Kapitel 16 ↬ Immer und immer


„Falls der Medizinische Kassendienst Fragen haben sollte", äffe ich Felix' überheblichen Ton stinksauer nach und lasse mich auf den alten Stuhl fallen. Knarzend und ruckelnd gibt er mir zu verstehen, dass ich das besser sein lassen sollte.

Völlig gefrustet stehe ich also wieder auf, schiebe das alte Scheißteil bei Seite und sehe mich um. Unzählige Akten stapeln sich auf dem Tisch und schon bei einem kurzen Blick sehe ich, dass es ein absolutes Chaos ist. In den Regalen um mich herum sieht es nicht besser aus. Verdammte Scheiße, ich habe doch überhaupt keine Ahnung von dem Mist. Nur weiß ich genau, wenn ich Felix um Rat frage, lacht er mich aus und gibt alles andere, als hilfreiche Tipps. Sitze ich hier meine Zeit ab und tue nichts, macht er mir die nächsten Wochen sicherlich nicht angenehmer.
Zwar hat mir Gaby netterweise versichert, ich könne sie zu jeder Zeit anrufen, sollte ich Fragen und/oder Probleme haben, doch die Gute hat endlich Feierabend und nerven möchte sie da wirklich ungern. Abgesehen davon ist der Handy-Empfang wirklich miserabel hier unten und ich muss mir die Stelle mit den zwei Balken genau einprägen. Keinen Millimeter darf ich daneben liegen, sonst ist das Netz direkt wieder weg. Fast schon, wie zuhause.

Also versuche ich eine Art Schema zu erkennen, nach denen diese beschissenen Akten geordnet sein könnten. Einfach nur alphabetisch lautet die plausible und wirklich naheliegende Antwort, wie ich nach geschlagenen zehn Minuten feststellen muss.

Den Kopf über mich selber schüttelnd, zücke ich aber erstmal mein Handy und lasse mich von leiser Musik beschallen, bevor ich mich an die ersten Akten machen. Was genau ich hier überprüfen sollte oder was bitte für Fragen auftauchen sollten, ist mir Endeffekt egal und ich beginne, leicht zum herunter geladenen 1991er Album von Nirvana mitsingend, mit dem A.

Wenn ich hier irgendwann mal wieder heraus kommen will, dann sollte ich mich jedoch beeilen, deshalb wechsle ich schon beim B zu einem Album, was ich tatsächlich mitsingen kann, um mich selbst mehr zu motivieren.

„Und sie hieß Cordula Grün, ich hab sie tanzen gesehen..." singe ich leise und lasse den ein oder anderen Ton dabei liegen. Mit dem Bleistift auf den Regalbrettern trommelnd, bemerke ich gar nicht, wie lange ich wirklich hier bin.

Erst, als mir eine bestimmte Akte in die Hände fällt, halte ich inne.

Inzwischen stehen mir kleine Schweißperlen auf der Stirn und mit einem kurzen Blick auf mein Handy stelle ich nicht nur fest, dass mein Akkustand verschwindend gering ist, sondern auch, dass ich schon seit geschlagenen drei Stunden hier unten zu Gange bin. Dabei bin ich erst in der Kategorie H.

Warum mir allerdings ein Z gerade zu ins Gesicht springt, weiß ich nicht.

Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und ich glaube das Gleichgewicht zu verlieren, sobald in meinem Gehirn ankommt, was meine Augen hier sehen.

„Ziegler, Christine", flüstere ich. „Das kann nicht sein." Zu tiefst verwirrt lasse ich mich auf den Tisch fallen und ignoriere das Knarren. Christine ist ein Allerweltsname und auch Ziegler gibt es in Deutschland bestimmt nicht selten. Aber wie hoch ist die Chance, dass es zwei Frauen mit demselben Geburtsdatum und Mädchennamen gibt? Dass meine Großeltern weit weg in einer Stadt lebten, sobald mein Vater den Hof erbte, das wusste ich. Von Berlin war nie die Rede.

Mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen ignoriere ich die restlichen Regale und suche nach meinem Opa.

„Wollt ihr mich alle verarschen", flüstere ich, als ich direkt fündig werde. Auch die Akte meines Opas liegt hier. Warum? Die Lösung ist denkbar einfach, das weiß ich selbst. Ob ich sie auch wahrhaben will, steht auf einem ganz anderen Blatt. Einem, was mir direkt beim Aufschlagen der Akte in die Hände fällt, um genau zu sein.

Nur kurz überfliege ich die Seite, bevor ich beide Akten einpacke und den Raum verlasse. Ich brauche Luft und das ganz dringend. Wie besessen, als liefe ich einfach auf Autopilot stürme ich aus dem Heim und erst, als mir der Mond ins Gesicht scheint, halte ich inne. Die Luft ist schwül, es ist irgendwie stickig und mir wird prompt schwindelig. Das kann doch nicht wahr sein? Wieso überwies mein Vater monatlich so unglaublich viel Geld? Ein Heim ist ganz bestimmt nicht, umsonst, das ist mir bewusst. Was mir jedoch zu denken gibt, sind die verschiedenen Daten. Anfang des Monats überwies er einen horrenden Betrag mit dem Verwendungszweck »Monatliche Miete Nr. 156/157«. Doch Ende des Monats tauchten neue Beträge auf, ohne Verwendungszweck oder irgendeinen anderen möglichen Hinweis.

Ohne darauf zu achten, wie spät es eigentlich ist, zücke ich mein Handy und wähle die Nummer meines Vaters. Natürlich hebt er nicht ab, warum auch?

Verzweifelt raufe ich mir die Haare, sobald die Erkenntnis bei mir ankommt. Berechnung war schon immer sein Steckenpferd und mir war ziemlich schnell bewusst, dass er hier die Stränge in der Hand hielt. Wie sehr, wird mir jedoch erst jetzt klar.

Seufzend muss ich also feststellen, dass mich mein Vater wieder einmal verarscht hat. Als würde mich die Realität mitten in der Magengrube treffen, gehe ich erschlagen zu Boden. Die Treppenstufen sind kühler als erwartet und so zucke ich zusammen. Meine Finger sind noch immer schweißnass, als ich die Akten erneut in der Hand halte. Zitternd streiche ich vorsichtig über den Namen meines Großvaters. Wie gerne würde ich jetzt einfach mit ihm sprechen. Einfach nur seine Stimme hören oder besser noch, auf dem Bauch meiner Großmutter liegend ihrer Stimme lauschen.

Jedes Mal, wenn Papa und Opa Karl sich dem Feuerholz widmeten und neue Fuhren aus dem Wald herankarrten, lag ich mit ihr im Wohnzimmer. Sie las mir Märchen vor oder strickte, während wir Märchenfilme sahen, die ich mitsprechen konnte. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, die Goldene Gans; alle samt Verfilmungen aus den 60er Jahren. Schrecklich gemacht, schrecklich kitschig und so schrecklich schön.

Ich erinnere mich an den einen Abend, an dem sie verzweifelt versuchte mir das Halten der Stricknadeln beizubringen. Hoffnungslos.

Eine Gänsehaut rieselt mir über den Rücken, als ich realisiere, wie sehr mich meine Erinnerung doch täuschen kann. Mit einem Male habe ich nicht nur den Herzschlag meiner Oma im Ohr, sondern auch das Gluckern ihres Magens. Bis heute, weiß ich nicht, warum ihr Körper ihr solche Streiche spielte, doch als kleines Mädchen fand ich es wahnsinnig amüsant und lachte sie gerne aus. Auch jetzt muss ich schmunzeln. Und ein bisschen Weinen, doch, wenn ich Aufklärung haben möchte, dann muss ich mich zusammen reißen.

Ohne darüber nachzudenken, wie sehr mein Opa diese Eigenschaft an meinem Vater immer verachtet hat, greife ich wieder in meine Tasche und zünde mir eine Zigarette an. So sehr ich mich auch beruhigen und entspannen will, guten Gewissens kann ich die Fluppe nicht genießen, wenn ich all die persönlichen Daten meines Großvaters in der Hand halte. Somit schmeiße ich das Teil schon nach zwei Zügen einfach weg. „Ihr seid selber Schuld, wenn eure Kinder den Scheiß auch machen, wenn ihr es ihnen vormacht", schimpfte er immer und immer wieder.

Und auch, wenn das Verlangen nach Aufklärung wirklich groß ist, bleibe ich noch sitzen. Denn endlich kann ich auch Antworten auf ganz andere Fragen finden. Wie sind meine Großeltern eigentlich gestorben?

Egal, wie oft ich meinen Vater auch danach fragte, die Umstände ließ er mich nie wissen. „Er war halt krank und sie eben alt", lautete die wenig befriedigende Antwort meines Vaters. Dass es absoluter Blödsinn und 66 Jahre überhaupt kein Alter war, wusste ich selbst. Irgendwann gab ich auf.

Leider muss ich das auch heute, denn ich verstehe nur Bahnhof. Auch Google hilft mir nicht sonderlich weiter. Das einzige, was ich herausfinde: Opa muss Krebs gehabt haben. Wie, wo, warum und wie lange sind Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann. Theoretisch könnte ich damit auch bis morgen warten, könnte Gaby in ihrer Pause aufsuchen, vielleicht sogar eine freie Minute von Doktor Stahl bekommen. Aber ich will – nein, ich kann einfach nicht mehr warten. Also suche ich Felix.

Es ist dumm von mir, dass ich erst die Gänge des Heims absuche. Eigentlich hätte mir vorher klar sein müssen, wo ich ihn finde.

Vorsichtig schleiche ich mich an den Personalraum heran und schaue vorsichtig durch das gläserne Fenster. Seelenruhig futtert er einen fettigen Burger und starrt auf sein Handy. Vielleicht habe ich Glück und er ist, genau wie ich, einfach zu müde für blöde Sprüche. Seine Miene wirkt entspannt und erst, nachdem ich ihn einen Moment beobachtet habe, klopfe ich sachte an die Tür. Als er nicht reagiert, trete ich einfach ein und bleibe einen Meter vor ihm stehen.

Erst jetzt bemerke ich, dass er kleine Bluetooth-Kopfhörer in den Ohren trägt und mich nicht einfach just for fun ignoriert hat.

„Felix?" frage ich ein wenig lauter und lasse mich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen.

Verwundert nimmt er die Stöpsel aus den Ohren und stoppt seine Netflix-Serie. „Bist du schon fertig?" Ich schüttle einfach den Kopf und warte auf einen blöden Spruch, doch stattdessen runzelt er nur die Stirn und sieht mich wartend an.

„Kannst du mir was erklären?" Auch das ist sonst eine Steilvorlage und ich pausiere, um ihm die Chance zu geben. Auch diese lässt er liegen. Vermutlich ist er wirklich einfach zu müde, um mich zu nerven.

Ohne ein weiteres Wort lege ich die beiden Patientenakten auf den Tisch und schiebe sie zu ihm rüber. Nun sieht er mich endgültig verwirrt an, wirft jedoch einen Blick auf die Akten. „Was soll ich dir daran erklären? Das waren Patienten hier, als ich meine Sozialstunden abgeleistet habe." Unter anderen Umständen hätte mich diese Information sicher brennend interessiert, jetzt ist es mir völlig Wurscht.

„Ich möchte wissen, woran die Patienten gestorben sind."

„Was interessiert dich das?" fragt er ruhig und stopft sich den Rest seines Essens in den Mund. Ich muss schlucken, auch, wenn ich es nicht will. Ich muss mir eine Träne von der Wange wischen, auch, wenn ich es nicht will.

Ein stattlicher Kloß bildet sich in meinem Hals und ich muss mich anstrengen, um ihm seine Frage zu beantworten. „Das waren meine Großeltern."

„Und was wollten die ausgerechnet hier? Bist du nicht aus Thüringen?" Oh, wie gerne würde ich ihn anzicken. Er soll mir nicht mit weiteren Fragen kommen, sondern meine ein für alle Male beantworten. Ich habe die Schnauze voll davon, immer und immer wieder verarscht zu werden. Ich bin kein kleines, dummes Kind! Aber ich tue es nicht. Wenn ich meine Fragen beantwortet haben will, darf ich ihn nicht gegen mich aufbringen. Stattdessen muss ich seine gute Laune ausnutzen.

„Sterben, so wie es aussieht. Nur hat uns nie jemand erklärt, was sie ausgerechnet hier wollten oder woran sie eigentlich gestorben sind."

Kurz erfüllt eine unangenehme Stille den Raum. Bis er einfach aufsteht. Das ist jetzt nicht sein ernst? Gerade, als ich mich lautstark empören will, bemerke ich, dass er einfach nur seine Hände wäscht und sofort fühle ich mich schlecht. Wann war ich bitte von gesundem Pessimismus zu ‚Ich erwarte einfach immer das Schlechteste' geschwankt?

Sobald seine Hände getrocknet sind und sein Handy am Ladekabel, setzt er sich wieder hin. Meine Ungeduld lässt mich beinahe schon wieder zicken, zusammen reiße ich mich trotzdem. Sonst wird das hier definitiv nichts.

„Und ich dachte schon, meine Familie ist abgefuckt", witzelt er. Ein einfacher Blick in meine Richtung reicht aus. „Zeig mal her", meint er trocken und der fast schon gleichgültige Ausdruck in seinem Gesicht macht mich wirklich wütend. Checkt er nicht, wie viel Überwindung mich das kostet, ihn um Hilfe zu bitten? Merkt er nicht, wie wichtig mir das ist?

„Was heißt das alles?" frage ich nach einer endlos langen Zeit der Stille und rutsche nervös auf meinem Hintern hin und her. Ich muss das endlich wissen!

Doch Felix rührt sich nicht. Stattdessen legt er die Akte meines Opas bei Seite und öffnet die meiner Oma.

Weitere Minuten vergehen, in denen ich, verdeckt unterm Tisch, noch einmal versuche meinen Vater zu erreichen. Dieses Mal geht der Anruf nicht einmal durch. Auch die WhatsApp nicht und so hoffe ich einfach, dass er sein Handy nur mal wieder nicht geladen hat. Wenn er es einfach ausgemacht hat, um nicht mit mir reden zu müssen, würde ich morgen mit dem ersten Zug nach Hause fahren und ihm persönlich den Arsch aufreißen.

„Vielleicht solltest du doch mal mehr arbeiten und weniger Mist machen hier, wenn du so einfachen Kram nicht verstehst", meint Felix nach ewig langer Stille kichernd. „Alter!" zische ich verzweifelt, sauer und leider auch ein bisschen bettelnd.

Abwehrend hebt er die Hände. „Schon gut, schon gut." Bevor mich jedoch endlich aufklärt, greift er in seine Tasche, die in seinem Spind liegt. „Hier, das könntest du gebrauchen."

Planlos schaue ich mir an, was er mir da hinhält. „Du nimmst einen Flachmann mit auf Arbeit?" frage ich und muss heute zum ersten Mal selbst lachen. Nicht im traurigen Sinne, weil ich mich an die besseren Tage zurück erinnern. Sondern wirklich. „Amir wollte vorbei kommen", erwidert er nur trocken und stellt den silbernen Flachmann einfach vor mir ab, bevor er sich wieder hinsetzt.

„Also, dein Opa ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Neun Monate nach der Diagnose, um genau zu sein." Ich muss schwer schlucken. Die Schmerzen, die er durchgemacht haben muss, möchte ich mir nicht vorstellen und doch tue ich es. Nicht, dass ich es könnte. „Deine Oma hat es nur zwei Monate länger geschafft. Sie ist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Wenn du mich fragst, ein angenehmer Tod." Ich habe ihn aber nicht gefragt. Diesen Kommentar spare ich mir, was kann er schon dafür. „Hier sind aber noch Aufzeichnungen von einem Psychologen, den es hier gab. Scheint, als hätten sie auch die Stelle hier gekürzt. Jedenfalls schreibt er, dass sie sich nach dem Tod deines Alten völlig zurück gezogen hat. Kein Aufenthalt mehr im Gemeinschaftsraum, keine Ausflüge mehr. Keine Besucher, keine Post."

„Das wundert mich nicht. Wir waren nie hier."

Kurz blättert er noch einmal durch die Zettel, bevor er mich ansieht. „Scheint, als wäre dein Onkel oft hier gewesen."

„Wie bitte?" Mit großen Augen sehe ich ihn an. Was weiß ich denn noch nicht über meine eigene Familie? Es macht Sinn, dass Guido nie davon erzählt hat, wir haben schließlich Jahre lang nicht gesprochen. Aber dies scheint doch ein Eins A Argument gegen meinen Vater gewesen zu sein, schließlich hat er sich nie hier blicken lassen. Normalerweise ist doch genau sowas ein Punkt, um Vorwürfe zu machen. Warum habe ich das nie hingekriegt.

Sofort schiebt er mir eine zerfledderte Liste zu. „Ich weiß nicht, was die Seite da drin zu suchen hat aber hier ist die Besucherliste. Immer derselbe Name, regelmäßig. Bis zu dem Tag, als dein Opa gestorben ist."

Opa war sicherlich kein Fan von Guidos ‚Neigungen', das ist mir bewusst. Aber er war nie der Mensch, der deswegen Vorwürfe machen würde. Auch von Oma würde ich das niemals erwarten. Wieso sollte Guido also mit seinen Besuchen aufhören?

„Und was hat es mit den Überweisungen auf sich?"

Die Frage hätte ich lieber nicht stellen sollen, denn jetzt weiß ich gar nichts mehr. Wie lebten nie an der Armutsgrenze, den Pferden fehlte es an Nichts. Trotzdem schätzte ich meinen Vater immer als passionierten Sparer ein. Ein absolutes Luxusproblem aber im Gegensatz zu Lotte bekam ich nie eine echte BabyBorn oder Barbie. Vermutlich deshalb: „Das ist das Spendenkonto vom Eichenhof. Dein Vater hat wohl regelmäßig 500 Euro gespendet. Als deine Oma starb, hat es aufgehört und-" jetzt hält auch Felix inne und sieht sich die Auszüge verwundert an. „Seit wann bist du hier?"

Statt mich aber antworten zu lassen, schiebt er mir das Papier zu und zeigt auf die drittletzte Spalte.

Nicht im Ernst. „Papa hat sich meinen Platz mit Spenden gekauft?"

„Das erklärt einiges", zischt er leise und eher zu sich selbst. Aber nicht leise genug. Zu gerne würde ich ihn boxen. „Was denn?" fragt er mit dem gewohnt spöttischen Ton. „Bilde dir bloß nix auf meine Hilfe ein. Du sahst erbärmlich aus, ich war neugierig und bin müde."

„Arsch", zische ich im selben Unterton aber absichtlich laut genug, dass er mich hört.

„Ha ha", feixt er und streckt mir kindlich die Zunge raus. „Selbst du musst doch kapieren, dass wir Fachpersonal brauchen."

„Ja ja", ist alles, was ich sage, bevor ich die Akten zusammenpacke und zur Tür laufe. Ich bin nicht so unfähig, wie er denkt. Dass hier alle absolut überarbeitet sind, entgeht mir nicht.

Bevor ich aber verschwinde, drehe ich mich noch einmal um. Im Gegensatz zu ihm, wurde mir Anstand beigebracht.

„Was wird das jetzt?" fragt er mich verwirrt.

„Ich mache meine Arbeit fertig. Ach und Felix?" Nur leider komme ich nicht dazu ihm auch zu beweisen, dass ich die Größere von uns beiden bin. „Schon gut", meint er nur, steckt sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und widmet sich der Serie. „Danke", sage ich, auch, wenn ich weiß, dass er mich nicht hört.

Doch. Das tut er. Es ist ihm nur egal.
Nicht so egal, wie es ihm gerne wäre.
Irgendwie tut es ihm Leid...
Aber es ist ihm egal genug, um sich einfach weiter seiner Serie zu widmen.

Wieder im Archiv angekommen atme ich durch und lasse den Tränen endlich freien Lauf. Zu lange habe ich sie unterdrückt, um mich vor Felix nicht zum Deppen zu machen.

Das kann doch alles nicht wahr sein? Was bitte weiß ich noch nicht? Was haben sie noch hinter meinem Rücken abgezogen? Hält mein Vater so wenig von mir, dass er mir nicht nur einen Praktikumsplatz organisiert, sondern ihn auch noch erkauft?

Die Erkenntnis schmerzt mehr, als alles, was ich bisher herausfinden musste. Die einzige Anlaufstelle, die mir in den Sinn kommt, ist mein Onkel. Auch, wenn ich sauer auf ihn sein sollte, dass er mich mehr oder minder ins Schwesternwohnheim abgeschoben hat, viel eher möchte ich endlich wissen, was genau hier eigentlich abgeht. Also schicke ich auch an ihn eine WhatsApp, egal, ob sie heute noch ankommt oder nicht.

Mit dem letzten Rest meines Handyakkus lasse ich mir über Spotify irgendein x-beliebiges Buch vorlesen, während ich mich den Akten auf dem Tisch widme. Der Stuhl knarrt noch immer, sobald ich mich auf ihm niederlasse, doch das ist mir egal.

Völlig verwirrt, mit den hässlichsten Rückenschmerzen meines Lebens werde ich am nächsten Morgen wach und habe keine Ahnung, wo ich eigentlich bin.

Erst nach einigen Minuten realisiere ich, dass ich im Archiv eingeschlafen sein muss. Mein Akku ist tot und so auch meine Motivation.

Zu meiner Genugtuung scheint es Felix nicht anders zu gehen. Völlig zermatscht sitzt er im Personalraum und würdigt mich keines Blickes, während er Gaby berichtet, was in der Nacht vorgefallen ist. Mitbekommen habe ich davon nichts, deshalb nehme ich einfach meinen Kram und verkrümle mich wortlos.

Meine Klamotten, genau wie meine Arbeitstasche schmeiße ich einfach auf den Schreibtisch, sobald ich in meinem Zimmer ankomme. Das Handy landet am Ladekabel und ich direkt im Bett. Verfluchte Scheiße!

Glücklicherweise mache ich einfach nur dort weiter, wo ich im Archiv aufgehört habe.

Dummerweise verpasse ich deshalb so einige Anrufe und wache erst nachmittags auf. In absolutem Chaos natürlich, wie sollte es auch anders sein...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top