Kapitel 1 ↬ Ein bisschen Frieden
【Zweieinhalb Monate zuvor】
◤ THERESA ◢
Leise lasse ich die Musik über mein Handy abspielen. Halsey beschallt mich mit ihrem Debut-Album und ich kann es nicht verhindern, dass sich meine Lippen bewegen. Der Fokus meiner Konzentration liegt nicht da, wo er eigentlich hingehört aber das ist auch nicht wichtig.
Nero, der wunderschöne Araber, den ich mein Eigen nennen darf, benötigt keine Führung, er findet den Weg alleine zurück zum Gestüt und kurz überlege ich, ob ich mich einfach nach hinten fallen lasse und ihn laufen lasse. Ich weiß, dass er es könnte. Oftmals bin ich mit meinem Rücken auf seinem liegend nach Hause gekommen, doch die Wahrscheinlichkeit, dass ich heute in einen komatösen Schlaf falle, ist einfach zu groß. Also lehne ich mich stattdessen nach vorne, schlinge meine Arme um seinen Hals und flüstere „Ich hab dich lieb, mein Großer."
Wir spazieren gerade auf der Südseite des Edersees, als ich über die Kopfhörer das Klingeln meines Handys vernehme. Das genervte Augenrollen kann ich mir nicht verkneifen, doch es tut mir sogleich leid.
Meine beste Freundin lacht mir einen Moment später schon ins Ohr und bittet mich einmal quer über den See zu schauen. Euphorisch und viel zu hektisch winkt sie mir zu und ich befürchte, dass Mika sie gleich abwerfen wird, wenn sie sich nicht sofort beruhigt. Die Haflinger Stute verkörpert alles, was man in allen Bücher und quer im Internet über ihre Rasse nachlesen kann. Sie ist friedlich, stark, robust, freundlich, gehorsam und zuverlässig. Allen voran aber auch sehr pragmatisch. Wenn ihr etwas nicht passt, wird es passend gemacht. So wundert es mich nicht, als ich kurze Zeit später beobachten kann, wie Lotte damit zu kämpfen hat, nicht abgeworfen zu werden. „Du lernst es wohl nie, was?" sage ich lachend in den Hörer, erkläre ihr, dass ich an unserem Platz auf sie warten werde und lege auf. Das Handy stelle ich auf stumm, die Musik lauter und schon preschen wir davon.
Meine beste Freundin braucht ganze zwanzig Minuten, um mich einzuholen. Sowohl sie, als auch ihre Stute trinken einiges, bevor wir wirklich dazu kommen, zu quatschen.
„Grins' nicht so doof. Hast ja recht", waren ihre Begrüßungsworte und ich kann nicht anders, als meinem Namen, als wandelndes Pferde-Lexikon alle Ehre zu machen.
„Weißt du, der entscheidende Unterschied zwischen unseren Pferden ist der, dass mein Nero ein Araber ist. Er ist ein hochedles Reitpferd mit überragender Ausstrahlung, hart, genügsam, intelligent, vererbungsstark. Er verfügt über ein konkaves Kopfprofil, auch Hechtkopf genannt, hat eine gewölbte Stirn, gerade Kruppe mit hoch angesetztem Schweif und-" „- Und du hältst jetzt besser die Klappe, sonst ertränke ich dich."
Skeptisch, ein bisschen hochnäsig aber allen voran voller Schadenfreude schaue ich zwischen ihr und dem kleinen Bachlauf hin und her. „In fünfzehn Zentimeter tiefem Wasser?"
„Wenn ich dich lange genug untertauche..." Das Ende ihres Satzes bleibt unausgesprochen. Ruckartig springt sie auf mich zu, schubst mich in Richtung Bach und sieht lachend dabei zu, wie ich stolpere und auf meinem Hintern lande. Sie kann wirklich froh sein, dass es der Sommer in diesem Jahr ein bisschen zu gut mit der Sonne meint, andernfalls wäre ich unfassbar sauer. Doch aufgrund der langanhaltenden, teils drückenden Wärme, sorge ich lieber dafür, dass es in einer kleinen Wasserschlacht ausartet.
Sowohl Nero, als auch Mika können die Abkühlung gut gebrauchen und auch, wenn mein Magen schrecklich knurrt, laufe ich nach dem Aufstehen doch zuerst zu der Tasche, die ich vorher am Sattel befestigt habe. Es dauert einen Moment, bis ich den kleinen Beutel finde.
Wirklich überraschend ist es nicht, dass sich Nero sofort über sein Müsli aus Maisflocken, Gerstenflocken und ganzem Hafer hermacht. Nicht umsonst sind es die besten Getreidesorten für Pferde. Sie scheinen ihnen nicht nur am besten zu schmecken, sondern gehören obendrein auch noch zu denen, die optimal verdaut werden können. Allerdings muss ich meinen Araber stoppen, damit auch Mika noch etwas abbekommt.
„So und jetzt genug Herumgealbert, Tessa. Ich möchte alles wissen."
Wenn es eine Eigenschaft gibt, die ich an meiner besten Freundin nicht leiden kann, dann ist es ihre Sensationsgeilheit. Sie steht auf den neuesten Tratsch und Klatsch, saugt sämtliche Informationen einfach in sich auf und scheut sich leider auch nicht davor, diese an genau den falschen Stellen breit zu treten. Zwar weiß ich genau, dass die wirklich wichtigen Geheimnisse immer unter uns bleiben aber ich bin mir eben auch bewusst, dass sie ein entscheidender Teil des Dorfklatschs ist.
Zu meinem Vorteil konnte ich ihr einziges Laster auch schon ein paar Mal benutzen aber heute ist es nicht notwendig. Heute ist es absolut nicht notwendig und ich überlege einen Moment zu lange, ob man ihr wohl einen Blutschwur abringen könnte.
Doch nichtsdestotrotz ist und bleibt sie meine beste Freundin, ich kenne sie, seit wir zusammen in den Kindergarten gingen.
„Der Job ist definitiv nichts für mich. Viel zu wenig Schlaf, viel zu hektisch. Die Chefin hat Haare auf den Zähnen und die Kolleginnen sind schrecklich stoffelig. Das war einfach gar nichts meins", plappere ich gleichgültig drauf los. Beschreibungen wie diese hat sie sich in den letzten Wochen und Monaten schon so oft angehört. Dass sie die Antworten auf ihre Frage nicht selbst kennt, ist schon fast eine Beleidigung.
Der Ausgang dieses Probearbeitstages war mir zwar schon vorher bewusst gewesen, aber so konnte ich den Beruf der Bäckereifachverkäuferin immerhin auf die 'Niemals -Liste' setzen. Gleich hinter Bürokauffrau, Kauffrau im Einzelhandel, Rechtsanwaltsgehilfin, Fleischerin, Fleischereifachverkäuferin, Hotelfachfrau, Schreinerin, Industriekauffrau und Köchin. Die 'Vielleicht - Liste' ist leider nicht einmal halb so lang, denn das Gewissen, meinen Traumjob nicht ausleben zu können, sitzt mir ebenso im Nacken, wie die Zeit. Als Pferdewirtin habe ich in der Region keine Chance, möchte aber gleichzeitig mein Leben und vor allem Nero hier nicht zurücklassen.
Somit bleibt mir nur eine Wahl: Ich muss etwas Erträgliches finden, mit dem ich genug Geld verdiene, um Nero behalten zu können. Diesen Deal habe ich mit meinen Eltern abgeschlossen. Wenn ich möchte, dass er bei mir bleibt, muss ich endlich einen Ausbildungsplatz finden.
Lottes enttäuschter Blick, gepaart mit dem Seufzen, erleichtert mein Gewissen jedoch nicht im Geringsten. „Wie lange soll denn das noch weitergehen, Thea? Wir haben gerade erst die Prüfungen hinter uns gebracht, am Samstag ist der Abiball und dann war's das. Dann sind schon Sommerferien. Durch die blöde Regelung mit G8 oder G9 oder was das auch war, fehlt uns eh schon ein Jahr. Wir sind schon 20 und du wirst-" „- Ja okay, ich habe es verstanden. Wäre ich in der 7. Klasse nicht kleben geblieben, wäre ich nicht so schrecklich alt", keife ich zurück und verschränke trotzig, wie ein kleines Mädchen, die Arme vor der Brust. Es ist keine kluge Entscheidung, so gebe ich ihr nur noch mehr Angriffsfläche. Ich weiß selbst sehr genau, dass die Zeit immer knapper wird. Aber warum möchte niemand verstehen, dass die ganze Sache für mich nicht einfacher wird, wenn man mir noch mehr Druck macht? Als wäre es nicht schon schwer und nervig genug meinen Eltern immer wieder unter Beweis zu stellen, dass ich nicht dumm, nicht unfähig bin. Mit Lottes Art mir ins Gewissen zu reden, wird das ganze sicherlich nicht einfacher.
Was soll ich denn noch tun? Das Arbeitsamt ist mittlerweile mein zweites Wohnzimmer, ein Termin und ein bescheuerter Test jagen den nächsten. Mit der Sachbearbeiterin bin ich per Du, sie erkundigt sich immer erst nach meinem Befinden und stellt mir eine Tasse Kaffee mit Milch und zwei Stück Zucker vor die Nase, ohne dass ich ein Wort sagen muss. Doch zwei Termine mehr und ich würde sie zum Essen einladen müssen.
„So meine ich das doch gar nicht, Tessa", flüstert Lotte nach einer ganzen Weile der Stille besänftigend und schließt mich in die Arme. „Ich habe es doch schon immer gesagt, komm mit mir mit. Raus aus diesem Kaff."
Ganz automatisch lache ich ironisch auf. „Ich? In Marburg? Ganz bestimmt." Die Tatsache, dass ich meine Heimat jemals für eine Großstadt aufgeben würde, ist so wahrscheinlich, wie ein Match der Avengers genau hier an Ort und Stelle.
„Was ist denn so schlimm daran? Marburg ist eine wunderschöne Universitätsstadt und ist mit rund 74.000 Einwohnern die achtgrößte Stadt Hessens." Und jetzt beginnt es. Lotte ist ein Ass in Erdkunde, sie liebt es sich Landkarten anzusehen, studiert sie und träumt von all den Reisen, die sie einmal machen möchte. Während ich als wandelndes Pferde - Lexikon betitelt werde, ist sie mein Globus-auf-zwei-Beinen. Also lasse ich den halben Wikipedia-Eintrag über mich ergehen, obwohl wir beide meine Antwort bereits kennen. „Das Stadtgebiet erstreckt sich beiderseits der Lahn westlich ins Gladenbacher Bergland hinein und östlich über die Lahnberge hinweg bis an den Rand des Amöneburger Beckens. Außerdem-" Bevor sie noch weiter ausholt, unterbreche ich sie. Ich bin nicht in der Stimmung für ellenlange Geografie Vorträge, gespickt mit Entstehungsgeschichte. „Ich bin ein Dorfkind. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Was soll ich in der Stadt?"
„Mit mir studieren zum Beispiel?"
„Maschinenbau? Nein, Danke." Er würde ich mich in Psychologie-Kurse setzen und als lebendiges Negativ-Beispiel agieren.
Diese Diskussion hat keinen Sinn. Niemand gewinnt sie, niemand gibt nach. Niemand hat sie je gewonnen, niemand wird sie je gewinnen.
Und deshalb ist es auch kein Wunder, dass wir kurze Zeit später schweigend neben einander her zurück zu unserem kleinen Reiterhof reiten. Sie ist damit beschäftigt, Mika hinter mir her laufen zu lassen, während ich mit Kopfhörern in den Ohren vor mich hinträume.
Mein Blick wandert zwischen den Bäumen des kleinen Waldweges hindurch auf die Straße. Die frische Waldluft belebt meine müden Geister und ich kann nicht anders, als einmal tief ein und wieder aus zu atmen.
Das Dorf ist sicherlich nicht einfach, der Tratsch und die Missgunst geht mir einfach nur gegen den Strich. Ich hasse es, mir immer zwei Mal überlegen zu müssen, wann und wo ich meinen Mund aufmache und ich verabscheue es zu wissen, dass einige Menschen immer nur dann den Weg zu meiner Familie finden, wenn sie etwas brauchen.
Aber ich möchte es trotzdem nicht missen. Der Wald, der See, der kleine Bachlauf - sie sind mein Zufluchtsort, nirgends fühle ich mich wohler. Und unter'm Strich ist der Zusammenhalt in der Not auch gar nicht so verkehrt. Wenn ich alleine an den verregneten Sommer im letzten Jahr zurückdenke, der uns die ganze Ernte um ein Haar ruiniert hätte, wird mir noch immer warm ums Herz. Ohne die Hilfe der Fischers und Schenker's hätten wir beinahe mehrere Hektar Gerste und Hafer verloren.
Wirklich weit bringen mich meine Gedankenreisen aber leider auch nicht.
Der Lösung meines Problems bin ich keinen Schritt nähergekommen und auch nicht, als wir durch das große Tor auf den Hof laufen. Nero geht müde neben mir her, beinahe trampelt er über ein paar Hühner, die sich aus dem Stall geschlichen haben und ich beschließe ihn heute einfach auf die Weide zu stellen, nachdem ich ihm Sattel und Halfter abgenommen und ihn gebürstet habe. Auf der großen Wiese hinter dem Stall steht auch der Rest der Bande, hauptsächlich Hannoveraner. Jedes Mal, wenn ein Herdenmitglied nach einem Ausritt zurückkommt, scheint es so, als würde sie es begrüßen. Vielleicht habe ich aber einfach auch nur zu viel Phantasie.
Andächtig schaue ich meinem Hengst noch ein wenig dabei zu, wie er von der Stute, Amira, begrüßt wird. Erst, als ich mich versichert habe, dass er ordentlich trinkt und frisst, mache ich mich langsam auf den Weg zum kleinen Pavillon, den mein Vater zusammen mit meinem großen Bruder eigenhändig und voller Stolz aufgebaut hat. So, wie er auf Tommi zu sprechen ist, grenzt es eigentlich eher an ein Weltwunder, dass er noch steht und nicht schon lichterloh gebrannt hat. Vermutlich war ihm das Geld bisher einfach nur zu schade, sonst stünde das Ding sicher nicht mehr.
„Ich geh dann mal", sagt Lotte in einem seltsamen Ton und will sich gerade, aus dem Staub, als meine Mutter die Treppen zur Haustür herunterkommt. „Kommt gar nicht in Frage, Charlotte! Friedrich hat gerade den Grill angesteckt. Hanne und Herbert sind auch da."
‚Das dürfte den Geruch erklären', denke ich und rümpfe ein bisschen angeekelt die Nase. Grundsätzlich riecht man einen der einzigen noch aktiven Landwirte in dieser Umgebung immer erst, bevor man ihn sieht. Entweder stinkt es fürchterlich nach Kuhmist und Gülle oder aber nach Pfeife. In diesem Fall werde ich von dichten Rauchschwaden umgeben, als ich in den Garten trete. Zum einen brennt die Holzkohle bereits munter vor sich hin und zum anderen hat sich Herbert mal wieder eine seiner geliebten Pfeifen zusammengebaut, an der er genüsslich raucht. Ich bin Zigaretten nun wirklich nicht abgeneigt aber dieser beißende Geruch, der mich aus welchem Grund auch immer an ein Vanille-Fass erinnert, ist absolut abartig.
„Ach Mensch, Theresa! Schön, dass man dich auch mal ohne deinen Hengst sieht", lacht Hanne freundlich und reicht mir die Hand. Eigentlich möchte ich einen schnellen Satz zur Seite machen, denn ich habe die kühle Flasche Krombacher schon vor ihm entdeckt. Aber Herbert ist schneller und so muss ich die zwei Minuten Kotzreiz ertragen.
„Na, Kindchen! Bist ja ganz schon groß geworden, Mensch. Aber sag, gibt's denn nur diesen einen Hengst in deinem Leben?" Anzüglich zwinkert er mir zu, klopft mir auf den Oberschenkel und das verdächtig nah an meinem Hinterteil. Mir wird schlecht.
Mit einem aufgesetzten Lächeln stehle ich mich aus seinem Griff, begrüße Papa mit einem Kuss auf die Wange –etwas, was ich schon Jahre nicht getan habe - und fasele irgendetwas von Kopfschmerzen.
Gänzlich gelogen ist es nicht, denn, wenn ich daran denke, wie der einzige Milchbauer der Umgebung einen rassistischen oder chauvinistischen Witz nach dem nächsten reißt, dann bekomme ich Kopfschmerzen. Und noch dazu steht die Fragestunde meines Vaters noch aus.
Somit schlurfe ich geknickt ins Badezimmer, entledige mich meiner Kleidung und springe direkt unter die Dusche. Vorher öffne ich die entsprechende App auf meinem Handy und lasse mich vom Radio berieseln.
Wie in einem Film fahren die Bilder des heutigen Tages an meinem inneren Auge vorbei und ich höre die Chefin der kleinen Familienbäckerei mit den rund sieben Filialen geradezu in mein Ohr brüllen. Sie sagte, ich solle die silbernen Bleche für die Kuchenschnitten nehmen und das tat ich. Sie sagte keinen Ton davon, dass es zwei verschiedene silberne Bleche gab und ich Exemplar Eins auf gar keinen Fall benutzen darf, um die Kuchenschnitten für die Filialen darauf zu verteilen.
Das Ende vom Lied? Ich erschrak mich zu Tode durch ihren Aufschrei, schickte 44 Kuchenschnitten ins Jenseits und meine Knie tun vom Schrubben immer noch weh. Denn es konnte natürlich nicht der 'Krimmelkuchen' sein, der mir auf den Boden fiel. Nein. Das Blech mit den Zwetschge-Schmand Schnitten landete auf den Fliesen und so hatte ich ordentlich damit zu kämpfen den Schmadder wieder herunter zu schrubben.
Erst ein Klopfen und die Stimme meiner Mutter holen mich in die - Gott sei Dank Brötchenkrümel freie - Realität zurück: „Schatz, kommst du essen?"
'Auf in den Kampf', denke ich leise, schlucke schwer und antworte mit einem knappen 'Ja', denn ich wenigen Minuten wird sicherlich die Hölle über mir einbrechen, wenn mein Vater erfährt, dass ich schon wieder eine Stelle verloren habe.
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