer, um mich frisch zu machen. Auch, wenn ich nicht wissen konnte, ob meine Familie zuhause ist, habe ich mir ein paar Wechselsachen mitgenommen. Unterwäsche, Socken, ein T-Shirt. Nur das Nötigste, um mich nicht mehr zu fühlen, wie der letzte Penner. Gut, trotzdem verhalte ich mich ein bisschen so, sobald ich Sebastians Shampoo entdecke. Der junge Mann schwört auf diesen bio-ökö-Kram und ich könnte nicht sagen, wann meine Haare das letzte Mal so wunderbar weich und knotenfrei waren. Deshalb nehme ich heute eine extra große Portion, massiere es extra lange, bis in die Spitzen und lasse das lauwarme Wasser auf mich niederprasseln.

So langsam aber sicher ist die Hitze, von der alle sprechen, in Berlin angekommen und sie scheint sich auch nicht wieder verpissen zu wollen. Heiß duschen, kann ich knicken. Spätestens, wenn ich die Wohnung wieder verlasse, stehen mir die ersten Schweißperlen auf der Stirn, daher ist es pure Wasserverschwendung, was ich hier mache, doch es ist mir herzlich egal.

Genau so, wie die Tatsache, dass ich nichts Besseres zu tun habe, als den Kühlschrank zu plündern, sobald ich fertig geduscht bin. Schlimmer ist es eigentlich nur, dass ich so eklig bin und mir auch noch ein bisschen was einpacke. Zwei Äpfel, eine Packung meines Lieblingskäses, den sie ohnehin nur durch mich kannten, eine Tüte Milch, eine Packung Nudeln, eine Dose Ravioli und ein bisschen Müsli. Mehr als 10€ habe ich leider nicht einstecken, also schreibe ich ihnen einen Zettel. »Konnte nicht mehr einkaufen, hier ist nen 10er. Stefan war Gassi, mein Kram ist weg. Schönes Leben noch ♡ «

Ich bin beleidigt, das bin ich wirklich und ich bin mir sicher, ich habe auch alles Recht dazu. So rechtfertige ich mir meine Aktion. Lügen würde ich aber nicht, also schnappe ich mir den kleinen Stapel Post, stopfe ihn in den Beutel und mache mich auf zur Tür. „Steffi!" rufe ich und warte darauf, dass sich der Pudel aus seinem Körbchen erhebt. Anscheinend kennt er diesen Ton in meiner Stimme schon. Von ganz alleine greift er sich die Leine vom Schuhregal und trottet schließlich neben mir die Treppe nach unten, während ich meine noch nassen Haare zu einem Zopf zusammenbinde.

Mit einem Blick auf die Uhr muss ich allerdings feststellen, dass es nur für eine kleine Runde um den Block reicht. So muss ich ihn regelrecht anflehen, endlich sein Geschäft zu erledigen, damit ich nicht gänzlich zu spät zu meinem Dienst erscheine.

Auf dem Rückweg schiebe ich mir nur schnell den Apfel rein und nehme mir vor, mir in der Pause einfach die Ravioli warm zu machen. Bevor ich aber meinen „Einkauf" in meinem Zimmer verstaue, werfe ich noch einen Blick auf mein Handy. Mein Onkle scheint noch nicht zuhause angekommen zu sein, andernfalls wäre es schon eskaliert. Statt einer Nachricht von ihm oder seinem Lebensgefährten, taucht in dem Moment, in welchem ich es eigentlich wieder in die Hosentasche stecken will, eine neue Nachricht auf.

Ein einfacher Link zu einem YouTube Video. Mein Vater würde jetzt bestimmt sagen: Nicht drauf klicken, vielleicht ist es ein Virus oder so. Gut, dass er nicht hier ist. Wobei, wäre er hier, würde ich es trotzdem tun und so schmeiße ich mich einfach nochmal auf mein Bett und hoffe, dass das WLAN mich nicht verlässt.

Überrascht stelle ich nicht nur fest, wie schnell das Video heute lädt, sondern, dass dort Nils auf einem Balkon steht. Die dunkle Sweatshirtjacke von vorgestern tragend und eine Gitarre in der Hand. Gespannt drücke ich auf Play und lese mir die Videobeschreibung durch. Doch schon nach den ersten zehn Sekunden interessieren mich keine Beschreibungen, keine Kommentare und auch keine Views und Likes. Ich halte inne, muss schlucken und konzentriere mich nur noch auf Nils' Stimme und den Text. Alles, was ich am Kotti über ihn und seine Musik gedacht habe, hat er mit einem einzigen Satz in einem einzigen Video über den Haufen geworfen. Ob ich mich zu wichtig nehme? Vielleicht. Aber es kann kein Zufall sein, dass das Video erst seit 36 Stunden online ist.

Das Lied läuft auf Dauerschleife, während ich mich für die Arbeit fertig mache, als ich einmal über die Straße renne und mich im Personalraum melde. Die kleinen Kopfhörer lassen sich gut unter meinen langen Haaren verstecken, während mir Nils' raue Stimme entgegen hallt:
„Ich hab' gedacht, ich hab' sie abgehängt/ Aber sie holt mich immer wieder ein/ Sie tut mir bis heute weh/ Und hat mich so oft abgelenkt/ Vielleicht brauch' ich noch mehr Zeit/ Ich will nicht traurig sein und ich will nicht drüber reden/ Ich will der ganzen Scheiße nicht nochmal begegnen/ Ich will nicht traurig sein und ich will nicht drüber reden."

Seine Stimme ist purer Sex und ich bin kurz davor, ihm genau das zu schreiben. Doch mein Alltag holt mich schneller ein, als mir lieb ist.

„Ziegler!" brüllt eine Stimme, die sicherlich nicht purer Sex ist aber heute Morgen, in mehr oder minder meiner Gegenwart, welchen hatte. „Antanzen!"

Oh Gott, bitte nicht, bitte lass ihn keine Anspielungen machen, bitte, bitte, nicht; denke ich mir in Dauerschleife und vergesse dabei, Felix richtig zu zuhören.

„Kapiert?" fragt er und holt mich so, aus meinen Gedanken. Lächelnd nicke ich einfach und hoffe, er hat nichts Wichtiges gesagt.

Doch das Glück ist auf meiner Seite. Regina scheint eigentlich irgendwas von ihm gewollt zu haben. Stattdessen bittet sie mich, sie zum Gruppenraum zu begleiten, schließlich sei sie so wackelig auf den Beinen mit den blöden Krücken. Sobald Felix außer Hörweite ist, bleiben wir stehen und sie zieht mir einen der Kopfhörer aus. „Ich finde ihn auch manchmal echt blöd aber er ist ein guter Kerl. Du solltest ihm hin und wieder mal zu hören, Kindchen." Das mit dem guten Kerl wage ich zu bezweifeln, doch ich schmunzle nur. Die alte Dame ist wirklich cool. So cool, dass sie für mich wiederholt, was der Depp eigentlich von mir wollte.

Medizin sortieren, Mittagessen ausfahren, Kaffee kochen und dann im Gruppenraum die Bingo-Karten verteilen. Prima. Klingt nach einer Menge Spaß. 

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