Kapitel 14 ↬ Neue, komische Anfänge
Trotz der Tatsache, dass ich nicht alles alleine schleppen muss, dauert es eine ganz schöne Weile, bis ich mich in meinem neuen, kleinen Schuhkarton eingerichtet habe. „Sag mal, wie viel Kram hast du angeschleppt?" fragte Sebastian nach Luft japsend und das nach gerade mal der Hälfte. Bei meiner Anreise kam es mir irgendwie weniger vor. Und dabei weiß mein Fast-Schwager noch gar nichts von meiner Amazon Prime Bestellung. Vorerst sollte das wohl besser auch so bleiben.
Klugerweise war seine erste Bewegung, Wasserflaschen in meinen kleinen Kühlschrank zu stellen. Genau diese Erfrischung reiche ich ihm, jetzt wo wir endlich fertig sind.
Erleichtert atmet er aus und nimmt einen kräftigen Schluck. Gegenüber von ihm, lasse ich mich auf mein neues Bett fallen und sehe mich um. Noch sind die Wände weiß, ich habe keine Bilder aufgehängt, keine Poster angeklebt. All das muss ich noch einmal hinterfragen, habe ich doch mal wieder nicht richtig zugehört. Auch das Regal ist noch leer. Einzig der Schreibtisch ist voll mit Felix' Büchern, der Kleiderschrank mit meinen Klamotten und der Küchenschrank besitzt ein paar gesponserte Artikel. Im Nachhinein weiß ich gar nicht, warum Sebastian solch einen Aufriss gemacht hat. Was ich jedoch weiß: Es dauert noch ganz schön lange, bis ich wieder nach Hause darf.
„Bist du dir sicher?" bricht Sebastian schließlich die Stille? „Ich nehme dich und deinen Scheiß auch wieder mit, ok?" So sehr mich das Angebot auch lockt, wenn ich endlich meine Ruhe will, endlich beweisen will, dass ich nicht doof, nicht absolut unfähig bin, dann muss ich das durchziehen. Also zwinge ich mich zu einem überzeugenden Lächeln und schüttle den Kopf.
„Dann suche ich mal noch ein bisschen Zeug zusammen, was wir nicht mehr brauchen. Das kannst du dir dann bei Zeiten abholen." Lauten seine Abschiedsworte an mich, nachdem wir noch geschätzte fünf Minuten schweigend dasaßen.
Mit einem kurzen Blick auf die Uhr, stehe auch ich auf und schnappe mir meinen Geldbeutel. „Ich bringe dich noch nach unten", verkünde ich, bevor ich ihm folge. Den Schlüssel habe ich beinahe vergessen und ich bin mir sicher, das ist Sebastians Bestätigung, es sei keine gute Idee, mich alleine zu lassen. Soviel sagt mir sein nervöser Blick. Viel nervöser sollte es ihn machen, dass Stefan seit einigen Stunden nicht mehr Gassi war. Ein Spruch, der es mir ermöglicht den jungen Mann ein bisschen früher los zu werden.
Schließlich muss ich mir zum einen noch etwas zum Abendbrot jagen und zum anderen habe ich Al Kirschen versprochen.
Im Gegensatz zu meiner sonstigen Verpeiltheit, bin ich heute ein bisschen cleverer. Mit dem letzten Rest Datenvolumen habe ich recherchiert, wo ich eigentlich hinlaufen muss und komme nach einer viertel Stunde in der Skalitzer Straße an.
Lotte ist tatsächlich stolz auf mich, dass ich einmal nicht blind losgelaufen bin und das macht auch mich stolz. Zumindest solange, bis ich ihr sage, dass ich mich auf dem Weg zum Kottbusser Tor befinde.
»Bist du wahnsinnig?!!!« schreibt sie und verwirrt mich damit ziemlich. Als nächstes folgt ein Wikipedia Link, der mich die gesamte Fahrt über bestens unterhält. Wirklich glauben kann ich diesen überdramatisierten Quatsch nämlich nicht. Als ob es in einer so großen Stadt, wirklich so schlimm ist.
Trotzdem klicke ich interessiert einen Hyperlink nach dem nächsten an und lese stumm:
»Kottbusser Tor ist die Bezeichnung für eine platzartige Straßenkreuzung und einen U-Bahnhof im Berliner Ortsteil Kreuzberg (Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg). Der Platz und der U-Bahnhof werden im Berliner Volksmund auch „Kotti" genannt. Er ist das Zentrum der nordöstlichen Hälfte Kreuzbergs, des historischen SO 36.
Das Gebiet um das Kottbusser Tor mit dem benachbarten Wassertorplatz ist – wie der gesamte Kiez – ein sozialer Brennpunkt. Bereits am 5. Januar 1980 wurde Celalettin Kesimbei einem Überfall von türkischen Faschisten und religiösen Fundamentalisten am Kottbusser Tor ermordet. Anfang der 1990er Jahre wurde am Tatort eine von Hanefi Yeter geschaffene Gedenkstele errichtet. Hinzu kamen die Maikrawalle und die Aktionen der Jugendgang 36 Boys.«
Mit einem schnellen Blick auf die Uhr versichere ich mich, dass ich noch genug Zeit habe und klicke auf den nächsten Link, dem ich nach kurzem Überfliegen auch wieder nicht glauben kann. Es erinnert mich eher an eine schlechte, deutsche Serie.
»Die Bande war Ende der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre aktiv. Neben türkisch- und kurdischstämmigen Jugendlichen waren auch andere Nationalitäten in der über 100 Personen großen Gruppe vertreten. Das Gebiet, in dem sich die Bande betätigte, war der Bereich um das Kottbusser Tor bis zu den Wohngebieten zwischen der Naunyn- und der Waldemarstraße, sowie bis zum Görlitzer Bahnhof. Benannt hat sich die Bande wie andere Gangs z. B. in Neukölln auch nach dem ehemaligen Berliner Postbezirk Berlin SO 36. Die Idee zu dem Namen kam von Maxim, einem Mitbegründer der Berliner Rapszene, der 2003 von einem Rentner erstochen wurde. Maxim gründete die 36 Boys ursprünglich als Hip-Hop-Crew.
Anfang der 1990er Jahre lieferte sich die Gruppe Revierkämpfe mit Neonazis und Skinheads, die teilweise im Park der Jungfernheide ausgetragen wurden. Andere rivalisierende Banden waren die Warriors vom Schlesischen Tor und die Black Panthers aus Wedding. Während der Mai-Krawalle in Kreuzberg schlossen sich die 36 Boys anfangs den Autonomen an, eine Allianz, die wegen der fehlenden politischen Ausrichtung der Gruppe nicht lange anhielt. Die Graffiti der 36 Boys waren in ganz Berlin verteilt. In Kreuzberg dienten sie auch zur Markierung des Reviers. Neben den 36 Boys gab es die „36 Juniors", die durch ein höheres Gewaltpotential auffielen.«
So sehr ich auch versuche, die Lage, die Stadt irgendwie alles hier ernst zu nehmen. Es geht einfach nicht. Jeder Artikel, den ich finde, liest sich eher, wie ein mieser Krimi-Roman und ich muss schmunzeln. Ob Felix wohl auch zu dieser dummen Junior Bande gehörte? Das würde zumindest seinen Dachschaden erklären. Danach fragen werde ich ihn aber sicherlich nicht. Dafür habe ich ein bisschen zu viel Angst vor seiner Antwort.
Im Endeffekt mache ich mir aber nichts aus den ganzen Geschichten, die ich eben erst gelesen habe. Warum auch? Selbst wenn hier diese schlechten Krimis abgelaufen sein sollten, in der heutigen Zeit wird das wohl kaum möglich sein, mal eben auf offener Straße einen Menschen abzustechen. Am helllichten Tag. In einer Millionen Metropole.
Somit lasse ich mich von der aus der U-Bahn aussteigenden Masse einfach treiben und gehe eine x-beliebige Treppe nach oben, versuchend nicht den Boden zu küssen.
Meine Google-Recherche hat sich doch ziemlich ausgezahlt, stelle ich fest, als ich mich einmal um die eigene Achse drehe.
Ich stehe tatsächlich am Kottbusser Tor, beziehungsweise vor der U-Bahn-Station mit selbigem Namen. Und sogar den angezeigten Baum sehe ich auf Anhieb. Im Kreis angeordnete Hochhäuser reihen sich aneinander und das einzige, was mir gerade Angstzustände bereitet, ist der Kreisverkehr, auf den ich schaue. Alleine der Gedanke daran, Papas Auto durch das Chaos führen zu müssen, treibt mir Schweißperlen auf die Stirn.
Glücklicherweise werde ich aber in den nächsten Wochen wohl kaum zu dieser Gelegenheit kommen und mir den Wagen meines Vaters ausleihen, nur damit er eine halbe Minute nach meiner Ankunft eine detaillierte Fehleranalyse betreiben kann. Letzten Endes hätte es nur noch gefehlt, dass er mit der Lupe vor dem Stück Blech kniet. Wenn es um sein Auto geht, ist mein Vater der geborene Klischee-Depp. Dass ich bei solchen Erinnerungen tatsächlich mal friedlich lächeln würde, hätte ich in diesem Leben auch nicht mehr für möglich gehalten. Somit schüttle ich nur kurz den Kopf, bevor ich mich noch einmal umsehe.
Laut Google Maps müsste ich lediglich drei Minuten laufen und käme beim Rewe an. Warum mir genau dieser Markt bei meiner Recherche angezeigt wurde, weiß ich nicht. Vielleicht hat mich auch nur das Angebot dorthin gelockt. Jedenfalls dürfte es selbst mir nicht schwer fallen, den Markt zu finden, also stöpsle ich meine Kopfhörer wieder ans Handy und laufe los.
Nach fünf Minuten bin ich immer noch nicht angekommen und zweifle so langsam an meinem Verstand.
„Das kann doch nicht so schwer sein", murmle ich zu mir selbst und zucke erschrocken zusammen, als zwei junge Männer neben mir auftauchen.
„Können wa dir helfen?"
Seit wann ist jemand nett in einer Großstadt? Das widerspricht so ziemlich jedem existierenden Klischee und genau deshalb schüttle ich verwirrt dreinblickend meinen Kopf.
„Biste dir da sicher? Siehst ein bisschen verloren aus", sagt der zweite und erst jetzt sehe ich sie mir genauer an. Süß, denke ich, als ich in das lieb lächelnde Gesicht des ersten jungen Mannes schaue. Auch der zweite sieht nett aus und mein Bauchgefühl sagt mir dieses Mal nicht: Lauf! Trotzdem kommt es mir komisch vor, dass sie mich einfach so ansprechen. Kurz überlege ich, mich einfach wortlos zu verkrümeln. Andererseits wäre es sicher ganz witzig, einen auf hilfloses Dummchen zu machen und so packe ich meinen doch eher beschränkten Dialekt aus. Wenn die Jungs Berlinern, dann kann ich doch Hessisch schwätzen oder?
„Is des sou offensischtlisch, dass isch misch do nedd zurescht finn?"
Ziel erreicht, würde ich sagen. Mit offenen Mündern und sichtlich verstört starren sie mich an und schauen sich ein bisschen planlos an. Gerne wäre ich ernst geblieben, doch es klappt einfach nicht. Wenn mir schon Hilfe angeboten wird, dann sollte ich sie doch annehmen oder? Schließlich sehen sie nicht so komisch aus, wie die Jungs aus dem Park und bei meiner großen Stadttour hätte ich solch eine Hilfe auch mehr, als bitter nötig gehabt.
„Sorry, Jungs, ich konnte nicht anders", erkläre ich, nun wieder in Hochdeutsch, doch es dauert einen kleinen Moment, bis die zwei merken, dass ich sie nur verarscht habe.
Junge Nummer zwei bricht als erstes die Stille. Dramatisch legt er seine Hand auf seinen Brustkorb und spricht lachend: „Alter, ick hab'nen Herzinfarkt gekriegt ey."
Nach einer ganzen Weile belanglosem Smalltalk, in dem sich herausstellt, dass Nils und Fahri hier auf der Straße eigentlich Flyer für einen Nachtclub verteilen sollen, in dem Nils' Band heute Abend spielen wird, zeigen sie mir, wie dumm ich eigentlich bin.
„Und du bist wirklich nur auf dem Weg zu Rewe?" fragt Nils noch einmal, während sich Fahri gar nicht so geheim ins Fäustchen lacht. „Hm", antworte ich und merke, wie sich mein Gesicht langsam aber sicher einfärbt. Nun grinst auch er, rückt sich die graue Beanie auf seinem gelockten, braunen Haar zurecht und packt mich sanft an der Schulter. Eine kleine Drehung später folge ich seinem Finger und vergrabe mein Gesicht peinlich berührt in meinen Händen. „Nicht im Ernst", flüstere ich leise. Ich habe mich um knappe 100 Meter verlaufen und hätte ich mich nur einmal um die eigene Achse gedreht, wäre mir das leuchtend rote Schild auch ganz alleine aufgefallen.
Trotzdem meint es das Schicksal ganz gut mit mir, denn die Jungs beschließen die Flyer einfach Flyer sein zu lassen und mich zu begleiten. Tüten kann ich zwar ganz gut alleine tragen, doch die zwei sind wirklich nett. Wir reden über belanglosen Kram, wo ich her komme, was ich hier tue. Nils spielt mir sogar ein paar Songs vor, die er auch heute geschrieben hat und fragt nach meiner Meinung.
Meine Musik ist es nach dem ersten Hören nicht, doch ich möchte seine Gefühle nicht verletzen. „Kann ich mir deine Musik zuhause auch anhören?"
„Klar, für solche Fälle ist unser kleiner Rockstar immer vorbereitet", witzelt Fahri und zerrt eine CD aus seinem Rucksack. Dass ich nur meinen Laptop habe, um sie abzuspielen, behalte ich für mich. Nachdem der vierundzwanzig jährige einen hitzigen Vortrag über das richtige Abspielen von Musik gehalten hat. („Wie kann man Musik so verunstalten und einfach übers Handy, den Laptop oder noch schlimmer, den Fernseher laufen lassen? Ohne richtige Anlage oder wenigstens ein paar kleine Boxen kann man's auch gleich sein lassen.")
„Wisst ihr, wo ich einen Kirschentkerner finde?" frage ich deshalb, um vom Thema abzulenken. Außerdem sind Al's Kirschen der einzige Grund für meinen Einkaufsbummel. Gut und vielleicht die Tatsache, dass ich mir ein paar Lebensmittel zu legen sollte.
„Und ich dachte immer ihr Dorfis seid Weltmeister im Weitspucken."
„Nils...fordere mich nicht heraus!" scherze ich.
Doch das tut er. Mit dem Entferner und zwei Kilo Kirschen, zusammen mit einzelnen Wasserflaschen, ein bisschen Limo und der ein oder anderen fünf Minute Terrine, laufen wir eine halbe Stunde später zum U-Bahnhof. Die Schienen bieten die perfekte Messlinie und es kratzt gehörig an meinem Ego, dass Fahri so wahnsinnig gut im Kirschkern-Weitspucken ist.
Vor Lachen halte ich mir gleichzeitig den Bauch, denn Nils ist unglaublich schlecht. In regelmäßigen Abständen spuckt er sich die Kerne in den Schal oder muss sich Spucke von der Hose wischen. Morgen würde ich sicherlich ordentlichen Muskelkater haben, doch die Jungs unterhalten mich bestens.
So vergesse ich fast, dass ich morgen meinen ersten Spätdienst absolvieren würde. Mit Felix als meiner Aufsicht. Als sich diese Erkenntnis den Weg in mein Bewusstsein bahnt, seufze ich auf. Das wird bestimmt richtig, richtig super. Nicht.
„Alles gut?" fragt Fahri direkt und schiebt sich die nächste Kirsche in den Mund.
„Hm, ich hab nur grade dran gedacht, dass die Bahn gleich kommt", flunkere ich ein wenig. Völlig gelogen ist es nicht, wir haben schon drei Züge an uns vorbeiziehen lassen. Irgendwann muss ich wieder nach Hause.
„Okay, dann wollen wir dich mal nicht länger aufhalten", antwortet er darauf hin nurund klingt fast ein bisschen traurig. „Aber du bist natürlich herzlich eingeladen zu unserem Auftritt. Wir spielen jeden Dienstag und jeden Sonntagabend im ‚Chatterleys' in der Rathenaustraße", fügt Nils noch einmal hinzu. Dass er mich nun schon das dritte Mal eingeladen hat, scheint ihn nicht zu interessieren. Ebenso wenig, dass die Jungs absolut beschissene Zeiten bekommen haben. Unter der Woche und am letzten Tag des Wochenendes, Prime Time ist etwas anderes.
Trotzdem drückt Nils mir noch einen Flyer in die Hand, bevor sich die Türen der Bahn schließen.
Alles in allem lässt sich dieser Nachmittag doch als ein Erfolg verbuchen und genau deshalb schreibe ich direkt meiner besten Freundin, bevor ich mir einen Platz suche. Mit Kopfhörern in den Ohren lasse ich mich auf den Sitz fallen und lächle ein bisschen vor mich hin, als ich mir den Zettel genauer ansehe. Der Idiot hat mir tatsächlich seine Nummer in eine kleine ecke geschmiert. Das glaubt mir doch niemand und genau deshalb schicke ich Lotte ein Bild. Sicher wird sie stolz auf mich sein; so oft, wie sie auf irgendwelchen Kirmes versucht hat, mich „an den Mann – oder auch drauf" – um sie zu zitieren – zu bekommen.
Und auch, wenn ich mich über die Geste freue, bin ich mir ziemlich sicher, weder heute Abend in diesem Club aufzutauchen, noch eine Nachricht an ihn zu schreiben. Ich gehe eher realistisch an die Sache ran. Sie waren auf Promotion-Tour und Nils ist ein gutaussehender junger Mann, was soll er schon von mir wollen?
Lotte gibt mir recht, sobald ich sie zu unserem täglichen Telfondate an der Strippe habe. Nach einer kurzen, Datenvolumen fressenden FaceTime Session, in der ich ihr mein neues Reich vorgeführt habe, liege ich im Bett und habe seit einer Stunde mein Handy am Ohr. Wann wir das letzte Mal so viel Zeit für einander hatten, weiß ich schon gar nicht mehr. Es stimmt mich traurig, deshalb komme ich auch nicht darum herum, zu seufzen.
»Was los?« fragt Lotte und wird etwas ruhiger.
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