Kapitel 9
„Mit Kieron willst du sprechen? Meinst du das ist eine gute Idee?"
Ich kann Samira nicht sehen, aber ihr Stirnrunzeln höre ich auch durchs Handy.
„Ja, ich meine er ist, beziehungsweise war, doch in der gleichen Situation wie ich. Naja, zumindest in einer ähnlichen. Und vielleicht kann er mich beraten, was ich tun soll?"
„Und sicher, dass er dichthalten wird?"
„Das kann ich nur hoffen" ich zucke mit den Schultern „Außerdem, irgendwann wird es die ganze Schule eh erfahren. Und schließlich erzähle ich ihm nicht alles. Dass meine Eltern mich nur gefunden haben, bleibt ein Geheimnis und wir werden den Leuten erzählen, dass meine richtigen Eltern etwas bei der Ehewandlung falsch gemacht haben und ich deshalb so bin wie ich bin und meine jetzigen Eltern davon nichts wussten. Zumindest haben meine Eltern sich das gerade so überlegt"
Ich schaue über meine Schultern, wo meine Eltern gerade im Wohnzimmer sitzen und mir bestätigend zunicken.
„Na dann, wenn alle informiert sind, kann ja eigentlich nichts schief gehen. Ich halte dicht, deine Eltern, du auf jeden Fall und was ist mit Zoe und Matteo? Habt ihr mit denen schon gesprochen?"
„Mit Matteo habe ich gerade eben gesprochen und ja er wird auch nichts verraten. Und Zoe kommt gleich nach Hause und dann besprechen wir das noch mit ihr, aber da wird schon alles klappen, sie ist ja schließlich nicht doof"
„Im Gegensatz zu ihrer Schwester" Samira kichert vor sich hin.
„Jaja. Sammy wer hat dir letztens bei Biologie geholfen?" frage ich lachend.
„Oh man jaaa, ich bin ja schon still. Wann kommst du denn wieder zur Schule? Schon der eine Tag ohne dich war wirklich langweilig und ich habe allen erzählt, dass du krank bist, also keine Sorge"
Ich werfe einen Blick zu meinen Eltern hinüber und frage sie, was sie über Thema Schule denken.
„Also meine Eltern meinen, dass ich eigentlich morgen schon zur Schule gehen könnte, wenn ich das will und werde ich vermutlich machen. Ich möchte, dass das alles hier nicht zu dramatisch wird und wenn ich noch länger zuhause bleibe, gibt's falsche Gerüchte"
„Das stimmt auch wieder, ich freu mich schon auf dich und eventuell könnte die Party am Freitag ja dann doch stattfinden"
Verwundert runzele ich die Stirn: „Hä, welche Party meinst du denn?"
„Irina... was war gestern?"
„Meine erste Wandlung?"
„Ja das auch, aber auch dein 16. Geburtstag und wir wollten doch eine Überraschungs-Party für dich machen, die jetzt natürlich keine Überraschung mehr ist, aber egal Party ist Party"
Ob man mir das jetzt glaubt oder nicht, aber ich hatte für einen kurzen Moment wirklich vergessen, dass ich gestern Geburtstag hatte. Aber man muss mich auch versteh, dass ich in heute und gestern Nacht andere Gedanken hatte, wohingegen Samira natürlich diese andere kleine Sache, namens Party, nicht so einfach vergessen hat.
Irgendwie freue ich mich auf die Party, aber doch bin ich auch unsicher.
Aber das ist doch auch irgendwie unsinnig, schließlich traue ich mich morgen in die Schule zu gehen, wo es viel mehr Trigger gibt, aber auf eine Party will ich nicht gehen. So ein Quatsch! Entschlossen antworte ich Samira:
„Die Party hatte ich wirklich vergessen, aber jetzt wo du mich dran erinnerst: Wenn morgen in der Schule alles glatt läuft, ich in Ruhe mit Kieron gesprochen habe und sonst alles klappt, feiern wir am Freitagabend ne Party."
„Yes! Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest. Die Details sage ich dir dann morgen oder so... Oh ich muss aufhören, meine Eltern wollen was von mir. Bis morgen früh dann"
„Ja bis dann"
Ich lege auf, schiebe mein Handy auf den Küchentisch zur Seite, gehe dann rüber zu meinen Eltern und lasse mich neben den beiden auf dem Sofa fallen. Gleich müsste Zoe nach Hause kommen und dann führen ich zum wiederholten Male ein aufklärendes Gespräch. Und ernsthaft frage ich mich, ob es irgendwann mit solchen Gesprächen aufhören wird.
Irgendwann später, ich habe mal wieder mein Zeitgefühl verloren, chille ich auf meinem Bett und schaue mir Beiträge auf Instagram an.
Das Gespräch mit Zoe war eigentlich ganz okay, meine Eltern haben das meiste Reden übernommen und meine kleine Schwester war erst sehr überrascht und war sich danach aber auch gleich bewusst, wie wichtig es ist das geheim zu halten. Schließlich habe ich mich auch noch vor meiner Familie gewandelt, obwohl es mir erst unangenehm war, aber wir sind eine Familie und wandeln ist eigentlich das normalste der Welt für uns. Zoe hat sich dann auch mitgewandelt und hat sich auf meinen Rücken gesetzt. Als kleiner leichter Rabe war das überhaupt kein Problem und ich bin mit ihr auf dem Rücken durch unser Haus gelaufen, was die Stimmung in meiner Familie um einiges aufgelockert hat.
Tja, dann habe wir zu Abend gegessen und jetzt esse ich nebenbei die Macarons von Matteo und weiß nicht so richtig, was ich tun soll. Ich sollte mir vielleicht überlegen, was ich Kieron morgen sagen werde oder besser gesagt, wie ich es ihm sagen werde. Zum Glück habe ich morgen mit ihm Politik, vielleicht können wir dann in der Pause danach drüber sprechen, nur sollte Olivia nicht dabei sein, die ja sonst immer an ihrem Freund hängt. Naja, ich werde schon einen Weg finden, denke ich und esse einen blauen Macaron, der nach Blaubeere schmeckt.
Am nächsten Morgen, wache ich schon ein paar Minuten vor dem Wecker auf und mache ihn aus, bevor er piept. Obwohl ich so Lust drauf hätte liegen zu bleiben, stehe ich auf und dusche mich kurz kalt ab. Eigentlich dusche ich lieber warm, aber da ich heute Energie brauche versuche ich es mal mit dieser eisigen Alternative.
Nachdem ich mich angezogen habe, werfe ich meine Schulsachen in meinen Rucksack und gehe ich Treppe hinunter, wo ich schon Toast rieche. Ich wünsche meinen Eltern einen guten Morgen und esse ein Toast mit Marmelade, als auch Zoe zu uns stößt, die diesmal mit Samira und mir mit zur Schule fahren will. Während sie ebenfalls frühstückt, verschwinde ich noch einmal schnell im Badezimmer und gehe dann in den Flur, um meine Schuhe anzuziehen.
„Willst du keine Jacke anziehen, gestern war es doch schon nicht so warm?" fragt Zoe mich, als sie ihre Jacke über ihre Schuluniform anzieht.
Ich öffne die Tür, stecke meinen Kopf heraus und kalter Wind schlägt mir entgegen. Heute scheint es wohl wirklich kälter zu sein und ich ziehe meine Jacke an, zumindest für den Hinweg.
Als meine Schwester und ich mit unseren Sachen das Haus verlassen und unsere Fahrräder holen wollen, kommt Samira schon vorbei und winkt uns zu.
Meine Eltern kommen ebenfalls heraus, schließen die Haustür ab und meine Mutter steigt ins Auto, um zur Arbeit zu fahren. Mein Vater fliegt zur Schule, wandelt sich deshalb und ruft uns noch ein „Bis später" zu, dann machen wir übriggebliebenen uns auch auf den Weg zu unserer Schule.
Jetzt wo ich auf dem Weg in die Höhle des Löwen bin, werde ich schon etwas nervös, weil ich weiß, dass ich anders bin und dass das bei manchen nicht so toll ankommen wird. Und deshalb muss ich später auch unbedingt mit Kieron sprechen, hoffentlich kann er mir helfen oder mich zumindest beraten.
Der Wind weht mir entgegen und ich merke wie mein innerer Luchs laufen und springen möchte, doch ich halte die Wandlung zurück. Auch unterdrücke ich das Bedürfnis im Stehen weiterzufahren und dabei laut und fröhlich zu rufen. Mein Luchs möchte, dass ich glücklich bin und das werde ich vermutlich auch sein, wenn die ganzen Sachen geklärt sind und ich mich mir selbst und meinen Wünschen zuwenden kann. Ich glaube nach der ganzen Sache kann ich erstmal Urlaub gebrauchen.
Schließlich fahren wir auf unser Schulgelände und schließen unsere Fahrräder an. Zoe geht zu ihren Freundinnen nach drinnen und Samira und ich machen uns auch gemeinsam auf den Weg zu unserer Deutsch Stunde.
Diese Doppelstunde kommt mir so unendlich lang vor und auch die Biologie Stunden danach wollen einfach nicht rum gehen. Normalerweise finde ich Biologie immer sehr interessant und ich beteilige mich auch immer, aber heute sind meine Gedanken nur bei Kieron.
Gerade in der Pause habe ich ihn gesehen, er war kurz alleine und theoretisch hätte ich schon zu ihm hingehen können, aber dann war die Zeit schon um gewesen und so muss ich auf die gleich folgende Politik Stunde mit ihm warten. Als Biologie endlich herum ist und ich schnell nach draußen will, um frische Luft zu schnappen, hält mich mein Lehrer noch zurück. Er fragt mich ob alles in Ordnung sei, weil ich mich heute gar nicht beteiligt habe. Ich murmele nur schnell ein leises „Heute ist einfach nicht mein Tag heraus.", weil ich gerade so ein Gespräch nicht aushalten würde und verschwinde mit Samira, die vor dem Raum auf mich gewartet hat, auf den Pausenhof.
Dort setzten wir uns auf eine Bank und Samira holt ihr Frühstück heraus, während ich nur auf meiner Lippe herumkaue und meine Hände anfangen zu schwitzen. Nervös versuche ich den Schweiß an meiner Hose abzuwischen und ziehe so de Aufmerksamkeit meiner besten Freundin auf mich.
„Hey, du solltest vielleicht was essen, das hilft gegen die Nervosität, sagt mein Vater zumindest immer"
Tja, das Problem ist nur, wenn ich an Essen denke, weigert sich mein Bauch und mir wird ein bisschen schlecht. Also schüttele ich den Kopf und versuche mich auf etwas anderes zu konzentrieren, was ziemlich schwer ist, weil ich ja sozusagen gleich mein Outing mache.
„Sammy kennst du jemanden, der sich geoutet hat und weißt du wie die Reaktionen waren?"
Sie überlegt kurz: „Hm, ach ja, ja ich kenne jemanden. Mein einer Cousin hat sich als bisexuell geoutet. Also die Reaktionen von einem Teil der Familie war das nicht so gut, weil die gehofft haben, dass das nur eine Phase ist. Und jemanden anderen kennst du doch auch: Anna hat sich doch vor einem Jahr als transsexuell geoutet und wie waren die Reaktionen...?"
„Die Reaktionen waren gut, die meisten fanden es toll, dass sie/er so offen darüber geredet hat. Aber denkst du mein Outing wird auch so gut? Ich meine, ich kann ja genauso wenig etwas dafür, wie Anna oder dein Cousin. Und außerdem haben meine jetzigen Eltern auch nichts damit zu tun, sie haben mich nur adoptiert, also würde es auch nichts ändern, wenn ich wie Kieron von meinen Eltern wegziehen würde, oder?"
„Ich glaube, dass das schon nicht so schlimm werden wird. Natürlich wird es Leute geben, die blöd sein werden, aber die gab's schon immer... und wir wissen beide, dass du besser bist als diese eine Person, an die wir beide gerade denken"
Also wenn Sammy auch an Terry denkt, dann denken wir wirklich an die gleiche Person. Und Terry wird wohl auch die Person sein, die mir nach meinem Outing, weil irgendwann wird das große Outing kommen müssen, Probleme machen wird.
Bevor sich meine Gedanken in ein weiteres Chaos verwirren, kommen Lina und Nathaniel vorbei und setzten sich zu uns. Mir schießt die Idee in den Kopf, den beiden schon etwas von mir als Luchs zu erzählen, doch ich halte mich zurück. Schließlich kann ich mit den beiden immer noch reden, wenn ich die Sache mit Kieron beredet habe. Hoffentlich hört er mir überhaupt zu...
Ich erschrecke mich so sehr vor dem Pausenklingeln, dass ich schon fast aufspringe und mich meine drei Freunde überrascht anschauen.
„Du hast es aber eilig zum Unterricht zu kommen" lacht Lina und ich stimme zögernd in ihr Lachen ein. Hinter ihr sehe ich wie Samira mir ihre gedrückten Daumen zeigt und aufmunternd nickt.
Es ist wirklich schlimm, dass ich nun alleine zu Politik gehen muss, weil die anderen wo anders hinmüssen. Aber den Weg in meine Erlösung oder in die Hölle muss ich jetzt wohl alleine gehen... auf zu Kieron.
Als ich das Klassenzimmer betrete, sind nur Herr Vulpes und ein paar andere Schüler schon da, die Plätze neben mir sind beide leer. Ich streife meinen Rucksack von meinen Schultern und lege ihn auf meinen Tisch, während ich mich setze. Nervös knibbele ich an meinen Fingern herum, als die restlichen Schüler ebenfalls den Raum betreten. Meine Sitznachbarin, die Nägelexpertin, scheint heute nicht da zu sein, denn als letztes betritt Kieron den Raum und schließt die Tür hinter sich.
Klappe zu, Affe tot. Naja, hoffentlich sterbe ich am Ende der Stunde nicht an einem Herzstillstand vor Aufregung. Da wäre der ganze Stress ja umsonst gewesen.
Zumindest versuche ich mich zusammen zu reißen, als sich Kieron neben mich setzt, mir kurz hallo sagt und mich dann erstmal ignoriert.
Ich denke nicht, dass ich ihn während der Stunde ansprechen kann, also werde ich auf die 5 Minuten Pause warten müssen und schaue deshalb die ganze Stunde lang auf die Uhr oder auf Kieron.
Irgendwann fällt mir auf, dass das für ihn so wirken könnte, als wäre ich in ihn verliebt und das ist jetzt genau das Gegenteil, was ich von ihm möchte.
Neue Taktik: die Uhr, die Tafel und Herr Vulpes. Wenigstens höre ich so ein bisschen beim Unterricht zu und melde mich auch einmal kurz, um nicht wieder am Ende der Stunde angesprochen zu werden.
Ich schaue auf die Uhr: noch 10 Minuten bis zur kurzen Pause, puh, gefühlt bin ich schon tot.
„So ihr macht jetzt eine Partnerarbeit mit eurem Sitznachbar für eine Viertelstunde. Die fünf Minuten Pause könnt ihr euch selbst einteilen, solange ihr nach der Zeit fertig seid. Bitte macht Aufgabe 4 a und b"
Partnerarbeit mit Kieron: besser kann es eigentlich nicht werden! So reden alle mit ihrem Partner und wir fallen nicht besonders auf. Ich schicke einen dankenden Blick zu Herr Vulpes, der zum Glück gerade nicht zu mir schaut. Das wäre peinlich geworden.
Doch jetzt muss ich mich meinem Partner zu wenden und bevor wir mit der Aufgabe anfangen, muss ich ihn ansprechen, sonst fehlt uns am Ende die Zeit.
Ich räuspere mich und versuche möglichst normal zu sprechen, während Kieron sich gerade die Aufgabe durchliest.
„Ähm Kieron?"
„Ja?" er schaut zu mir auf und ich drehe innerlich fast durch.
„Ja, ähm, also bevor wir mit der Aufgabe anfangen, wollte ich dich noch etwas fragen"
„Klar, schieß los"
„Also ich wollte dich was zu deiner ersten Wandlung fragen und was dann ..."
Doch bevor ich weiterreden kann unterbricht mich Kieron hart:
„Irina. Ich möchte nicht über meine Wandlung reden und du weißt warum, also wenn deine Frage nur damit zu tun hat, können wir dann bitte einfach die Aufgabe machen?"
„Ich ähm, nein ich muss mit dir reden! Es geht eigentlich nicht um deine Wandlung, sondern um meine..."
Jetzt scheine ich Kieron wohl wirklich verwirrt zu haben:
„Wie es geht um deine Wandlung? Du hattest doch noch gar keine oder etwa doch? Und warum willst du dann mit mir darüber reden?"
„Das ist etwas kompliziert", fange ich leise an „können wir uns vielleicht nach der Stunde alleine unterhalten?"
Für meinen Geschmack schaue ich ihn gerade zu bittend an, aber ich muss ihn einfach dazu bringen mir zu helfen.
„Na gut, wenn du das unbedingt möchtest, dann gehen wir gleich zur Bibliothek rüber und reden dort"
Ich kann in seinen Augen nicht lesen, ob er etwas ahnt, doch ich bin froh, dass ich gleich mit ihm reden kann und meine Aufregung wird etwas weniger.
Kieron scheint wohl noch etwas sagen oder fragen zu wollen, aber in dem Moment kommt Herr Vulpes vorbei und schaut auf unsere Blätter, auf denen noch nichts steht. Schnell wenden mein Partner und ich uns der Aufgabe zu und besprechen, wie das Schaubild am besten aussehen sollte.
In der restlichen Stunde redet Kieron kaum noch mitmir und wendet sich voll dem Unterricht zu. Als es klingelt nickt er mir nochkurz zu und macht sich dann aus dem Staub. Etwas verwirrt mache ich michalleine auf den Weg zur Bibliothek.
Hoffentlich wird Kieron gleichkommen und mir helfen...
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