↬ Für die, die bleiben



Mein Name ist Hayet Alila Hamady. Niemand nennt mich so. Alle sagen Alila zu mir. Nur einer darf mich Lila nennen, tut es aber nicht. Es wäre zu gefährlich, wenn er es tun würde, also ist es okay. Generell ist vieles okay, wenn man sich nur genug Mühe gibt, sich auch daran zu gewöhnen.

In meinem kurzen Leben habe ich gelernt: Es lässt sich alles ertragen, wenn man die richtigen Menschen um sich hat. Der Haken an der Sache? Man benötigt genug Zeit für diese Menschen, sonst wird es...schwierig. Aber machbar, versprochen.

Das soll aber gar nicht so eine Geschichte werden, nicht so eine ‚Mach es besser als ich-Mädchen'- Sache. Ich möchte euch nur einen Rahmen geben, eine kleine Erklärung für das, was passieren wird. Vielleicht versteht man dann, dass ich ihnen nicht böse bin. Sie wussten es nicht besser.
Sollen wir anfangen?

Ich würde euch zuerst gerne erzählen, wie schön ich den Namen finde, den meine Eltern mir gegeben haben. Besonders wichtig ist es nicht aber das macht ja nichts. Man muss ja nicht immer gleich mit dem Kopf durch die Wand – oder welche Redewendung hier auch angemessen sein mag.

Außerdem hört man nicht oft, dass Kinder ihre Namen schön finden, oder? Deshalb kurz: Hayet steht für ‚alles um uns herum, die ganze Umwelt' oder einfach ‚Leben'. Alila ist die Erhabene, die Beschützerin, die ins verheißene Land zurückkehrende. Klingt schön oder? Nur gerade die letzte Bedeutung wird wohl eher nicht wahr.

Das heißt, wenn ich es mir recht überlege: Stellt sich die Ehre einer Familie nicht wieder her, wenn die Schande derer ausgelöscht wird? Genau das ist, was passierte. Mein Cousin Zahit, dessen Name der Gottesflüchtige bedeutet, nahm das Schicksal seiner Familie in die eigene Hand. Er beseitigte die Schande und stellte somit deren Ehre wieder her. Am 09. 11. 2010 wurde ich erschossen.

Poetisch nicht wahr? Das muss ich Zahit schon lassen.

Aber was waren die Gründe? Wie kommt man auf die Idee, seine eigene Cousine zu ermorden? Warum wurde ich zur Schande der Familie? Das lässt sich in einfachen Punkten zusammenfassen.

Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der nur die Familie und ihre Ehre zählen. Zur Schande werden heißt: In eben jener Welt aus der Reihe zu tanzen.

Zur Schande werden heißt: Mit den Traditionen zu brechen.

Zur Schande werden heißt: Einen eigenen Willen zu haben, nicht den Regeln der Familie zu folgen und damit ihre Ehre zu beschmutzen. Diese Todsünde kann bei uns nur eines von beiden Geschlechtern begehen.

Die Frau ist das Ehrwürdigste, was ein Vater, ein Bruder, ein Ehemann besitzen kann. Wenn die Frau die Ehre der Familie verletzt, wenn sie nicht funktioniert, dann musst du bestraft werden. Klingt doch eigentlich ganz plausibel oder?

Das Bundeskriminalamt hat sechs Beispiele gesammelt, die das Fehlverhalten einer Frau beschreiben...

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Als Felix 13 Jahre alt ist, trifft er den größten Fehler seines Lebens. Nur weiß er das noch nicht. Vermutlich auch besser so.
  Sie ist groß, für ihr Alter, überragt ihn um einige Zentimeter und dieser Fakt wird sich auch nicht ändern. Was sich ändern wird? Die Gefühle der beiden. Für einander, gegenüber ihren Familien, in Bezug auf gesellschaftliche Verpflichtungen. Die beiden verändern sich. Sie verändern sich alle. Und es vergeht kein Tag in seinem Leben, indem er sich nicht wünscht, einfach wieder 16 sein zu dürfen.

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Eine Ewigkeit zuvor

ALILA

Mein ältester Bruder Omar kommt entnervt aus der Schule an einem kalten Wintertag im Dezember 2001. „Merhaba anne, benim."Anzukündigen, dass er es ist, ist schrecklich überflüssig. Niemand poltert durch die Tür, wie es mein ältester Bruder tut. Trotzdem schauen Mama und ich zu ihm, begrüßen ihn und bitten ihn, sich zu setzen. Wir kochen gerade. Oder anders gesagt: Mama kocht. Ich kann das nicht wirklich, doch das muss sich ändern, wenn ich einmal eine gute Frau werden will.

Aufmerksam schaue ich dabei zu, wie sie den Teig für das Fladenbrot vorsichtig mit Olivenöl bestreicht, bevor sie eine Hand voll Sesam, Mohn und etwas Kümmel darauf verstreut. Angeekelt sieht Omar ihr dabei zu. Kümmel ist nicht sein Ding, Karim hingegen liebt es, also muss er wohl den Kompromiss eingehen. Schließlich hat Mama keine Lieblingskinder.

„Wo ist Baba?" fragt er schließlich in die angenehme Stille hinein und Mama nickt in Richtung Wohnzimmer. Nach der Arbeit auf der Baustelle hat er sich kurz auf die Couch gelegt und wartet seit dem, dass wir fertig werden.

„Meinst du, er lässt mich zu einer Geburtstagsparty gehen?" „Zu wem?" fragt Mama lediglich und wundert sich nicht einmal, dass Omar zuerst bei ihr fragt. „Felix, von gegenüber." Er nickt in die Richtung des grauen Hochhauses, auf der anderen Straßenseite.

Ich sehe, wie sie die Nase rümpft. „Amir und Zahit gehen auch", versucht es mein Bruder auf die „ich bin nicht der einzige Kanake-Tour" und beim Namen unseres Cousins, weicht die Stirnfalte einem zufriedenen Lächeln. Tja, wenn der Liebling der Familie – also muss ich meinen Gedanken von vorhin zurück nehmen – zu den Deutschen geht, dann können sie ja nicht schlimm sein. Ob sie mich auch mitgehen lässt? Ich würde gerne Zeit mit Felix' Schwester Nele verbringen. Sie ist jünger, als ich, doch ich mag sie wirklich gerne. Viele Freunde habe ich in der Schule nicht, doch das aufgedrehte Mädchen gehört dazu.

Zu dem Zeitpunkt bin ich 9 Jahre alt und mir ist alles recht,
solange ich noch raus gehen darf.

Damals sehe ich es nicht als Privileg an, sondern, als völlig normal. Meine Schularbeiten erledige ich. Meistens sind sie falsch aber zumindest steht etwas da und die Lehrer sind zufrieden. .

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„Baba, wir gehen raus!" ruft Omar ins Wohnzimmer, in dem mein Vater vor einem Stapel Papiere sitzt. Wenn ich mich anstrenge, kann ich mich mit ihm und den Zwillingen nach draußen schleichen, während der Kleinste meiner älteren Brüder tapfer weiter die Papiere übersetzt. „Alila?!" höre ich ihn rufen und bleibe ertappt in der Tür stehen. „Ja?" „Hilf mir mal."

Ich verdrehe die Augen und kassiere direkt einen Ellenbogen in meine Rippen. „Sei nich so, Mädchen", tadelt mich Yassir und ich muss tief durchatmen, bevor ich ebenfalls ins Wohnzimmer gehe. „Was das heißt?" fragt Baba und schiebt mir einen Antrag hin, den ich nicht verstehe. „Kannst du nicht Omar fragen? Nele möchte mit mir lernen, ich weiß nicht, was das heißt", antworte ich ruhig und warte eine Sekunde ab. Er muss nichts sagen, sein kühler Blick genügt und ich wiederhole meine Frage auf Türkisch. Begeistert ist er von dieser Antwort nicht. Omar schon gleich gar nicht, denn das Resultat ist ein gelaufener Nachmittag.

Geknickt bin ich diejenige, die den Wagner Geschwister die Nachricht überbringt. Noch auf den Stufen binde ich meine Haare zu einem Zopf und streife mir die schwarze Strickjacke über mein Top, bevor ich die Haustür aufstoße. Kaum, dass sich die leicht quietschende Tür öffnet, sehe ich auch schon, wie Felix seine Schwester im Schwitzkasten hat und durch die Haare wuschelt. „Boah Felix, du bist so doof", quietscht das Mädchen und versucht sich verzweifelt aus seinem Griff zu lösen. Fehlanzeige.

Erst als Felix auf mein leises Kichern aufmerksam wird, lässt er von seiner kleinen Schwester ab. „Hey, wo sind denn die anderen?" Und keine Minute später grinst er mich nicht mehr breit an, sondern schaut bedröppelt. „Ja gut, okay. Dann gehen wir alleine Lipschitzbad oder?" dreht er sich zu Nele, doch sie schaut genau so traurig. „Ne, dann geh ich wieder zu Papa." Von Felix höre ich noch, er wolle Gino und Julius anrufen – Freunde von ihm, die ich nicht kenne- und schon hat sich der Nachmittag für alle erledigt.

Es ist nicht der erste und auch nicht der letzte Nachmittag, den die Geschwister abgewiesen werden. Zwei Jahre lang ist es ein einziges hin und her, bis ich ihn fast gar nicht mehr zu Gesicht bekomme. Doch so weit sind wir noch nicht.

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„Doğumgünün kutlu olsun!" Omar kriegt Applaus und wird vor seinen Freunden von unserer Mutter auf die Wange geküsst. Peinlich ist es ihm nicht und ich verstehe beim besten Willen nicht warum. Inzwischen ist er stolze 16 Jahre alt, mit seiner 12-jährigen Schwester will er sich nicht abgeben aber Küsschen von Mama ist ok?

Vielleicht fällt deshalb meine Gratulation auch so kurz aus. Praktisch gesehen liegt es jedoch daran, dass mich Zahit in die Küche ruft. „Koch ma Kaffee", verlangt er und lässt sich auf den hölzernen Stuhl fallen. Es fällt mir schwer mein Augenrollen zu verbergen, doch ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, bevor er mich ansieht.

„Was mit Felix? Kommt der noch?" Mit ihm habe ich nicht viel zu tun, seine kleine Schwester ist meine beste Freundin aber das kann ich ihm so nicht sagen, also zucke ich mit den Schultern. „Der's noch pumpen. Wallah, der wird noch Muhammad Ali, wenn er weiter macht so." Karim lässt sich lachend neben unseren Cousin fallen und mimt den erfolgreichen Boxer. Dass er selbst noch keine Sporthalle von innen besucht hat, interessiert keinen der Jungs.

„Lasst ihr mich eigentlich nachher mit ins Schwimmbad?" frage ich vorsichtig, reiche den beiden Jungs ihre gewünschte Limonade und sehe sie bittend an. Beantwortet wird sie mir nicht, denn in diesem Moment klingelt es an der Tür.

„Sorry, Frau Hamady. War noch trainieren", höre ich den blonden Jungen sprechen, bevor er in die Küche kommt, seine Sporttasche auf die Eckbank legt und die Jungs mit einem peinlichen Handschlag begrüßt. „Hey", wendet er sich mir kurz zu aber auch direkt wieder ab, sobald auch er eine kühle Limonade in der Hand hält.

„Darf ich mit?" versuche ich es wieder, als die Geburtstagsfeier meines Bruders so weit abgeschlossen ist, dass er nun mit seinen Freunden feiern darf. „Ich kann Nele holen?" schlägt Felix vor. Dass er mich unterstützt schmeckt Omar so gar nicht, trotzdem nickt er widerwillig und ich kann das Haus verlassen.

Einige Schritte laufen wir hinter den Jungs her und unterhalten uns über alles Mögliche. „Kommst du heute eigentlich mit ins Wasser?" Sofort schüttle ich den Kopf, als Nele mich fragt. Mich im Badeanzug in der Öffentlichkeit? Meine Brüder würden mir den Kopf abreißen. Habe ich ihn dabei? Natürlich. Wird er wieder völlig ungetragen zuhause ankommen? Sicher.

„Du hattest doch auch Schwimmunterricht oder nicht?" schaut mich das Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen an und so ungern ich es zugebe, sie hat Recht. Ich beginne zu überlegen.

Bei der Überlegung ist es lange geblieben.
  Sechs Monate, um genau zu sein. Lange waren Karim, Yassir, Omar, Zahit und sogar Hamit nicht einverstanden damit, dass ich mich so freizügig zeige. Irgendwann durfte ich.

Es war nicht meine beste Idee.

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Es ist ein warmer Tag im Juli 2004. Das junge Mädchen zu meinen Füßen feiert ihren 10. Geburtstag und ich meinen ersten Tag mit Kopftuch. Zuerst schaute Nele mich verwirrt an, dann sagte sie schlicht: „Jetzt musst du keine Haare mehr waschen, ist doch cool."

So wirklich cool finde ich das, glaube ich, nicht. Meine Kopfhaut juckt und der schwarze Stoff macht sich gar nicht gut, mit der prallen Sonne, also versuche ich mir einen Zentimeter Schatten von meinem Cousin zurück zu holen. „Komm mir nich so nah man", wettert er direkt und ich weiche ihm aus.

Während sich Felix, Karim und Yassir bereits einen viel zu ehrgeizigen Kampf im Wasser liefern, halte ich vergebens Ausschau nach Omar. Wo sich der Älteste in unserem Bunde aufhält, kann oder viel mehr, will mir auch Zahit nicht beantworten, also muss ich meinen Blick weiter gleiten lassen.

Was ich beobachte, als ich ihn endlich ausmache, vergesse ich lieber schnell wieder.

„Wollen wir ins Wasser?" fragt Nele schließlich. Auch ihre Geburtstagsfeier hat sich – wie bei jedem in unserer ungleichen Gruppe – in zwei verschiedene Feiern aufgeteilt, somit wundert es mich auch nicht, dass ihre Freundinnen aus der Schule weit und breit nicht zu sehen sind. Vorsichtig lasse ich meinen Blick zu Zahit schweifen, der uns absichtlich ignoriert. Ob ich es riskieren soll?

Mein blauer Badeanzug ist lang, lässt keinen Raum für irgendwelche Spekulationen und trotzdem schüttle ich den Kopf. „Okay", seufzt Nele leise. Lange schon diskutiert sie nicht mehr mit mir und ich ziehe geknickt meine Beine an meinen Oberkörper. Den Kopf lege ich auf den Knien ab und beobachte, wie sie sich, ohne große Vorwarnung auf den Rücken ihres Bruders wirft.

Es dauert lange, bis Zahit neben mir einschläft, während ich meiner Freundin dabei zu sehe, wie sie sich immer wieder lachend mit ihrem großen Bruder kabbelt. Zeit, die ich einfach ausnutze.

Nur auf Zehenspitzen laufe ich die dürre Wiese ein Stück nach unten, bevor ich mir das lange, schwarze Sommerkleid über den Kopf ziehe, mein Kopftuch ordentlich gefaltet darauf platziere und Nele ins kalte Wasser folge.

Kurz tauche ich unter und nehme für einen Moment nur die Stille um mich herum auf. Das Wasser schmeckt scheußlich nach Chlor, als ich wieder auftauche und mich prompt verschlucke. „Geht's?" Lachend klopft mir Felix auf den Rücken, bis ich mich einigermaßen gefangen habe. Sein Kontakt ist mir unangenehm und ich schwimme ein ordentliches Stück von ihm weg.

Wie lange wir drei einfach nur an Ort und Stelle stehen, weiß ich gar nicht, doch es reicht aus, damit ich mich entspanne. Damit ich einen Moment nicht über die neuen Mietverträge meines Vaters nachdenke, die ich ihm bestimmt nicht korrekt übersetzen kann, damit ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht an die Klassenarbeit morgen denke, die ich sicherlich wieder in den Sand setzen werde, damit ich mich einfach leicht und Teil einer Gruppe fühlen.

Doch der Moment verfliegt, als ich Zahits Stimme viel zu nah bei mir wahrnehme. „Raus da, yallah."

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Lange, ewig lange warten wir an einem kalten Wintertag im Dezember 2004 auf einen Arzt. Immer wieder nehme ich Ane in die Arme und streiche ihr beruhigend über den Rücken. Zumindest im Rahmen meiner Möglichkeiten, denn übersetzen, was der Arzt uns sagt, möchte ich nicht. Nicht, weil ich ihn nicht verstehe, sondern einfach, weil ich nicht wahrhaben will, was er mir da sagt.

„Aber..." Kein einziger Laut verlässt meinen Mund.

Das einzige, was in dieser Nacht die kühlen, leeren Gänge des Krankenhauses durchflutet, ist das Weinen meiner Mutter. Meine Brüder zeigen keine Regung und auch ich kann nicht weinen. Nicht hier vor allen. Ich kann in diesem Moment gar nichts.

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Es dauert viele Monate, bis sich etwas Normalität einspielt.

Die Beerdigung meines Vaters findet nach langem Bürokratie-Krieg zuhause in Istanbul statt.

Eine Tatsache, die mein Leben nachhaltig beeinflusst und zum jetzigen Zeitpunkt ist mir egal, dass das, was ich denke, schrecklich egoistisch ist. Doch es wäre besser gewesen, hätten wir die Türkei nie wieder betreten. Wer weiß, vielleicht wäre ich lebend aus der Sache heraus gekommen? Aber wir sollten nichts überstürzen. Machen wir weiter...

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