Kapitel 52 (Ced)
„Irina, wach auf! Du träumst nur..." vorsichtig fasse ich Irinas Schulter und schüttele sie leicht. Diese windet sich hin und her und murmelt etwas, was ich aber nicht verstehe.
Aber das Schlimme ist, dass sie weint. Deswegen bin ich gerade wach geworden.
Es ist mitten in der Nacht und mit einem Blick nach draußen wird mir klar, dass der Mond immer voller wird.
Der Vollmond rückt immer näher und wir wissen nicht, was dann mit Irina passieren wird. Das bereitet mir wirklich Sorgen, hoffentlich können wir rechtzeitig den anderen Werluchs treffen.
„Irina" wiederhole ich nun noch einmal und endlich schlägt sie die Augen auf.
Wie Bernsteine leuchten sie mir entsetzt entgegen. Ungläubig, als wäre ich nicht real.
„Ced, du lebst?" fragt sie mich krächzend und eine weitere Träne läuft aus ihrem Auge.
„Natürlich, komm her" sage ich möglichst ruhig und setze mich zu ihr aufs Bett und ziehe sie nah an mich heran.
Mein Arm schmerzt zwar, doch ich beiße die Zähne zusammen und halte sie beruhigend fest. Ich merke, wie sie leicht zittert und außerdem scheint sie dolle geschwitzt zu haben, ihre Haut glüht und wärmt meine.
Sie erwidert meine Umarmung mit einem dankbaren Seufzen und klammert sich an mich ran.
Dass ich oberkörperfrei bin, ist im Moment egal.
In einer anderen Situation wäre es ihr peinlich gewesen, aber sie scheint wirklich etwas schlimmes geträumt zu haben, dass sie so reagiert.
Ich streiche mit meiner Hand über den Stoff ihres Schlafshirt und versuche so ihren hämmernden Herzschlag zu verlangsamen.
„Es ist alles in Ordnung, ich bin doch hier" flüstere ich ihr noch einmal beruhigend zu.
Das scheint zu wirken, denn sie nickt und streicht sich über ihr feuchtes Gesicht.
„Ja. Ced, ich hatte einen schlimmen Traum"
„Ich hab's gemerkt" antworte ich und streiche ihr eine schwarze lange Strähne aus dem Gesicht
„Was hast du denn geträumt? Es hilft darüber zu reden und anscheinend betrifft es ja auch mich"
„Es war ganz schrecklich. Es war Vollmond und ich habe mich selbst gesehen, konnte aber nicht eingreifen. Ich war bei meinen Eltern und Terry war auch da und hat meinen Eltern Lügen über mich erzählt. Und dann haben sie mich gehasst und rausgeworfen"
Irina schnieft einmal, bevor sie weitererzählt:
„Und dann lagst du auf einmal dort am Boden und überall war Blut und dann habe ich gesehen, dass ich das war, an meinen Pfoten war überall Blut. Und dann hast du gesagt ‚Ich hätte dir niemals vertrauen sollen' und ... und dann bist du gestorben. Ich konnte nichts dagegen tun und niemand hat mir geholfen" sagt sie krächzend.
„Du weißt, dass das nicht passieren wird. Wir werden schon herausfinden, was an Vollmond passiert und ich werde dich niemals auf so eine Art verlassen" meine ich und drücke sie noch einmal fest an mich ran.
Doch ein Gedanke lässt mich nicht los, der sich wie ein Dorn in mich bohrt:
Es ist nicht gut, wenn Irina sich auch so Sorgen um den Vollmond macht. Es ist zwar absolut verständlich, aber wenn wir nicht aufpassen, wird sie verrückt oder bricht in Hysterie aus und das kann schlimme Folgen haben, wenn man ein Raubtier Wandler ist.
Und vielleicht hat sie an Vollmond sogar noch besondere Fähigkeiten. Eine komplizierte Situation.
„Ich weiß" antwortet sie gedämpft „Aber in dem Moment hat es sich sehr real angefühlt"
„Ich verstehe" ich überlege kurz und stehe dann energisch auf: „Na komm, Irina, wir gehen jetzt raus"
Verdattert richtet sie sich auf und schaut mich überrascht an, während ich mir einen Pullover anziehe.
„Ced, es ist mitten in der Nacht?"
„Ja! Na komm, du musst deine Sorgen loswerden und dafür gehen wir jetzt raus und machen einen kleinen Spaziergang" meine ich motivierend und beobachte Irina, wie sie langsam und verwirrt aufsteht.
„Okay. Soll ich mich noch anziehen?" meint sie und deutet auf ihre Schlafsachen.
Ich schüttele grinsend den Kopf: „Vielleicht solltest du dir auch einen Pulli anziehen und halt Schuhe, der Rest reicht. Es regnet ja zum Glück nicht" ich deute zu meinem Fenster.
Irina tut was ich ihr gesagt habe und gemeinsam schleichen wir uns nach unten. Kein Holz quietscht unter meinen Füßen und ich schiebe Irina aus der Haustür hinaus in die dunkle Nacht.
Während ich die Tür schließe, höre ich wie Irina die kalte Herbstluft einatmet und sich dann zu mir umdreht. Die Tränen sind aus ihrem Gesicht verschwunden und sie lächelt leicht.
„Die kalte Luft tut irgendwie gut"
„Wenn dir das schon guttut, dann freu dich auf gleich" sage ich grinsend und nehme sie bei der Hand.
Dann laufe ich los und ziehe meine Freundin mit mir mit. Obwohl es dunkel ist und ich kaum etwas sehen kann, kenne ich den Weg zu meinem Ziel in und auswendig.
„Wo gehen wir hin, Ced?" fragt Irina, überrascht über mein Tempo.
„Zu meinem besonderen Ort" sage ich und lächele bei dem Gedanken.
Es ist etwas anderes durch den Wald zu fliegen, als so zu rennen. Aber auch so auf zwei Beinen und ohne Flügel, ja auch so fühlt sich Freiheit an.
Auf eine ganz andere Art. Nicht unbedingt auf eine bessere, da die Schwerkraft einen deutlicher herunterzieht, auf den Boden der Tatsachen.
Trotzdem bin ich in der Situation, dass ich Dinge genießen kann. Die Jahre haben mich abgehärtet, sodass ich mich über Kleinigkeiten freuen kann, wenn ich es denn brauche oder will.
Die kalte Luft der Nacht dringt in meine Lungen ein, wie Wasser in ein Gefäß und gibt mir einen Kick, der sich nicht beschreiben lässt. Als könnte ich gleichzeitig nicht atmen, aber auch zur selben Zeit die gesamte Luft der Welt verschlucken.
Ich breite meine Arme aus und löse mich somit von Irina, blicke dann zum Himmel, sehe die Sterne und drehe mich im Kreis. Ich drehe mich, solange bis mir schwindelig wird und ich mich lachend gegen einen kleinen Baum lehnen muss und mich auf den Boden gleiten lasse.
Die kalte Luft steigt in meinem Kopf und sorgt dafür, dass ich leichte Kopfschmerzen bekomme. Das Gefühl ist berauschend, wenn man weiß, dass man sich in diesem Moment keine Sorgen machen kann.
In anderen Situationen sind Kopfschmerzen und der Verlust des rationalen Denkens, für einige Sekunden, etwas Unvorsichtiges und Gefährliches, wenn nicht sogar Wahnsinniges.
Aber einer dieser Moment ist jetzt nicht, das spüre ich durch meinen siebten Sinn. Oder sechsten oder achten? Wie viele Sinne ich genau habe, weiß ich nicht, aber im Moment sagen mir alle, dass es in Ordnung ist loszulassen.
Loszulassen von meinen eigenen Sorgen, wenigstens für einen kurzen Moment, in dem mich die kalte Luft betäubt.
Wir sind in einem kleinen Wald angekommen, nicht weit weg von der Stadt, aber weg.
„Was ist denn mit dir los?" fragt Irina schmunzelnd und muss sich ein Lachen verkneifen, als sie mich, drehend und glücklich nach Luft schnappend, sieht.
„Ich lasse meine Sorgen los und genieße den Moment. Und du brauchst auch einmal eine Pause von deinen ganzen Sorgen, deshalb sind wir hier"
„Soll ich mich jetzt auch im Kreis drehen?" fragt sie lächelnd, aber auch ein Schwung von Ernsthaftigkeit schwingt in ihrer Frage mit.
„Ich weiß es nicht, du brauchst etwas was dir hilft, die Sorgen loszulassen, zumindest für diesen Moment. Verjage deinen schlechten Albtraum" erwidere ich und richte mich langsam wieder vom leicht nassen Blätter-bedeckten Boden auf. Nicht zu schnell, da ich sonst befürchte hinzufallen.
Ich vertraue meinem Gleichgewichtssinn noch nicht zu 100 Prozent.
„Aber ich weiß nicht wie" sagt sie unsicher.
„Was fühlst du, wenn du an deinen Albtraum denkst?" gebe ich ihr als Denkhilfe.
Sie überlegt kurz bevor sie antwortet, sie ballt ihre Hände zusammen und ihr Oberkörper scheint sich bei dem Gedanken an den Traum zu verkrampfen:
„Ich fühle Wut, auf Terry, weil sie mich kaputt macht. Und ich bin wütend auf mich, weil ich so unsicher bin" sie seufzt „Aber vor allem habe ich Angst. Ich habe Angst dich zu verlieren, dass ich mich nicht kontrollieren kann oder dass mich meine Familie nicht mehr aufnehmen wird, denn ich möchte irgendwann zu ihnen zurückkehren. Ach, es ist alles so kompliziert, am liebsten würde ich einfach gerne alles laut rausschreien" sagt sie geknickt.
„Dann tu das doch" meine ich auf einmal und klopfe ihr auf die Schulter „Schrei dir dein Leid von der Seele"
„Aber das geht doch nicht" antwortet Irina und schaut sich besorgt um. Ich weiß nicht, ob sie sich Sorgen macht, jemand könnte uns hören und das wäre ihr peinlich oder sie macht sich Sorgen um ihre Sicherheit.
Normalerweise kann ich Irina sehr leicht lesen, doch jetzt scheint sie selbst hin und hergerissen zu sein, was es für mich natürlich nicht einfacher macht, sie ohne Worte zu verstehen. Dass ich diese besondere Beobachtungsgabe habe, kommt vermutlich daher, weil ich ein Vogel bin. Wir sind die Beobachter, die Berater oder die neutrale und objektive Sicht.
Aber auf keinen Fall sind wir unfehlbar. Ich möchte nicht gegen Irinas Eltern sagen, aber es ist eindeutig, dass ihr Blick für die Wahrheit eingeschränkt zu sein scheint. Und ich könnte darauf wetten, dass es daran liegt, dass sie Irina lieben und ihr unberechenbares Ich, welches nicht nach den häuslichen Regeln spielt, einfach nicht sehen wollen. Ansonsten hätte Irina es niemals geschafft ein zweites Mal von zuhause abzuhauen.
Aber das würde ich meiner Freundin nie so sagen, manchmal hat sie noch einen recht naiven Blick auf die Dinge oder ein Vertrauen in Menschen, das vielleicht unberechtigt ist. Ich möchte ihr helfen und das hier ist hoffentlich ein guter Schritt.
„Natürlich geht das. Irina, es ist Donnerstagmorgen, hier wird niemand unterwegs oder wach sein. Vertrau mir" sage ich lächelnd und deute mit meiner Hand über den Wald und horche in die Stille hinein.
Nichts ist zu hören, nicht einmal andere Tiere. Wir sind alleine hier.
Auch Irina scheint dies bemerkt zu haben, denn sie wirkt schon nicht mehr so unsicher, wie vor ein paar Sekunden.
„Also einfach schreien?" fragt sie an mich oder vielleicht auch eher an sich selbst gerichtet, doch ich antworte trotzdem.
„Mach wie du es möchtest. Schrei einfach, rufe Namen oder erzähl was dich bedrückt. Es liegt an dir. Ich gebe dir Freiraum" zähle ich auf und gehe dann einige Schritte zurück.
Irina weiß selbst am besten über ihre Sorgen Bescheid und ich kann ihr nur den Weg zeigen, damit es ihr besser geht, aber den Sprung muss sie alleine schaffen.
Sie schaut sich noch zu mir um und wendet aber dann auch den Blick nach oben in die Sterne. Ich beobachte sie dabei aufmerksam und verfolge jede ihrer Bewegungen.
Irina steht noch einige Sekunden etwas unentschlossen herum, doch dann gibt sie sich einen Ruck. Sie hält ihre Hände wie ein Trichter an den Mund, holt tief Luft und schreit dann in Richtung Himmel:
„Ich bin kein Rabenblut und bin stolz drauf! Ich bin stolz drauf! Ja genau, ihr könnt mich alle hören: Ich bin kein Rabe und bin stolz drauf!"
Lächelnd beobachte ich das Geschehen und sehe, wie sich Irina langsam lächelnd umdreht. Ich hatte also Recht.
„Das hat echt gutgetan!" ruft sie und springt mir mit einem Anlauf in dem Arm.
„Uff" stoße ich überrascht auf und halte das Mädchen fest, obwohl mein Arm sowas eigentlich nicht zulässt. „Das freut mich, aber ich glaube ich kann dir nicht mehr lange halten"
Schnell hüpft sie von meinem Arm: „Oh stimmt, sorry, ich hab deine Verletzungen vergessen"
„Ach die heilen schon. Wenigstens haben wir dich gerade geheilt" sage ich grinsend, um von mir abzulenken.
„Es fühlt sich auf jeden Fall so an, als wäre eine große Last von mir abgefallen"
„Sehr gut. Dann lass uns jetzt zu meinem Lieblingsplatz hier in der Nähe gehen" antworte ich und deute in die entsprechende Richtung.
„Was ist es denn?" fragt sie neugierig.
„Warte noch ein paar Minuten, dann siehst du es von alleine" sage ich zwinkernd.
„Na gut" meint sie und verdreht lächelnd die Augen.
„Also das ist echt cool. Hast du das gebaut?" überrascht schaut Irina hoch in den Baum. Hoch zu einem Baumhaus, bestehend aus einem einfachen Raum und einem Balkon. Eine Leiter führt nach oben.
„Nein" ich schüttele lachend meinen Kopf „Denkst du ich hätte so ein handwerkliches Geschick? Wenn ja, dann liegst du falsch. Das haben irgendwelche Kinder gebaut, aber sie kommen nur noch sehr selten vorbei"
Ich erinnere mich, als wäre es vor ein paar Tagen gewesen, als wir hierhergezogen waren und ich auf einer Erkundungstour die Kinder und dieses Baumhaus gefunden hatte.
Es hatte mich traurigerweise an meine Kindheit erinnert, weil es mir nicht erlaubt war ein Baumhaus, in den einzigen Baum in unserem Garten, zu bauen, meine Mutter hat es mir verboten.
Meine Mutter brauchte keine guten Argumente: „Ihr macht euch dreckig" oder „Ihr könntet euch verletzen", im Nachhinein hätte man alles gut kontern können, aber nicht mit sieben Jahren.
Auch mein Bruder stellte sich unserer Mutter nie in den Weg, er stand zwar im Herz mehr auf meiner Seite, war aber nie so rebellisch wie ich.
Mein Vater tat ebenfalls nie etwas gegen den harten Ton meiner Mutter, im Nachhinein bin ich mir nicht mal sicher, ob er überhaupt etwas gegen sie sagen wollte, vermutlich habe ich mir das immer nur eingeredet, damit ich das Gefühl hatte, jemand würde, wie ich, auch von ihr unterdrückt werden. Die Familie meines Vaters war zwar reich, aber nicht adelig, sodass er ihr so oder so aus ihrer Sicht immer unterstellt sein würde.
Offensichtlich war die Hochzeit von meinen Eltern arrangiert gewesen und auch meinem Bruder wurde schon früh ein Mädchen, mit viel Ansehen und Geld, zugeteilt. Wenigstens war sie relativ freundlich, das hatte mich und besonders Coral getröstet.
„Wir warten bei dir noch auf eine bessere Partie" hatte mein Vater einmal zu mir gesagt, als ich gefragt hatte, warum mir noch niemand versprochen worden war. Es war nicht so, dass ich verheiratet werden wollte, es hatte mich einfach verwundert.
Zur jetzigen Situation bezogen, war es für meine Eltern die beste Entscheidung, die sie treffen konnten, mich noch nicht jemanden zu versprechen, da sie sonst meiner zukünftigen Frau erklären müssten, warum ich plötzlich vom Boden verschwunden sei.
Solche Gedanken kommen bei mir immer wieder hoch und als ich damals das Baumhaus mit den Kindern gefunden hatte, hatte ich mir gewünscht in dem Alter von ihnen zu sein und einfach loslassen und spielen zu können.
Der Wunsch hatte mich für lange Zeit traurig gemacht, da niemand die Vergangenheit ändern kann, aber nun bin ich darüber weg und freue mich, über die kleinen Momente, die ich im Baumhaus verbringe.
Durch die Reisen mit Irina, ist es schon Tage her, dass ich das letzte Mal hier war. Besonnen streiche ich über das Holz der Leiter, ohne mir einen Splitter in die Finger zu jagen.
„Können wir denn da rauf gehen?" fragt Irina freudig, sie scheint meine Gedankenspielerei nicht bemerkt zu haben.
Ich nicke lächelnd und schüttele meine gemischten Gefühle erst einmal ab. Erst einmal, weil ich vermute, dass Irina mich gleich noch Dinge über meine Vergangenheit fragen könnte. Mich hatte es sowieso schon verwundert, warum sie damit nicht schon auf dem Weg von Frau Professor Doktor Zea nach Hause angefangen hat.
„Na komm ich klettere vor und helfe dir dann hoch" sage ich und betrete die erste Stufe.
„Also hoch helfen brauchst du mir wirklich nicht" antwortet Irina und streckt mir die Zunge raus. Schmunzelnd klettere ich blitzschnell nach oben und sie folgt mir in ungewöhnlich schnellem Tempo. Da der Raum des Baumhauses nicht besonders hoch ist, können wir uns nicht aufrecht hinstellen, aber zwei kleine Bänke aus Holzbrettern dienen uns als Stühle.
Sobald ich sitze, hole ich mein Handy heraus und stelle ein warmes kerzenartiges Licht ein und lege es dann auf den Boden zwischen uns.
Irina kann mich vermutlich auch ohne Licht sehen, aber da das Mondlicht schlecht durch das Holz scheinen kann, ist es mir lieber meinen Gegenüber zu sehen.
Das fast schon tanzende warme Licht umspielt das Gesicht des Luchsmädchens und die Nägel, die in das Holz eingeschlagen wurden, schlagen teilweise gruselige Schatten auf unserer Haut.
„Diese Kinder sind echt gute Baumeister" sagt Irina staunend und schaut sich um.
„Ja da hast du Recht, ich könnte sowas nicht" antworte ich lächelnd.
„Glaubst du ich?" meint sie grinsend und lehnt ihren Kopf an die hölzerne Wand hinter ihr.
Noch einer kurzen Weile des Schweigens räuspert sie sich und äußert vorsichtig die Frage, die ich schon viel früher von ihr erwartet hätte:
„Ced, also ich wollte dich noch etwas fragen. Ähm, also du warst ja schon mal bei Frau Professor Doktor Zea, wegen dir. Was hattest du denn?"
Ich seufze und versuche die Erinnerungen und Worte in meinem Kopf zu sortieren, bevor ich sie ausspreche:
„Als ich mein Zuhause verlassen habe, war erst alles in Ordnung, ich war euphorisch, zufrieden, dass sich die Ketten sozusagen von alleine gelöst hatten.
Mir ging es gut, bis ich das erste Mal die Puma Zwillinge traf.
Sofort war mir klar, was sie von mir wollten, ihr Blick, ihre Haltungen, die Worte, die sie sagten, ergaben keinen Sinn und ich beschloss vor ihnen zu fliehen.
Nach kurzer Zeit traf ich Aura und sie zeigte mir in welch schlechtem Zustand ich war. Ich selbst nahm das kaum wahr, aber ich aß zu wenig, redete kaum, war überhaupt selten in meiner menschlichen Form und war fast immer versteckt in irgendwelchen Ecken. Anscheinend hatte ich Angst und Aura arrangierte deswegen den Arzttermin.
Natürlich war ich erst unsicher, die Sorge, meine Eltern könnten mich deswegen finden, machte mir mehr Angst als der Termin selbst. Doch Aura machte mir bewusst, wie wertvoll mein Nachname sein konnte, ich könnte Leute befehligen, wenn ich es darauf anlegen wollte.
Selbstverständlich wollte ich das nie, aber mein Adelstitel gab mir die Möglichkeit, den Arzthelfern zu verdeutlichen, dass mein Name auf keinen Fall in den Akten stehen dürfe, da es geheim sei"
„Ach deshalb war die Arzthelferin so überrascht als sie deinen Namen gehört hat" murmelt Irina nachdenklich und ich nicke.
„Ja, nur die Psychologin selbst hat die einzige Akte: Das Geheimhaltungspapier, auf dem mein Name steht"
„Verstehe"
„Naja und zumindest habe ich dann über meine Probleme gesprochen und die Ärztin hat mich beraten. Das hat mich sozusagen geheilt und ich konnte wieder zurückkehren und mein Leben weiterleben. Zwar wurde ich immer noch verfolgt, aber ich trainierte und für mich wurde es nach einigen Monaten schon eher ein Spiel, als eine richtige Verfolgung.
Außerdem habe ich dann auch angefangen, Mandarin und die anderen Wandler zu finden und aus ihren schwierigen Situationen rauszuhelfen"
„Bedeutet also, dass es ohne die Professorin den Zoo nicht geben würde?"
„Genau, ich weiß nicht mal, ob ich in meinem Zustand bei Aura geblieben wäre. Sie hätte mich nicht mehr verlassen wollen, aber vor dem Gespräch wollte ich mit keiner Person Nähe, da ich sie schützen wollte. Heute schütze ich meine Lieben auf eine andere Art, aber das weißt du ja"
Aber es gibt noch eine Sache, die, außer der Ärztin und Aura, niemand weiß. Und Irina werde ich es auch nicht erzählen:
Ja, ich war euphorisch als ich meine Familie verließ, doch dies war nicht von langer Dauer und ich bekam Heimweh. Wochenlang war ich alleine gewesen und dies hatte meiner Psyche eindeutig zugesetzt.
Als ich dann an der Ostsee war und merkte, dass es nicht dasselbe wie zuhause war, kehrte ich zurück zu meinen Eltern. Ich wollte sie nur einmal sehen und schauen, wie ihr Leben ohne mich verlief. Also schlich ich mich eines Abends an unser Küchenfenster und spähte hinein.
Aber das, was ich dort drinnen sah, war nicht das, was ich gehofft hatte, zusehen. Es fühlt sich an als würde mein Herz in tausend Stücke zerspringen.
Ich sah meine Mutter aus ganzem Herzen lachen. Das erste und einzige Mal in meinem Leben sah ich sie so glücklich. Und es zerriss mich innerlich.
Tränen flossen aus meinen Augen und mit meinen Fingern kratzte ich mir übers Gesicht bis es anfing zu bluten. Ich hasste mich in diesem Moment so sehr und konnte nicht wahrhaben, dass meine Familie ohne mich glücklicher war. Auch wenn ich meine Eltern nie mochte, tat es so weh, die Wahrheit zu sehen.
Nur Coral gab mir das Gefühl, nicht ganz verloren zu sein, sein Blick war nicht glücklich. Er tat nur so.
Oft genug habe ich diesen Blick gesehen, wenn meine Mutter mich ausschimpfte und er nichts dagegen tun konnte. Mein Bruder ist machtlos und weil ich es auch war, bin ich damals geflohen, weil ich die Chance hatte. Aber er wird sie nie bekommen.
Mein Blick war verschwommen, durch die vielen Tränen, doch dieses kleine Detail werde ich nicht vergessen. Als mein Bruder mich sah.
Genau, er schaute aus dem Fenster und sah mich heulend vor unserem Küchenfenster.
Seine Augen weiteten sich vor Glück, aber auch vor Entsetzten und ich fror in meiner Bewegung ein.
„Cedemus" sah ich seine Lippen tonlos bewegen und weitere Tränen lösten sich aus meinem Auge.
Doch dieser kurze Moment des Glücks war nicht von Dauer, denn mein Vater sah den Blick von Coralius und folgte ihm.
Entsetzt zog ich die kalte Luft ein und stolperte vom Fenster zurück, als ich sah wie mein Vater mich mit eiskalten Augen ansah und begann irgendwas zu rufen.
Doch was er sagte, erfuhr ich nie, denn ich rannte so schnell ich konnte davon. Blind vor Tränen und zitternd schlug ich mich durch den Ort, der mal meine Heimat war.
Als ich mich endlich zusammenreißen konnte, wandelte ich mich und flog davon. Ich schrie aus vollem Leid, als ich so über die Welt flog und mir bewusst wurde, was dort gerade eben geschehen war. Das war das erste Mal, dass meine Eltern mich, nach meinem Verschwinden, brachen.
Doch kurz darauf folgte das zweite Mal...
Nach diesem Abend weinte ich viele Tage, blieb aber nicht weit entfernt von meinem ehemaligen Zuhause. Es ging mir sehr schlecht und ich war so verletzt, wie es vorher noch nicht war.
Als Mensch hockte ich am Rande der Stadt und sah die Menschen kommen und gehen. Die wenigsten beachteten einen völlig nebenstehenden und heruntergekommenen Jungen.
Und ich wollte es so, ich wollte allein sein. Ich wollte das alles nicht mehr.
Nur der Gedanke an Coral sorgte dafür, dass ich nicht komplett den Verstand verlor. Für ihn wollte ich stark sein, ich wollte ihn retten. Nur wusste ich nicht wie.
Eines Abends dann, lag ich in einer Seitengasse an eine Hauswand gelehnt. Wenige Tage nach meinem Besuch bei meiner Familie. Eine Straßenlaterne beleuchtete das dunkle Viertel und ich war kurz davor einzuschlafen.
Doch Schritte, die immer lauter wurden, hielten mich wach. Als ich blinzelte, sah ich wie zwei Gestalten auf mich zukamen. Erst dachte ich es sei einfaches junges Paar, doch auf einen zweiten Blick waren sie sich zu ähnlich.
Und als sie näher kamen merkte ich noch mehr; Narben, verteilt auf den freien Körperstellen, ein seltsamer Gang und vor allem eines: die beiden sind Wandler.
Sofort schlug mein Kopf Alarm, denn ich hatte seit Tagen keine Wandler mehr getroffen. Bewusst war ich jedem aus dem Weg gegangen.
Wer sind diese beiden jungen Erwachsene? Sie können kaum älter sein als ich und sehen so ernst aus.
Vorsichtig rappelte ich mich auf und stütze mich an der Hauswand ab. Ich war misstrauisch und auch als die beiden Blondhaarigen mich freundlich anlächelten, erwiderte ich ihre Geste nicht.
„Hallo ich bin Scarlett und das ist mein Bruder Steve. Was machst du denn hier auf der Straße?" sagte das Mädchen zuckersüß. Ein Raubtier, schoss es mir in den Kopf, ohne genau zu wissen warum.
„Ich wohne hier" antwortete ich kalt.
„Soso, willst du mit uns kommen, wir wollen zu unserer Familie und du kannst gerne mitkommen und bei uns bleiben" sagte Steve schmeichelnd.
„Warum, ihr kennt mich nicht einmal?" fragte ich. Irgendwas war doch hier faul, dachte ich.
Die beiden Geschwister zuckten nur lächelnd mit den Schultern und Scarlett nahm meine Hand.
Schnell zog ich sie weg und trat einen Schritt vom Geschwisterpaar zurück „Und wenn ich nicht will?"
„Natürlich willst du, Cedemus, du willst doch nicht weiter auf der Straße leben, oder?"
Ich erstarrte.
Steve hat gerade meinen Namen gesagt, ohne, dass ich ihm diesen verraten habe.
Diesen beiden sind auf keinen Fall harmlos.
Mein Atem beschleunigte sich und ich ging einen weiteren Schritt zurück.
Die beiden Geschwister schien zu merken, dass ich gehen wollte, denn ihre Blicke veränderten sich und wurden genauso kalt, wie der meines Vaters.
„Na gut, du wolltest es nicht anders..." fauchte Steve und seine Schwester sprang auf mich zu.
Entsetzt keuchte ich auf, drehte mich um und rannte um mein Leben. Ich wusste nicht, was die beiden von mir wollten, doch etwas Gutes konnte es mit Sicherheit nicht sein.
Ich hetzte durch die dunklen und menschenleeren Straßen und als ich mich kurz umdrehte, sah ich wie ein Puma gerade um die Ecke gesprungen kam. Mit messerscharfen Zähnen und ausgefahrenen Krallen.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass es nichts bringen würde, wenn ich so weiterlaufe.
Auch wenn es total meinem Instinkt widersprach, blieb ich stehen und versuchte mich zu fokussieren. Mit einem Ruck brach mein Federkleid durch meine menschliche Haut hervor und ich schrie als der Puma auf mich zu gesprungen kam und mich an meinem ganzen Körper überall leicht erwischte. Mit voller Wucht drückte ich mich vom Gesicht meines Gegners ab und meine Fänge hinterließen tiefe Kratzer. Mit kräftigen Flügelschlägen stob ich hinauf in die Nacht.
Niemals werde ich vergessen, als Steve mir hinterherrief: „Verlass dich drauf, wir werden dich finden"
Und damit hatte er leider Recht.
Obwohl ich überwiegend fliegend durch die Landschaft irrte, fanden mich die Geschwister wieder. Als ich mich in Menschengestalt für eine Nacht auf einer Parkbank ausruhte, kam es zu einem erneuten Kampf, dem ich nur knapp entkommen konnte.
Danach traute ich mich nicht mehr ein Mensch zu werden. In meinem Kopf verband ich den Menschen mit etwas schwachem und als Fischadler konnte ich einfach wegfliegen und fliehen.
Alleine hockte ich wochenlang in einem verlassenen Hochsitz in der Nähe eines Sees. Immer noch war ich zu nah an meiner damaligen Heimat, doch zu dem Zeitpunkt wusste ich das nicht mal.
Bis Aurora mich fand und pflegte, als wäre ich ihr Sohn.
Am Anfang vertraute ich ihr nicht, wollte wegfliegen, doch ich war bereits zu geschwächt als sie sich zu mir gesellte. Ich sprach nicht mit ihr, obwohl sie mir zu Essen gab und beharrlich an meiner Seite blieb.
Erst als es kalt wurde und sie mich umarmte, um mich zu wärmen, fing ich an zu weinen und mich ihr zu öffnen.
Es tat sehr weh, das Geschehene noch einmal durchleben zu müssen und Aura überzeugte mich nach langem Überreden, zu Doktor Zea zu gehen. Sodass ich irgendwann auch wieder in der Lage, richtig zu fliegen und mich zu wandeln.
Die Zeit verging und ich wurde glücklicher, auch weil Mandarin und Juno zu uns stießen. Und obwohl ich von den Puma Zwillingen immer noch verfolgt wurde und sogar seltene Male auf sie traf, stabilisierte sich mein Zustand zunehmend.
Ich weiß nicht, ob meine Eltern diejenigen sind, die die beiden Pumas beauftragt haben, mich lebendig zu finden, aber man kann es vermuten.
Aber nach der langen Zeit war ich nicht mehr der kleine rebellische Cedemus von damals, ich hatte mich verändert.
Auch wenn meine Eltern versucht hatte, mich mein ganzes Leben zu brechen, haben sie es nie ganz geschafft.
Ich bin stärker als das und irgendwann werde ich auch dich retten, Coral, mein lieber Bruder.
Ich kehre zurück aus meiner Erinnerung und beobachte Irina, die nickt und über meine Worte nachzudenken scheint, obwohl sie nicht einmal das komplette Ausmaß meines Leidens kennt. Vermutlich stellt sie sich mich in meiner gebrochenen Form vor und wie ihr Leben ohne mich und den Zoo verlaufen worden wäre.
Ich kann nicht mal sicher sagen, ob sie ohne mich noch leben würde.
Als ich sie damals in Sicherheit getackelt habe, war das eine sehr riskante Kurzschluss Reaktion von mir, es hätte wer weiß was passieren können, wenn sie sich mehr gewehrt hätte. Ihr Schock war in dem Moment auf meiner bzw. unserer Seite.
Aber sie ist so verzweifelt weggerannt, als Mensch, obwohl ich in ihren Bewegungen etwas Katzenartiges erspähen konnte, hat sie sich nicht gewandelt. Und auch als sie mich so überrascht angesehen hat, als ich mich mit ihrem Rucksack gewandelt habe, da habe ich gemerkt, dass sie noch viel lernen muss.
Irgendwie habe ich mich selbst in ihr gesehen, nicht im Bezug auf die Unwissenheit, sondern weil sie so verzweifelt war wie ich. Nur, dass ich nur noch selten ein Mensch war und sie nur selten ein Luchs, das war der große Unterschied.
Und durch die erlebnisreichen Tage mit ihr, habe ich immer mehr verstanden wie sie tickt und nun sitzen wir hier, in "meinem" Baumhaus.
„Ich möchte dich auch etwas fragen, Irina" sage ich nun und lehne mich nach vorne in ihre Richtung „Was meintest du vorhin damit, dass du irgendwann zu deiner Familie zurückkehren möchtest. Was heißt für dich irgendwann?"
Irina seufzt ebenfalls und schaut hinaus in Richtung Tür des Baumhauses:
„Ich glaube meine zwei größten Ängste sind im Moment der Vollmond" sie deutet mit der Hand nach oben, „und meine Familie. Ich hoffe einfach, dass die Ärztin den Werluchs überzeugen kann mit uns zu reden, aber das mit meiner Familie muss ich klären und das macht mir Angst" antwortet sie leise.
„Warum macht es dir Angst?" frage ich vorsichtig nach.
„Ich liebe sie und ich habe mich für sie entschieden und nicht für meine leiblichen Eltern. Aber was nicht in meine Berechnung gepasst hat, seid ihr. Also der Zoo. Ihr seid wie noch eine Familie für mich geworden und das ist schön, aber es bereitet mir auch Probleme"
„Inwiefern? Du kannst doch auch mehrere Familien haben"
„Aus meiner und deiner Sicht geht das, aber meine Familie kennt euch nicht, sie können nicht verstehen, was ich genau empfinde. Im Moment habe das Gefühl, dass das hier mein Zuhause ist, aber irgendwann werde ich mein anderes Zuhause auch mal wieder brauchen. Wie soll ich meinen Eltern erklären, dass ich zwar mal weg bin und dann aber zu irgendeinem Zeitpunkt wieder bei ihrem Leben teilhaben will? Das geht doch nicht..."
„Und wenn du es deinen Eltern genau so erklären würdest?"
„Ich glaube nicht, dass sie noch mit mir reden wollen, weil ich schon wieder abgehauen bin" antwortet sie missmutig.
„Das darfst du nicht glauben, Irina, deine Eltern sind nicht wie meine. Deine Eltern haben das Bedürfnis ihr Kind bei sich zu haben und deshalb können sie verzeihen. Und sie wissen, was sich gerade in deinem Leben alles ändert: Du bist in der Pubertät, deine erste Wandlung war vor kurzem, der seltsame Arzt ist passiert und vermutlich ahnen sie sogar von dem Trio, das dich verfolgt.
Mit Sicherheit verstehen sie deine Entscheidungen, aber ihre Instinkte haben den Drang dich zu beschützen und deshalb sind sie enttäuscht und wollen nicht, dass du gehst und sie belügst"
„Du hoffst also meine Eltern würden mir wieder verzeihen?" fragt Irina unsicher und schaut mir nun das erste Mal wieder in die Augen.
„Ich hoffe es nicht nur, ich glaube es auch. Wissen können wir es aber erst, wenn du mit ihnen gesprochen hast" sage ich zuversichtlich
„Ach Ced, ich weiß nicht, ob ich das kann"
„Natürlich kannst du es, morgen rufst du sie an, klärst das und dann können wir uns komplett auf den Vollmond konzentrieren, in Ordnung?"
„Okay" antwortet sie seufzend, krabbelt dann aber doch zu mir herüber und nimmt mich in dem Arm und flüstert mir ein „Danke, für deine Worte" ins Ohr.
Ich nicke nur lächelnd und lösche das Licht, das von meinem Handy ausging.
Wenn jemand weiß, wie viel ein aufklärendes Gespräch bewirken kann, dann ich. Ich habe sogar schonmal daran gedacht mit meinen Eltern zu reden.
Sogar Frau Professor Doktor Zea hat mir das empfohlen, doch ich habe den Kopf geschüttelt und diesen Vorschlag sofort über die Klippe geworfen. Auch wenn meine Eltern eventuell nicht diejenigen sind, die das Trio geschickt haben, so glaube ich nicht, dass meine Eltern mich je wieder lieben würden. Wenn sie es denn je getan haben.
Nein, ich brauche keine Eltern.
Freunde kann man sich aussuchen, Familie nicht.
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